TE Lvwg Erkenntnis 2022/9/9 LVwG-S-361/001-2022

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.09.2022
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Entscheidungsdatum

09.09.2022

Norm

ASVG §33
  1. ASVG § 33 heute
  2. ASVG § 33 gültig von 01.01.2019 bis 13.06.2016 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 113/2015
  3. ASVG § 33 gültig von 01.01.2019 bis 31.12.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 79/2015
  4. ASVG § 33 gültig ab 01.01.2019 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 44/2016
  5. ASVG § 33 gültig von 14.06.2016 bis 31.12.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 44/2016
  6. ASVG § 33 gültig von 01.01.2016 bis 13.06.2016 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 113/2015
  7. ASVG § 33 gültig von 01.01.2008 bis 31.12.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 31/2007
  8. ASVG § 33 gültig von 01.01.2006 bis 31.12.2007 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 132/2005
  9. ASVG § 33 gültig von 01.01.1998 bis 31.12.2005 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 139/1997
  10. ASVG § 33 gültig bis 31.12.2005 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 152/2004
  11. ASVG § 33 gültig bis 31.12.1997

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich erkennt durch Mag. Dr. Grünstäudl als Einzelrichter über die Beschwerde der A, in ***, ***, vertreten durch B Rechtsanwälte GmbH in ***, gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Krems vom 11. Jänner 2022, Zl. ***, betreffend Bestrafung nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG), zu Recht:

1. Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Bescheid aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt.

2. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision nicht zulässig.

Rechtsgrundlagen:

§ 50 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG

§ 45 Abs. 1 Z. 2 Verwaltungsstrafgesetz 1991 – VStG

§ 25a Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 – VwGG

Entscheidungsgründe:

1. Zum verwaltungsbehördlichen Verfahren:

Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Krems (in der Folge: belangte Behörde) vom 11. Jänner 2022, Zl. ***, wurde A (in der Folge: Beschwerdeführerin) die folgende Verwaltungsübertretung zur Last gelegt:

„Sie haben folgende Verwaltungsübertretung begangen:

Tatbeschreibung:

Sie haben als Verantwortliche des Weingutes C und Dienstgeber mit Sitz in ***, *** den/die deutschen Staatsangehörige/n D, geb. *** in Ihrem Weinbaubetrieb in ***, ***, seit dem Jahr 2019 bis zum Zeitpunkt der Kontrolle durch Organe des Amtes für Betrugsbekämpfung, FinPol Team ***, am 23.4.2021, mit Weinbautätigkeiten, önologische Beratung, Traktorarbeiten, Weinfiltration (bei einer Entlohnung von 15 Eur/Std., 2 Tage pro Woche) beschäftigt, ohne diese(n) Dienstnehmer/In als in der Unfall- und Pensionsversicherung pflichtversicherte Person(en) (Vollversicherte und Teilversicherte) vor Arbeitsantritt beim zuständigen Krankenversicherungsträger, aufgrund einer bestehenden Krankenversicherung, nämlich der ÖKG Niederösterreich, ***, ***, anzumelden, obwohl Dienstgeber jede von ihnen beschäftigte nach dem ASVG in der Krankenversicherung pflichtversicherte Person (Vollversicherte und Teilversicherte) vor Arbeitsantritt beim zuständigen Krankenversicherungsträger anzumelden hat. Sie haben somit als Dienstgeber entgegen § 33 Abs. 1 und Abs. 1a ASVG die Anmeldung zur Pflichtversicherung für den oben angeführten Arbeitszeitraum nicht vor dem oben angeführten Arbeitsantritt erstattet.

Es erfolgte auch keine telefonische Meldung oder Meldung mittels Telefax.

Sie haben dadurch folgende Rechtsvorschrift verletzt:

§ 111 Abs 1 Z 1 iVm 33 Abs 1 und Abs 1a und Abs 2 ASVG“

Wegen dieser Verwaltungsübertretung wurde über die Beschwerdeführerin gemäß § 111 Abs 2 erster Fall iVm Abs. 1 ASVG eine Geldstrafe in der Höhe von 730 Euro (Ersatzfreiheitsstrafe: 48 Stunden) verhängt und ein Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in der Höhe von 73 Euro vorgeschrieben.

2. Zum Beschwerdevorbringen:

Gegen dieses Straferkenntnis erhob die Beschwerdeführerin rechtzeitig Beschwerde. In dieser wird im Wesentlichen vorgebracht, dass Herr D nicht als Dienstnehmer anzusehen sei. Herr D sei ein in Tschechien ansässiger selbstständiger Erwerbstätiger, der in Tschechien über den Gewerbeschein mit dem Wortlaut „Beratung landwirtschaftlicher Sektor, Einkauf, Verkauf, Getränkeproduktion und Handel“ verfüge. Im Rahmen dieser gewerblichen Tätigkeit habe Herr D das Weingut der Beschwerdeführerin betreut. Er sei für eine Vielzahl unterschiedlicher Auftraggeber tätig, bei denen es sich um Weingüter bzw. Handelsunternehmen handle. Herr D leiste hochwertige Beratungstätigkeiten und bringe seine mehrjährige fachliche Berufserfahrung ein. Insbesondere berate er Kunden über geeignete Spritzmethoden und Spritzpläne und unterstütze diese im Zusammenhang mit der Strategie. Er verfüge über eine betriebliche Infrastruktur in Tschechien und übe dort den wesentlichen Teil seiner Erwerbstätigkeit aus. Zudem habe Herr D ein A1-Versicherungsdokument, welches die Anwendung des tschechischen Sozialversicherungsrechts bestätige.

3. Zum durchgeführten Ermittlungsverfahren:

Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich führte eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher E als eine informierte Vertreterin der Beschwerdeführerin, der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin, ein Vertreter der belangten Behörde und ein Vertreter des Amtes für Betrugsbekämpfung teilnahmen. Als Zeuge, somit unter Wahrheitspflicht, wurde D einvernommen. Der Zeuge legte zudem seinen tschechischen Gewerbeschein sowie seine tschechische Steuererklärung vor. Seitens des Vertreters des Amtes für Betrugsbekämpfung wurde eine „Pendler-Selbsterklärung“ des Weingutes C betreffend des D vorgelegt. Vom Verhandlungsleiter wurde der vorliegende Akt der Verwaltungsbehörde in das Beweisverfahren einbezogen.

4. Feststellungen:

4.1. Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin des Weingutes C. Das Weingut umfasst ca. 10 Hektar Weingartenflächen. Die Beschwerdeführerin hatte im Zeitraum Dezember 2019 bis zum April 2021 für das Weingut zwei Arbeiter angestellt.

4.2. Am 1. Dezember 2019 schloss die Beschwerdeführerin mit dem deutschen Staatsangehörigen D einen als Werkvertrag bezeichneten Vertrag ab. In diesem verpflichtete sich Herr D für das Weingut C folgende Dienstleistungen zu erbringen: Önologische Beratung im Zuge der Weinproduktion sowie Aufbringung des Pflanzenschutzes im Weingarten.

4.3. Herr D erbrachte von 1. Dezember 2019 bis zum 23. April 2021 für die Beschwerdeführerin folgende Dienstleistungen:

a) Önologische Beratung betreffend Weinkeller und Weingarten:

- Beratung in der Strategieentwicklung des Weinbaubetriebes, insbesondere Umstellung auf den biologischen Weinbau sowie Positionierung der Weine am Markt

- Beobachtung und Analyse der Gärung sowie der Reifung des Weines

- Beratung bei der Finalisierung (Geschmacksbild) des Weins

- Qualitätskontrolle der Weine im Keller (Verkostung, Messung des Zuckergehalts und anderer Werte)

- Beratung bei der Lese der Weine (welcher Wein wann gelesen wird)

- Beobachtung und Analyse der Entwicklung der Rebstöcke und Trauben

- Analyse der Grünarbeiten (z.B. ob der vorgenommene Ausschnitt zur festgelegten Strategie passt bzw. der Ausschnitt an den Weinreben richtig durchgeführt wurde)

- Erstellung von Spritz- und Düngeplänen: Festlegung der Intensität und Art der eingesetzten Mittel

b) Aufbringung des Pflanzenschutzes im Weingarten (von April bis August): Herr D verfügt über einen Pflanzenschutzsachkundenachweis. Er brachte den Pflanzenschutz auf den Weingartenflächen der Beschwerdeführerin auf.

4.4. Herr D war durchschnittlich einen Tag pro Woche für drei bis fünf Stunden zur Erbringung seiner Leistungen auf dem Weingut C anwesend. In einigen Monaten war er lediglich jede zweite Woche für einen Tag vor Ort, in anderen Monaten auch zwei Mal pro Woche.

4.5. Herr D brachte die Arbeitsmittel, insbesondere sein Labor und die Laborutensilien (z.B. Reagenzgläser, Refraktometer, Schwefel zum Abschwefeln), selbst mit. Nur der Traktor für die Aufbringung der Pflanzenschutzmittel wurde ihm von der Beschwerdeführerin zur Verfügung gestellt. Die Pflanzenschutzmittel wurden im Auftrag von Herrn D besorgt.

4.6. Herr D konnte sich durch andere Personen vertreten lassen. Eine Zustimmung der Beschwerdeführerin war für die Vertretung nicht erforderlich. Herr D konnte sich die Zeit zu welcher er die Leistungen für das Weingut erbrachte, frei einteilen. Es lag lediglich ein grober Terminplan vor, welcher die Dienstleistungen entsprechend der Vegetationsperiode vorgab.

4.7. Herr D verrechnete jeden Monat ein Honorar. Die Beratungsleistungen wurden stundenweise abgerechnet. Der Pflanzenschutz wurde nach Hektarleistung abgerechnet.

4.8. Herr D studierte an der Hochschule F Weinbau und Önologie. Er ist in der Tschechischen Republik selbstständig tätig. Herr D arbeitet in der Tschechischen Republik als Winzer; er produziert Wein und verkauft diesen. Zudem betreibt er eine Zimmervermietung in *** und verkauft leere Weinflaschen an das örtliche tschechische Lagerhaus. Er berät neben dem Weingut C zwei tschechische Weingüter in önologischen Fragen und beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Seine steuerliche Haupteinnahmequelle liegt in der önologischen Beratung, wobei er nur 4% des Umsatzes durch die Tätigkeit am Weingut C erwirtschaftet.

Herr D besitzt drei Gewerbescheine nach tschechischem Recht:

Gewerbeschein 1:

Herstellung, Handel und Dienstleistungen: Erbringung von Dienstleistungen für Landwirtschaft, Gartenbau, Fischzucht, Forstwirtschaft und Jagd; Herstellung von Lebensmitteln; Vermittlung von Handel und Dienstleistungen; Großhandel und Einzelhandel

Gewerbeschein 2:

Gastwirtschaft

Gewerbeschein 3:

Verkauf von Destillaten (Gärungsalkohol, Trinkalkohol und Spirituosen)

4.9. Der tschechische Sozialversicherungsträger stellte Herrn D eine A1-Bescheinigung aus. Aus dieser geht hervor, dass D als selbstständig erwerbstätige Person für den Zeitraum von 1. Jänner 2018 bis zum 3. Juni 2023 den tschechischen Rechtsvorschriften der Sozialversicherung gemäß Art. 13 Abs. 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unterliegt.

5. Beweiswürdigung:

5.1. Die Feststellungen zu den Punkten 4.1 bis 4.7. ergeben sich im Wesentlichen aus den übereinstimmenden Aussagen der informierten Vertreterin E und des Zeugen D. Der Zeuge wirkte akkurat und bemüht, die in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen präzise zu beantworten. So präzisierte er im Rahmen der mündlichen Verhandlung etwa seine Angaben zu den durchschnittlich erbrachten wöchentlichen Leistungen. Während er bei der Vernehmung durch die Organe der Finanzpolizei angab, dass er „variabel mindesten[s] einen Tag pro Woche“ am Weingut sei, konnte er im Rahmen der mündlichen Verhandlung gut und nachvollziehbar darlegen, dass es sich dabei um eine Durchschnittsbetrachtung handelte, da seine Leistungen auch vom Wetter und der Vegetation abhängig waren. Er schilderte seine Aufgaben detailgenau und konnte die Arbeitsprozesse nachvollziehbar beschreiben. Die vom Zeugen übernommenen Dienstleistungen stehen in Übereinstimmung mit dem schriftlichen Werkvertrag (AS 48-49). So war der Zeuge nicht zur Kontrolle der Arbeiter (d.h. im Sinne eines Vorgesetzten) im Weingut zuständig oder zur Weinfiltration, sondern analysierte im Sinne einer Beratungsleistung deren Durchführung und damit die Folgen für die Strategie der Weine. Unstrittig war, dass der Beschwerdeführer Traktorarbeiten, nämlich die Aufbringung von Spritz- und Düngemitteln im Weingarten des Weingutes C, durchführte. Auch, wenn der Beschwerdeführe bei seiner Vernehmung bei der Finanzpolizei angab, gegenüber der informierten Vertreterin weisungsgebunden zu sein, so zeigte sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, dass zwischen der Beschwerdeführerin und dem Zeugen lediglich ein grober Terminplan über die zu erbringenden Beratungsleistungen bestand, der Zeuge seine Arbeit frei einteilen konnte und die Möglichkeit hatte, sich durch andere Personen vertreten zu lassen. Aus der Darlegung des Arbeitsablaufs während der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ergaben sich keine Anhaltspunkte für eine Weisungsgebundenheit zwischen der Beschwerdeführerin und dem Zeugen. Der Zeuge wirkte im unmittelbaren Eindruck glaubwürdig. Für das Verwaltungsgericht bestanden keinerlei Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen.

5.2. Die Feststellungen zu Pkt. 4.8. ergeben sich aus der sehr plastisch und lebensnahen Aussage des Zeugen D. Dieser wirkte maßgeblich an der Aufklärung des Sachverhalts mit und hatte zu diesem Grund auch seine gesamten Steuerunterlagen zur Verhandlung mitgebracht. Darüber hinaus konnte das Gericht Einsicht in einen vom *** Gewerbeamt ausgestellten Auszug aus dem tschechischen Handelsregister nehmen. Auch dieser Auszug konnte unbedenklich den Feststellungen zu Grunde gelegt werden.

5.3. Die Feststellungen zu Pkt. 4.9. ergeben sich durch die Einsichtnahme in die unbedenkliche, von der tschechischen Sozialversicherungsverwaltung (?SSZ) ausgestellte, A1-Bescheinigung vom 4. Juni 2021. Für das Gericht bestanden keinerlei Hinweise, dass der Zeuge D die A1-Bescheinigung betrügerisch oder rechtsmissbräuchlich erlangt hatte.

6. Rechtslage und rechtliche Erwägungen:

6.1. Gemäß § 33 Abs. 1 ASVG haben Dienstgeber jede von ihnen beschäftigte, nach diesem Bundesgesetz in der Krankenversicherung pflichtversicherte Person vor Arbeitsantritt beim zuständigen Krankenversicherungsträger anzumelden. Gemäß § 33 Abs. 2 ASVG besteht diese Anmeldepflicht auch in Bezug auf die nur in der Unfall- und Pensionsversicherung sowie die nur in der Unfallversicherung nach § 7 Z 3 lit. a ASVG Pflichtversicherten.

6.2. Nach § 111 Abs. 1 Z 1 ASVG handelt ordnungswidrig und ist gemäß § 111 Abs. 2 ASVG zu bestrafen, wer als Dienstgeber entgegen den Vorschriften dieses Bundesgesetzes die Anmeldung zur Pflichtversicherung oder Anzeigen nicht oder falsch oder nicht rechtzeitig erstattet. Gemäß § 111 Abs. 2 ASVG ist diese Ordnungswidrigkeit von der Bezirksverwaltungsbehörde als Verwaltungsübertretung zu bestrafen, und zwar mit Geldstrafe von 730 Euro bis zu 2.180 Euro, im Wiederholungsfall von 2.180 Euro bis zu 5.000 Euro, bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen, sofern die Tat weder den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet noch nach anderen Verwaltungsstrafbestimmungen mit strengerer Strafe bedroht ist. Unbeschadet der §§ 20 und 21 VStG kann die Bezirksverwaltungsbehörde bei erstmaligem ordnungswidrigen Handeln nach Abs. 1 die Geldstrafe bis auf 365 Euro herabsetzen, wenn das Verschulden geringfügig und die Folgen unbedeutend sind.

6.3. Voraussetzung für eine Bestrafung der Beschwerdeführerin für eine Verletzung des § 33 Abs. 1 ASVG ist folglich, dass Herr D der Pflichtversicherung in Österreich unterliegt.

6.4. Wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaates der EU (hier: Herr D ist deutscher Staatsbürger), eine (hier: unselbstständige) Tätigkeit in mehreren Mitgliedsstaaten (hier: Tschechische Republik und Österreich) ausübt, so richtet sich die Beurteilung, welchem System der sozialen Sicherheit diese Person unterliegt, nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und deren Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009.

6.5. Nach Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sind auf eine Person, für die die Verordnung gilt, stets nur die Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats anwendbar, wobei dies – vorbehaltlich der vorgesehenen Ausnahmen – grundsätzlich jener Staat ist, in dem die Person eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt (vgl. Art. 11 Abs. 3 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004; sog. Beschäftigungsstaatprinzip).

6.6. Ausnahmen vom Beschäftigungsstaatsprinzip sind gemäß Art. 13 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 insbesondere bei der Ausübung von (selbstständigen und unselbstständigen) Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten vorgesehen.

6.7. Sind Personen in mehreren Mitgliedsstaaten erwerbstätig, so haben sie dies dem zuständigen Sozialversicherungsträger des Wohnsitzstaates mitzuteilen. Auf Antrag der betreffenden Person bescheinigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, dass und gegebenenfalls wie lange und unter welchen Umständen diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind (Art. 19 Abs. 2 der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009). Diese Bescheinigung wird als A1-Bescheinigung bezeichnet (Schrammel, LSD-BG - Rechtsprobleme und Sanktionen bei Entsendungen, ZAS. 2020/3, 12 (17)). Herr D hat seinen Wohnsitz in der Tschechischen Republik. Er hat eine entsprechende Meldung an die tschechische Sozialversicherungsverwaltung (?SSZ) erstattet sowie die Ausstellung einer A1-Bescheinigung beantragt. Die tschechische Sozialversicherungsverwaltung (?SSZ) hat mit dem A1-Dokument vom 4. Juni 2021 die Zugehörigkeit des Herrn D zu den tschechischen Vorschriften der Sozialversicherung im Zeitraum von 1. Jänner 2018 bis zum 3. Juni 2023 bestätigt.

6.8. Eine vom zuständigen Sozialversicherungsträger eines Mitgliedstaats ausgestellte A1-Bescheinigung legt für die Gültigkeitsdauer das auf eine Person anzuwendende Sozialversicherungsrecht verbindlich fest. Diese Bindungswirkung gilt nicht nur für die Sozialversicherungsträger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats (vgl. VwGH 10.10.2018, Ro 2016/08/0013 und 0014; EuGH 6.9.2018, Rs Alpenrind, C-527/16; EuGH 27.4.2017, Rs A-Rosa Flussschiff, C-260/15; krit. Schrammel, LSD-BG - Rechtsprobleme und Sanktionen bei Entsendungen, ZAS 2020/3, 12 (17)). Mit den Entscheidungen in den Rechtssachen Altun (EuGH 6.2.2018, C-359/16) sowie CRPNPAC und Vueling Airlines (EuGH 2.4.2020, C-370/17 und C-37/18) hat der EuGH die strenge Bindungswirkung gelockert und ausgeführt, dass sich Rechtsunterworfene nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf diese Bindungswirkung berufen können (vgl. vertiefend Niksova, Die Entsendung im Sozialversicherungsrecht, DRdA 2020/6, 522 (531)). Im gegenständlichen Verfahren sind keine Hinweise aufgetaucht, die auf einen Betrug oder einen Rechtsmissbrauch hindeuten. Insbesondere ist nicht hervorgekommen, dass Herr D in der Absicht handelte, den tschechischen Sozialversicherungsträger in die Irre zu führen und die Voraussetzungen für die Ausstellung der A1-Bescheinigung zu umgehen, um damit einen Vorteil zu erlangen.

6.9. Zusammengefasst ist Folgendes festzuhalten: Aufgrund der A1-Bescheinigung des tschechischen Sozialversicherungsträgers unterliegt Herr D dem tschechischen Sozialversicherungsrecht. Damit scheidet das Vorliegen einer Pflichtversicherung in Österreich und einer Meldepflichtverletzung nach § 33 ASVG aus, sodass eine Bestrafung der Beschwerdeführerin nach § 111 Abs. 1 ASVG nicht in Betracht kommt (vgl. VwGH 17.12.2021, Ra 2020/08/0171; sowie nochmals Ra 2016/08/0040).

7. Zum Entfall der mündlichen Verkündung der Entscheidung:

Die mündliche Verkündung der Entscheidung im Anschluss an die Verhandlung entfiel, weil die Beweise einer Würdigung bedurften, die mit der gebotenen Sorgfalt im Anschluss an die öffentliche mündliche Verhandlung nicht möglich war (vgl. VwGH vom 13. Dezember 2000, Zl. 2000/03/0269). Darüber hinaus verzichteten alle in der öffentlichen mündlichen Verhandlung anwesenden Parteien ausdrücklich auf die Verkündung der Entscheidung.

8. Zur Unzulässigkeit der ordentlichen Revision:

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da im gegenständlichen Verfahren keine Rechtsfrage zu lösen war, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil die Entscheidung nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Vielmehr stützt sich die Entscheidung auf die zitierte höchstgerichtliche Judikatur.

Schlagworte

Sozialversicherungsrecht; Verwaltungsstrafe; Meldepflicht; Anmeldung; Pflichtversicherung; zwischenstaatliche Sozialversicherung; Bindungswirkung;

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGNI:2022:LVwG.S.361.001.2022

Zuletzt aktualisiert am

18.11.2022
Quelle: Landesverwaltungsgericht Niederösterreich LVwg Niederösterreic, http://www.lvwg.noe.gv.at
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