TE Vfgh Erkenntnis 1986/3/20 B410/85

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.03.1986
beobachten
merken

Index

32 Steuerrecht
32/01 Finanzverfahren, allgemeines Abgabenrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
MRK Art6
MRK Art7
AVG §19 Abs3
BAO §111
FinStrG §56 Abs2
FinStrG §99 Abs1
KWG §23
Vertrag zwischen Österreich und der BRD über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen, BGBl 249/1955

Leitsatz

FinStrG; KreditwesenG; BAO; Verhängung einer Zwangsstrafe über das bf. Kreditinstitut gemäß §56 Abs2 FinStrG iVm. §111 BAO, da einem Auskunftsersuchen des FA Innsbruck iS des §23 KWG nicht entsprochen wurde; Art6 MRK auf Zwangsstrafen nach §56 Abs2 FinStrG iVm. §111 BAO nicht anwendbar; im Hinblick auf den Rechtshilfestaatsvertrag mit der BRD in Abgabensachen vertretbare Annahme, daß unter "Strafverfahren" iS des §23 Abs2 Z1 KWG nicht nur ein von einem österreichischen Finanzamt geführtes, sondern auch ein gleichartiges, bei einer deutschen Behörde anhängiges Verfahren zu verstehen ist; Auskunftsverlangen auf völlig unzureichende Grundlage gestützt - willkürliche Verhängung des Beugemittels

Spruch

Die bf. Genossenschaft ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. a) Die "Steuerfahndung München" teilte dem Finanzamt (FA) Innsbruck am 25. April 1984 telefonisch mit, daß gegen den in der BRD wohnhaften M S der Verdacht der Abgabenhinterziehung bestehe.

Über dieses Telefongespräch und die weiteren Vorgänge findet sich im vorgelegten Verwaltungsakt folgender Aktenvermerk:

"Fernmündlich wurde von der Steuerfahndung München am 25. 4. 1984 folgende Mitteilung gemacht (Hr. I):

Am 25. 4. 1984 wurde im Zuge einer Hausdurchsuchung betreffend M S festgestellt, daß dieser bzw. seine Gattin ev. ein Haus in Kirchberg/Tirol ... besitzt.

Es ist beabsichtigt, am 26. 4. 1984 dort eine Hausdurchsuchung durchzuführen (über Interpol - durch Gericht bzw. Exekutive, da durch Finanzbehörde in Rechtshilfe nicht möglich).

Außerdem bestehen Beziehungen zur Raika Kirchberg und zur Sparkasse Kitzbühel. Hr. I ersuchte, bei den Ermittlungen durch die Steuerfahndung Innsbruck (vereinbarter Termin 26. 4. 1984) anwesend sein zu dürfen.

25. 4. 1984

lt. Bew. Stelle FA Kitzbühel

Kirchberg/...

Zweifamilienhaus

1/2 Eigentümer A... S...

durch Kaufvertrag vom 17. 9. 1975

Kaufpreis S 600.000,-

Mitteilung an Steuerfahndung München

Tel. ...

26. 4. 1984

Steuerfahndung München Hr. H I

und Hr. G R

Ermittlungen Sparkasse Kitzbühel

mit Haftungsübernahme ca. 100.000,- DM

Besicherung?

und Sparbuch

lt. Hr. I

HD-Kirchberg

Fernschreiben über Interpol Wiesbaden

am 25. 4. 1984 (16 h)

lt. Ld. Gendarmerieakt (Kriminalabteilung)

nicht eingelangt (auch in der Sicherheitsdirektion für Tirol nicht bekannt)

ebenfalls Gendarmerie Kitzbühel bzw. Kirchberg nicht bekannt

HD wurde am 26. 4. 1984 vom zuständigen Richter

(Bezirksgericht Hopfgarten) und der Gendarmerie

Kirchberg durchgeführt

Steuerfahndung Innsbruck nicht befaßt."

Am 26. April 1984 ersuchte das FA Innsbruck die bf. Genossenschaft (ein Kreditunternehmen) mit dem Sitz in Kirchberg in Tirol gemäß §99 Abs1 iVm. §104 Abs1 des Finanzstrafgesetzes, BGBl. 129/1958, idF vor der Nov. BGBl. 571/1985, (FinStrG) um Bekanntgabe, ob M S bei diesem Kreditinstitut "ein Schließfach (Safe) hat oder hatte, ob Depots, Konten, Sparbücher oder Kreditakten bestehen bzw. bestanden haben und inzwischen aufgelöst wurden".

Das bf. Kreditunternehmen lehnte es mit Schreiben vom 8. Mai 1984 ab, die verlangte Auskunft zu erteilen; es lägen die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Bankgeheimnisses (§23 Kreditwesengesetz - KWG) nicht vor.

b) Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Finanzlandesdirektion (FLD) Tirol vom 7. Mai 1985 wurde daraufhin gemäß §56 Abs2 FinStrG iVm. §111 BAO über das bf. Kreditunternehmen eine Zwangsstrafe von 5000 S verhängt. Der Bescheid wurde namens des Präsidenten der FLD erlassen und von einem Beamten dieser Behörde gefertigt.

2. Gegen diesen Berufungsbescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§§56 bis 194 FinStrG) und die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Unversehrtheit des Eigentums und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet wird. Die bf. Genossenschaft beantragt, den angefochtenen Bescheid kostenpflichtig aufzuheben.

3. Die FLD Tirol als bel. Beh. erstattete eine Gegenschrift, in der sie begehrt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Darauf replizierte die bf. Genossenschaft.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. a) In der Beschwerde wird zunächst behauptet, jene (auch im vorliegenden Fall angewendeten) Bestimmungen des FinStrG, wonach Strafen von Behörden, die nicht als Tribunale eingerichtet sind, verhängt werden dürfen, widersprächen dem Art6 MRK. Die hier präjudiziellen Bestimmungen habe der VfGH in jeder Hinsicht (losgelöst von den Aspekten des Anlaßfalles) auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu untersuchen.

Was diesen Vorwurf allgemein betrifft, genügt es, zu seiner Widerlegung auf das hg. Erk. VfSlg. 10638/1985 zu verweisen.

b) Hier handelt es sich aber darum, daß ein Beugemittel (eine Zwangsstrafe) verhängt wurde.

Der auf Verfassungsstufe stehende Art6 MRK gilt seinem Abs1 erster Satz zufolge nur für Entscheidungen über "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" (um solche handelt es sich hier offenkundig nicht) oder über "die Stichhaltigkeit der" gegen eine Person "erhobenen strafrechtlichen Anklage".

Der Begriff der "strafrechtlichen Anklage" iS dieser Konventionsbestimmung erfaßt nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH (zB VfSlg. 4710/1964, 6842/1972, 7492/1975 und 8198/1977) - von der abzugehen kein Anlaß vorliegt - jedenfalls keine Maßnahmen, die dazu dienen, die Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung zu erzwingen (§5 Abs1 litb MRK), sondern bloß solche, die auf die Ahndung rechtswidrigen menschlichen Verhaltens abzielen oder präventive Zwecke verfolgen. So sind etwa Zwangsstrafen nach §19 Abs3 AVG und nach dem VVG überhaupt keine "Strafen" iS des Art7 MRK (s. VfSlg. 8198/1977 und 6842/1972), aber auch nicht iS des Art6 MRK;

dasselbe gilt für Zwangsstrafen nach §56 Abs2 FinStrG iVm. §111 BAO;

auch hiebei handelt es sich nicht um Entscheidungen über "strafrechtliche Anklagen", sondern vielmehr um reine Zwangsmittel ohne Strafcharakter (vgl. Kopetzki, EuGRZ 1983, 177 f.).

Es findet sich keine Judikatur der EKMR oder des EGMR, die in Widerspruch zu dieser Auffassung steht (vgl. zB Kopetzki, aaO, Ermacora/Nowak/Tretter, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Wien 1983, insbesondere S 271 f.).

Art6 MRK ist mithin auf Zwangsstrafen nach §56 Abs2 FinStrG iVm. §111 BAO überhaupt nicht anwendbar.

2. a) Die bf. Genossenschaft ist jedoch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (dieses Recht steht auch inländischen juristischen Personen zu - vgl. zB VfSlg. 9186/1981) verletzt worden:

Der Gleichheitsgrundsatz kann ua. durch eine willkürliche Gesetzeshandhabung verletzt werden, etwa dadurch, daß die Behörde leichtfertig vorgegangen ist und der Bescheid im besonderen Maß mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (vgl. zB VfSlg. 10065/1984, 10080/1984).

b) Dies ist hier der Behörde vorzuwerfen:

Dem §56 Abs2 FinStrG iVm. §111 BAO zufolge ist Voraussetzung für die Verhängung einer Zwangsstrafe, daß einem nach §99 Abs1 FinStrG von der Finanzstrafbehörde rechtmäßig gestellten Auskunftsverlangen (arg. "Die Abgabenbehörden sind berechtigt, die Befolgung ihrer auf Grundgesetzlicher Befugnisse getroffenen Anordnungen ... durch Verhängung einer Zwangsstrafe zu erzwingen" im §111 BAO) ungerechtfertigt (§99 Abs1 iVm. §104 FinStrG) nicht Folge geleistet wurde.

Der Bescheid, mit dem die Zwangsstrafe verhängt wird, knüpft also an das Auskunftsverlangen an. Dieses ist aber seinerseits nicht bekämpfbar. Daher können Fehler bei Stellen des Auskunftsverlangens im Verfahren zur Erlassung der Zwangsstrafe geltend gemacht werden. In die Verfassungssphäre reichende Mängel der ersten Stufe belasten demnach auch die zweite Stufe (den die Zwangsstrafe aussprechenden Bescheid) mit denselben Fehlern.

c) Ein gemäß §99 Abs1 FinStrG an ein Kreditunternehmen (§1 Abs1 KWG) gerichtetes Auskunftsersuchen, dem nur unter Preisgabe des Bankgeheimnisses (§23 KWG) entsprochen werden könnte, darf von der Finanzbehörde nur dann gestellt werden, wenn die Voraussetzungen des §23 Abs2 Z1 KWG vorliegen ("Die Verpflichtung zur Wahrung des Bankgeheimnisses besteht nicht im Zusammenhang ... mit Strafverfahren wegen vorsätzlicher Finanzvergehen, ausgenommen Finanzordnungswidrigkeiten, gegenüber den Finanzstrafbehörden ...").

Hier führte nun keine österreichische Finanzbehörde ein derartiges Strafverfahren, sondern (behaupteterweise) eine deutsche Behörde. Das FA Innsbruck berief sich bei seinem Einschreiten auf den Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen, BGBl. 249/1955. Die im besonderen maßgebenden Bestimmungen dieses Staatsvertrages lauten: "Artikel 3

Beide Staaten verpflichten sich, in allen Abgabensachen, im Ermittlungs-, Feststellungs- und Rechtsmittelverfahren, im Sicherungs- und Vollstreckungsverfahren sowie im Verwaltungsstrafverfahren einander auf der Grundlage der Gegenseitigkeit nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen Rechtshilfe zu leisten.

Artikel 4

(1) Rechtshilfeersuchen werden von der ersuchenden Behörde an das örtlich zuständige Finanzamt des ersuchten Staates gerichtet. Ihre Übermittlung und Entgegennahme erfolgt vorbehaltlich des Absatzes 2 in der Bundesrepublik Deutschland durch die Oberfinanzdirektionen, in der Republik Österreich durch die Finanzlandesdirektionen.

(2) Die Finanzämter können Zustellungsersuchen, Mitteilungen über den Vollzug von Rechtshilfeersuchen und über ihre Rücknahme oder Einschränkung unmittelbar an das ersuchte Finanzamt übersenden. Entsprechendes gilt in dringenden Fällen auch für andere Rechtshilfeersuchen der Finanzämter.

Artikel 5

(1) Das ersuchte Finanzamt ist vorbehaltlich der Bestimmungen des Art6 verpflichtet, dem Ersuchen zu entsprechen. Die Art und Weise der Erledigung richtet sich nach den Gesetzen des ersuchten Staates; für das Verfahren sind die Vorschriften anzuwenden, die für die von dem Finanzamt verwalteten Abgaben gelten. Auf Antrag der ersuchenden Behörde ist jedoch nach einer besonderen Form zu verfahren, sofern diese der Gesetzgebung des ersuchten Staates nicht zuwiderläuft.

(2) Die Anwendung eines im Gebiet des ersuchten Staates zulässigen Zwangsmittels ist ausgeschlossen, soweit der ersuchende Staat im Falle eines entsprechenden Ersuchens nicht in der Lage wäre, ein gleichartiges Zwangsmittel anzuwenden.

(3) ..."

d) Im Hinblick auf diesen Staatsvertrag ist es zumindest vertretbar, unter einem "Strafverfahren" iS des §23 Abs2 Z1 KWG nicht bloß ein von einem österreichischen Finanzamt geführtes zu verstehen, sondern auch ein gleichartiges Verfahren, das bei einer deutschen Behörde anhängig ist (vgl. hiezu VwGH 21. Oktober 1983 Z 82/17/0087).

Selbstverständliche Voraussetzung für das Einschreiten der ersuchten österreichischen Finanzbehörde ist dem zitierten Staatsvertrag zufolge, daß ein Rechtshilfeersuchen vorliegt, mit dem die deutsche Behörde ein konkretes Verlangen stellt. Weiters müssen den österreichischen Finanzbehörden im Zeitpunkt der Anfragen an ein Kreditunternehmen Informationen zur Verfügung stehen, aufgrund derer zuverlässig beurteilt werden kann, ob in der BRD tatsächlich Verfahren laufen, die "Strafverfahren wegen vorsätzlicher Finanzvergehen, ausgenommen Finanzordnungswidrigkeiten" nach österreichischem Recht entsprechen, und ob die erbetenen Maßnahmen iZm. dem in der BRD geführten Verfahren stehen. All dies muß - um das Vorliegen der Voraussetzungen nachprüfbar zu machen - aus dem Rechtshilfeersuchen aktenkundig hervorgehen.

An diesen Voraussetzungen mangelte es im vorliegenden Fall völlig:

Aus dem oben (I.1.a) wiedergegebenen Aktenvermerk geht nicht einmal hervor, worum das FA Innsbruck von der deutschen Behörde überhaupt ersucht wurde. Unklar blieb nach dem Aktenvermerk zum Zeitpunkt, als Anfrage des FA Innsbruck vom 26. April 1984 an das bf. Kreditunternehmen gerichtet wurde, was das in der BRD geführte Verfahren des Näheren zum Inhalt hatte und welcher Konnex zwischen diesem Verfahren und allfälligen Guthaben des M S beim bf. Kreditunternehmen bestand. Die im Verwaltungsakt befindlichen Abschriften eines gegen M S gerichteten Haftbefehls und eines Hausdurchsuchungsbefehles des Amtsgerichtes München, die etwas weitergehenden Aufschlüsse über das Geschehen in dem in der BRD geführten Verfahren geben, lagen - wie aus dem Aktenvermerk zu erschließen ist - zum maßgebenden Zeitpunkt (26. April 1984) dem FA Innsbruck noch nicht vor.

Das Auskunftsverlangen des FA Innbruck beruht also auf völlig unzureichenden Grundlagen. Das zur Durchsetzung dieses leichtfertig gestellten Verlangens eingesetzte Beugemittel ist damit ein Willkürakt.

Das bf. Kreditunternehmen ist sohin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden. Der angefochtene Bescheid war infolgedessen aufzuheben, ohne daß auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.

Schlagworte

Zwangsstrafe Finanzverfahren, Finanzstrafrecht, Finanzverfahren, Kreditwesen, Staatsverträge

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:B410.1985

Dokumentnummer

JFT_10139680_85B00410_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten