TE Lvwg Erkenntnis 2017/10/13 VGW-151/065/9944/2017/E

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Veröffentlicht am 13.10.2017
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Entscheidungsdatum

13.10.2017

Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
41/02 Asylrecht

Norm

NAG §28 Abs1
FPG §52 Abs5
FPG §53 Abs3
BFA-VG §9

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seine Richterin Mag. Eidlitz über die Beschwerde des Herrn F. A., vertreten durch Rechtsanwältin, vom 30.08.2016, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien, Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 35, vom 02.08.2016, Zl. MA35-9/2272310-07, mit welchem festgestellt wurde, dass das unbefristete Niederlassungsrecht nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz beendet ist, nach Aufhebung des im ersten Rechtsganges ergangenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 07.12.2016, Zl. VGW-15/065/11574/2016 durch das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Wien, vom 20.06.2017, Ro 2017/22/0003-3, im zweiten Rechtsgang, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 05.10.2017

zu Recht e r k a n n t und v e r k ü n d e t:

I. Gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig.

Entscheidungsgründe:

Gang des Verfahrens:

Der Beschwerdeführer (BF) ist ein am ... 1979 in Wien geborener, türkischer Staatsangehöriger, welcher sich seit seiner Geburt in Österreich aufhält. Seit 28.05.1998 verfügt er über eine unbefristete Niederlassungsbewilligung für jeglichen Aufenthaltszweck, seit 12.01.2010 über einen AT "Daueraufenthalt – EU". Die ihm ausgestellte Identitätskarte war bis zum 29.10.2014 gültig.

Mit Antrag vom 16.02.2015 begehrte er die Feststellung seines unbefristeten Aufenthaltsrechts und die Ausstellung einer weiteren Identitätskarte. Mit Bescheid vom 02.08.2016 des LH Wien wurde festgestellt, dass das unbefristete Niederlassungsrecht des BF aufgrund zahlreicher strafrechtlicher Verurteilungen und den Feststellungen der zuständigen Fremdenpolizeibehörde im Hinblick auf § 9 Abs. 4 BFA-VG beendet sei.

In der dagegen erhobenen Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, dass auf ihn die sogenannte "Stillhalteklausel" anzuwenden sei, da es sich bei der Rückstufung nach § 28 NAG um eine "neue Beschränkung" im Sinne der Stillhalteklausel handle.

Das Verwaltungsgericht Wien gab mit Erkenntnis vom 07.12.2016 zur Zahl VGW-151/065/11574/2016-2 der Beschwerde statt und behob den angefochtenen Bescheid ersatzlos.

Gegen dieses Erkenntnis erhob der Bundesminister für Inneres als Revisionswerber am 16.01.2017 ordentliche Revision vor dem Verwaltungsgerichtshof. Der Verwaltungsgerichtshof hob mit seinem Erkenntnis vom 20.06.2017 zur Zahl Ro 2017/22/0003-3 das Erkenntnis des Verwaltungsgericht Wien schließlich auf. Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof wie folgt aus:

"[…] Der Revisionsfall gleicht hinsichtlich des rechtserheblichen Sacherhalts und der zu beantwortenden Rechtsfrage jenem, den der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 18. Jänner 2017, Ra 2016/22/0021, entschieden hat. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die Entscheidungsgründe des genannten Erkenntnisses verwiesen".

In dem verwiesenen Erkenntnis stellt der Verwaltungsgerichtshof klar, dass keine Bedenken gegen die Anwendbarkeit der Rückstufungsregelung des § 28 Abs. 1 NAG gegenüber Fremden, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 ARB 1/80 zukommt, bestehen, da sie nicht ihre durch das ARB 1/80 gewährleistete Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränke. Sie kann außerdem nicht als neue Beschränkung im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 angesehen werden.

Aufgrund der kassierenden Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes trat das Verfahren in das Stadium vor Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zurück. Es ist nunmehr unter Berücksichtigung der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofes ein Ersatzerkenntnis zu erlassen.

Zur weiteren Abklärung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts führte das Verwaltungsgericht Wien am 05.10.2017 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, zu welcher der BF und die belangte Behörde als Parteien geladen wurden.

Der BF nahm mit seiner Rechtsvertreterin an der mündlichen Verhandlung teil und beantragte die Einvernahme seiner Bewährungshelferin K. G. als Zeugin.

In der mündlichen Verhandlung gab der BF folgende Aussage zu Protokoll (unkorr.):

"Nach der Haftentlassung im Februar 2015 bin ich wieder in meine Gemeindewohnung gezogen, die während meiner Haft von meinem Vater erhalten wurde. Ich habe auch seither stets gearbeitet. Zunächst als Frischeierzusteller, dann als Gerüster und nun verfüge ich über eine Einstellzusage im Verkauf für Herrenmode. Mein letzter Arbeitgeber wollte mich als Gerüster im Ausland beschäftigen. Da ich derzeit über keine gültige Aufenthaltstitelkarte verfüge, musste ich ihm absagen, weshalb ich dann die Arbeit auch verlor. Zur Zeit beziehe ich Arbeitslosengeld. Zum Beweis dafür lege ich die aktuelle Bestätigung des AMS vor. Eine Kopie wird zum Akt genommen. Des Weiteren lege ich vor eine Einstellungszusage der Firma Y. datier mit 2.10.2017, wonach ich in seinem Betrieb mit einem gültigen Aufenthaltstitel beschäftigt werden könnte. Eine Kopie wird zum Akt genommen.

Ich habe seit etwa 6 Monaten eine Beziehung zu einer türkischen Staatsbürgerin, Frau Ay. Yl..

Ich besuche noch immer regelmäßig meine Bewährungshelferin. Die Weisung, regelmäßige Harnproben abzugeben, wurde inzwischen aufgehoben. Ich bin nicht mehr suchtkrank.

Ich möchte eine Familie gründen mit meiner Freundin und meiner Arbeit nachgehen. Ich habe meine Wohnung renoviert und neu eingerichtet und bin schuldenfrei. Ich möchte mein Leben drogenfrei weiterführen.

Meine Familie steht jetzt mehr hinter mir als früher. Jetzt habe ich auch meine Freundin die mich stützt. Dieses Umfeld wird mich weiter davon abhalten drogenfrei zu leben. Zur Tatbegehungszeit betreffend meiner Verurteilung vom 27.10.2009 war ich unter Drogen, ohne Obdach, ohne Freundin und ohne Unterstützung meiner Familie. Im Jahr 2011 ist meine Mutter verstorben. Seither hat es sich in meiner Familie, ich habe 8 Geschwister, vieles geändert, wir sind näher zusammengerückt. Wir verbringen mehr Zeit miteinander. 2011 habe ich mich selbst gestellt und wollte meine Strafen absitzen. Ich wollte sobald wie möglich ein neues Leben anfangen. Der Tod meiner Mutter hat mich sehr mitgenommen, sie war meine engste Bezugsperson. Ich habe ihr das Versprechen gegeben, nie mehr straffällig zu werden.

Im Jahr 2003 habe bereits eine stationäre Drogentherapie gemacht. Die Therapie war erfolgreich, allerdings nach der Entlassung stand ich alleine da. Das war der Grund meines Rückfalles. Jetzt ist meine Gesamtsituation wie bereits erörtert anders."

Seine Bewährungshelferin, K. G., gab als Zeugin befragt nach Wahrheitserinnerung und Rechtsbelehrung in der mündlichen Verhandlung folgendes zu Protokoll (unkorr.):

"Ich bin die Bewährungshelferin des Bf seit über 2 Jahren. Der Bf hat seit seiner Haftentlassung den starken Willen gezeigt so rasch als möglich eine Arbeit zu finden. Im ersten Jahr tat er sich schwer. Er konnte mir allerdings fünf potentielle Arbeitgeber nachweisen, die für den Fall, dass er über einen Aufenthaltstitel verfügt, sofort zur arbeiten beginnen hätte können. Er hat bei mir in der Bewährungshilfe nie einen Termin versäumt. Er ist stets zuverlässig gewesen. Wir haben uns in insgesamt 10 Sitzungen sehr intensiv über seine Straftaten auseinandergesetzt, soweit ich weiß ist er seither auch nicht straffällig geworden. Der Bf ist sehr offen und kooperativ. Ich gebe ihm eine sehr gute Zukunftsprognose. Meine positive Prognose leite ich aus seinen jetzigen positiven Verhalten ab. In der Deliktverarbeitung hat er sich sehr intensiv mit seinen Straftaten auseinandergesetzt. Er ist in seiner Haft gereift. Er hat seine Freizeit neu gestaltet und macht viel Sport. Wenn er jetzt noch Canabis rauchen würde, so könnte er weder seinen Job nachgehen, noch würde er zuverlässig seine Termine wahrnehmen können.

Ich bin seit 1991 beim Verein N. tätig. Ich war stets in der „straffälligen Hilfe“ und seit 2002 konkret in der Bewährungshilfe tätig.

Ich kann nicht beziffern, wie viele Menschen ich in meiner Zeit im Verein N. bereits betreut habe, es waren aber auch viele mit einer Suchterkrankung.

Die Bewährungshilfe läuft offiziell bis Febr. 2018. Ich hätte allerdings bereits mit Einverständnis des Bf einen Antrag auf Aufhebung der Bewährungshilfe gestellt. Der Bf möchte allerdings angesichts seines unsicheren Aufenthaltsstatus die Bewährungshilfe noch so lang wie möglich in Anspruch nehmen."

Nach Durchführung der öffentlichen mündlichen Verhandlung wurde das Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen spruchgemäß verkündet und der anwesenden Rechtsvertreterin des BF ausgefolgt. Der BF beantragte sogleich durch seine Rechtsvertreterin die schriftliche Ausfertigung des verkündeten Erkenntnisses.

Das Verwaltungsgericht Wien sieht folgenden Sachverhalt als erwiesen an:

Der am ... 1979 in Wien geborene BF ist türkischer Staatsangehöriger. Er verfügt über ein bis zum 16.07.2023 gültiges Reisedokument der Republik Türkei.

Seit 28.05.1998 verfügt er über eine unbefristete Niederlassungsbewilligung für jeglichen Aufenthaltszweck, seit 12.01.2010 über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt – EG". Die Identitätskarte wies eine Gültigkeit vom 20.10.2009 bis zum 29.10.2014 auf.

Der Beschwerdeführer ist mehrfach vorbestraft. Es scheinen im Strafregister der Republik Österreich folgende Verurteilungen gegen ihn auf:

1.       LG für Strafsachen Wien vom 09.03.2004, wegen § 27 SMG, Freiheitsstrafe 7 Monate bedingt, Probezeit 3 Jahre;

2.       LG für Strafsachen Wien vom 19.01.2005, wegen § 83 Abs. 1, §§ 15, 105 Abs. 1 StGB, Freiheitsstrafe 2 Monate bedingt, Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre;

3.       LG für Strafsachen Wien vom 07.07.2005, wegen § 28 SMG, Freiheitsstrafe 15 Monate bedingt, Probezeit der bedingten Nachsicht verlängert auf insgesamt 5 Jahre;

4.       LG für Strafsachen Wien vom 27.10.2009, wegen § 50 Abs. 1 Z 2 und Abs. 3 WaffenG, Geldstrafe von 100 Tagsätzen zu je 4,- Euro (400 Euro) und

5.       LG für Strafsachen Wien vom 12.07.2011, wegen § 27 sowie 28, 28a SMG, Freiheitsstrafe 18 Monate, Vollzugsdatum 24.07.2014, aus der Freiheitsstrafe entlassen am 11.02.2015, bedingt, Probezeit 3 Jahre, Anordnung der Bewährungshilfe.

Die letzte Verurteilung des Beschwerdeführers liegt 6 Jahre (12.07.2011) zurück. Er befand sich zuletzt vom 24.07.2014 bis zum 11.2.2015 in Haft, wobei er am 11.02.2015 unter der Weisung, jeden Monat Harnbefunde zum Nachweis seiner Drogenfreiheit vorzulegen, noch vor dem geplanten Ende am 23.02.2015 bedingt entlassen wurde.

Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 06.09.2016 wurde die dem Beschwerdeführer als Entlassenen aus dem Strafvollzug erteilte Weisung, vierteljährlich Harnbefunde zum Nachweis seiner Drogenfreiheit vorzulegen, aufgehoben.

Die letzte Verurteilung erfolgte wegen Suchtmittelbesitz und -handel. Der Beschwerdeführer wurde schuldig gesprochen, in einer Vielzahl von Fällen anderen Suchtgift überlassen zu haben. Er beging die Taten gewerbsmäßig und obwohl er bereits wegen Straftaten nach dem SMG verurteilt worden war. Er verkaufte rund 500 Gramm Marihuana mit einem Reinheitsgehalt von 12.37% Delta-9-THC an mehrere Abnehmer. Zudem erwarb und besaß er in einem Zeitraum von Anfang Jänner 2011 bis 15. Jänner 2011 rund 600 Gramm Marihuana, mit dem Vorsatz, es in den Verkehr zu setzen sowie weitere 114,4 Gramm für den persönlichen Gebrauch.

Zu dieser Zeit liefen bereits zwei offene Probezeiten wegen in der Vergangenheit begangener Straftaten. Er wurde daher trotz erfolgter Verurteilungen, bereits teilweise vollzogener Strafen und laufender Probezeiten wiederum rückfällig.

Der Beschwerdeführer war über viele Jahre hindurch suchtkrank. Er hat in seiner Strafhaft eine Suchtberatung in Anspruch genommen und wird seit Februar 2015 von der Bewährungshilfe N. betreut. Der BF gibt an, mittlerweile eine Therapie zur Suchtbekämpfung erfolgreich durchgeführt zu haben. Die Bewährungshilfe läuft noch bis Februar 2018.

Der ledige Beschwerdeführer ging zuletzt vom 01.03.2017 bis 31.07.2017 einer Beschäftigung bei der Firma S. GmbH nach. Zurzeit ist er ohne Beschäftigung, er kann allerdings auf eine Einstellungszusage als Herrenmodeverkäufer der Firma K. vom 02.10.2017 verweisen. Er bezieht gegenwärtig Arbeitslosengeld vom AMS in der Höhe von 29,66 Euro täglich.

Er verfügt über einen Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Unterkunft der Stadt Wien – Wiener Wohnen in der St.-gasse, Wien.

Beweiswürdigung:

Die Sachverhaltsdarstellungen gründen sich auf die durch den Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren vor der belangten Behörde und im Beschwerdeverfahrens vorgelegten Unterlagen, Urkunden und Schriftsätze sowie auf die Wiederholung von Datenbankabfragen (IZR, ZMR, AJ-Web) und die Einholung von Auskünften über verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen vom 04.10.2017 bei der Landespolizeidirektion Wien und der Magistratsabteilung 67.

Die Sachverhaltsdarstellungen zu den von ihm verübten Straftaten gründen sich auf den durch das Verwaltungsgericht Wien herbeigeschafften Strafakt ....

Das Verwaltungsgericht Wien hat erwogen:

Maßgebliche Rechtsvorschriften:

§ 28 Abs. 1 NAG samt Überschrift in der anzuwendenden Fassung lautet:

"Rückstufung und Entziehung eines Aufenthaltstitels

§ 28. (1) Liegen gegen einen Inhaber eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt – EU“ (§ 45) die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor, kann diese Maßnahme aber im Hinblick auf § 9 BFA-VG nicht verhängt werden, hat die Behörde das Ende des unbefristeten Niederlassungsrechts mit Bescheid festzustellen und von Amts wegen einen befristeten Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ auszustellen (Rückstufung).

§ 52 Abs. 5 FPG samt Überschrift in der anzuwendenden Fassung lautet:

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Drittstaatsangehörige

Rückkehrentscheidung

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.

§ 53 Abs. 3 FPG in der anzuwendenden Fassung lautet:

Einreiseverbot

(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn

1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist; […]

§ 9 BFA-VG in der anzuwendenden Fassung lautet:

Allgemeine Verfahrensbestimmungen

Schutz des Privat- und Familienlebens

(Auszug aus dem BFA-VG)

§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.       die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.       das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.       die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.       der Grad der Integration,

5.       die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.       die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.       Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.       die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 Abs. 1a FPG nicht erlassen werden, wenn

1.       ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr. 311, verliehen hätte werden können, oder

2.       er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.

[…]

Rechtliche Beurteilung:

Der Verwaltungsgerichtshof hat gegenständlich in seinem Erkenntnis vom 20.06.2017 ausgesprochen, dass eine Rückstufung gemäß § 28 NAG auch bei jenen Türken, die unter das ARB 1/80 fallen, möglich ist, da es nicht ihre durch das ARB 1/80 gewährleistete Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt. Die Rückstufung stellt außerdem keine neue Beschränkung dar, weshalb die Stillhalteklausel gemäß Art 13 ARB 1/80 nicht zur Anwendung gelangt.

Eine Rückstufung nach § 28 Abs. 1 NAG setzt voraus, dass die Voraussetzungen für Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorliegen, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (konkret eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG) jedoch im Hinblick auf § 9 BFA-VG nicht verhängt werden kann.

Eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG ist nur zulässig, wenn der weitere Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt.

Bei der Prüfung, ob die Annahme einer solchen Gefährdung gerechtfertigt ist, muss der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zufolge eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorgenommen werden.

Beim Beschwerdeführer lässt sich insgesamt eine Delinquenz hinsichtlich Suchtmitteldelikten erkennen, wobei die Suchtgiftdelinquenz ein besonders verpöntes Verhalten darstellt, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben sei und an dessen Verhinderung ein besonders großes öffentliches Interesse bestehe (vgl. VwGH 20.12.2007, 2007/21/0474).

Der Beschwerdeführer wurde innerhalb von sieben Jahren, fünf Mal strafgerichtlich verurteilt, vier Mal davon wegen Suchtmitteldelikten. Anhand der mehrfachen Tatbegehungen zeigt sich seine ablehnende Einstellung gegen rechtlich geschützte Werte doch sehr deutlich. Auch die ihm wiederholt gewährte bedingte Strafnachsicht hielt ihn von der Begehung weiterer Straftaten nicht ab.

Zwischendurch ging er zwar einer erlaubten unselbstständigen Erwerbstätigkeit, um seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können, nach, allein deswegen kann jedoch die Begehung weiterer Straftaten, vor allem im Zusammenhang mit Suchtmitteln, nicht ausgeschlossen werden.

Der Beschwerdeführer befindet sich erst seit mehr als zweieinhalb Jahren in Freiheit und derzeit noch deutlich innerhalb der verhängten dreijährigen Probezeit samt Bewährungshilfe (bis Februar 2018). Um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, bedarf es grundsätzlich eines Zeitraums des Wohlverhaltens, wobei in erster Linie das gezeigte Wohlverhalten in Freiheit maßgeblich ist (vgl. VwGH 27.4.2017, Ra 2016/22/0094). Dieser Zeitraum ist umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die maßgebliche Gefährlichkeit manifestiert hat (vgl. VwGH 22.01.2015, Ra 2014/21/009).

Angesichts der zahlreichen Verurteilungen über mehrere Jahre hinweg und damit einhergehend seiner offensichtlichen Strafrückfälligkeit, reicht die bisherige Dauer des Wohlverhaltens in Freiheit von mehr als zweieinhalb Jahren – trotz der von seiner Bewährungshelferin abgegebenen positiven Zukunftsprognose – nicht aus, um von einem Wegfall der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehen und auch unter diesem Aspekt die weitere Begehung strafrechtlicher Delikte, insbesondere Suchtmitteldelikte ausschließen zu können.

Unzulässigkeit der ordentlichen Revision:

Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Rückstufung, ARB 1/80, Stillhalteklausel, Prognosebeurteilung, Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit

Anmerkung

VwGH v. 8.11.2018, Ra 2017/22/0207; Zurückweisung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2017:VGW.151.065.9944.2017.E

Zuletzt aktualisiert am

23.11.2018
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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