TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/1 I415 2235423-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.10.2020
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Entscheidungsdatum

01.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1a
StGB §127
StGB §223 Abs2
StGB §224
StGB §229
StGB §241e
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I415 2235423-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hannes LÄSSER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , StA. Algerien, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom 31.08.2020, Zl. XXXX zu Recht erkannt:

A)

I.

Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt VIII. insofern stattgegeben, dass die Dauer des befristeten Einreiseverbotes von 10 Jahren auf 8 Jahre herabgesetzt wird.

II.

Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte nach dessen illegaler Einreise am 12.03.2015 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde, BFA) negativ entschieden wurde und welcher am 28.11.2016 durch Hinterlegung im Akt in Rechtskraft erwuchs.

2.       Mit Datum 24.04.2018 stellte der BF aus dem Stande seiner Schubhaft neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid der belangten Behörde wegen entschiedener Sache gemäß § 68 AVG zurückgewiesen wurde. Gegen den BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen sowie ein Einreiseverbot auf die Dauer von 5 Jahren verhängt. Mit 23.06.2018 erwuchs der Bescheid in Rechtskraft.

3.       Am 16.07.2020 stellte der BF aus dem Stande seiner Untersuchungshaft neuerlich einen Asylantrag. Befragt nach seinen Asylgründen führte der BF aus, er wolle in Österreich bleiben. Hier werde ihm geholfen und die Menschen seien so freundlich. Er habe hier Freunde und fühle sich in Österreich wohl. In einem arabischen Land laufe alles falsch, man verhungere in Algerien und die Regierung sitze mittlerweile in Haft. Das algerische Konsulat habe ihm mitgeteilt, dass es keine Beweise dafür gebe, dass er Algerier sei, weswegen er nicht dorthin zurückkehren könne. In Algerien könne man sich nicht bewegen. Tue man es doch, sterbe man. Alle Menschen würden aus Algerien nach Spanien fliehen.

4.       Am 25.08.2020 fand vor der belangten Behörde die niederschriftliche Einvernahme des BF statt. Dabei führte der BF auf die Frage nach seinen Fluchtgründen im Wesentlichen aus, er habe keine Fluchtgründe in Bezug auf Algerien. Er kenne Algerien nicht, da er das Land bereits im Alter von vier Jahren verlassen habe. Der BF wisse nicht, wohin er dort gehen und was er dort machen solle. Noch heute würden Leute Algerien verlassen und im Meer ertrinken, weil das Leben dort nicht auszuhalten wäre. In Algerien habe er nichts, er sei in Europa groß geworden und Europäer. In Algerien habe er Angst zu verhungern.

5.       Mit Bescheid der belangten Behörde vom 31.08.2020, Zl. XXXX dem BF zugestellt am 03.09.2020, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Algerien abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie festgestellt, dass seine Abschiebung nach Algerien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde ihm nicht gewährt (Spruchpunkt VI.), einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.) sowie gegen den BF ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.).

6.       Gegen diesen Bescheid wurde rechtzeitig mit Schriftsatz vom 22.09.2020, bei der belangten Behörde eingelangt am selben Tag, durch die Rechtsvertretung des BF Beschwerde erhoben, mit welcher der Bescheid zur Gänze angefochten wurde, wobei Rechtswidrigkeit in Folge der Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes moniert wurden. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass zu den Fluchtgründen vollinhaltlich auf das bisher im Asylverfahren Vorgebrachte verwiesen werde und der BF die Gefahrenlage detailliert in der Einvernahme am 16.07.2020 geschildert habe. Auch würden dem BF in Algerien familiäre Anknüpfungspunkte fehlen. Überdiese habe der BF auf der rechten Seite seines Kopfes aufgrund einer Explosion eine Verletzung erlitten, bei der ein Stück seines Schädelknochens verformt worden sei. Er müsse daher immer Medikamente (Lurika) einnehmen, wobei er nach dessen Einnahme kaum Kontrolle über sich habe, was neben dem psychischen Zustand des BF das Berufsleben desselben deutlich beeinträchtigen würde. Überdies erscheine aufgrund der schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz der staatliche Schutz in Algerien als schwach bis nicht gegeben, auch bestehe Gefahr einer unmenschlichen Behandlung nach Art 3 EMRK. Beantragt werde daher, den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass dem BF der Status des Asylberechtigten zuerkannt werde, dass ihm der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werde, in eventu den Bescheid dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung aufgehoben werde, in eventu, dass der Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung nach Algerien aufgehoben werde, in eventu, dass dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt werde, in eventu den angefochtenen Bescheid zur Gänze zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen, das verhängte Einreiseverbot zu beheben, in eventu herabzusetzen sowie (falls als notwendig erachtet) eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anzuberaumen.

7.       Mit Schriftsatz vom 23.09.2020, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 25.09.2020, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF ist Staatsangehöriger Algeriens, ledig, kinderlos, sunnitisch muslimischen Glaubens und gehört der Volksgruppe der Araber an. Die Identität des BF steht nicht fest.

Er hält sich seit (mindestens) 12.03.2015 in Österreich auf, war jedoch im Zeitraum von April 2016 bis Februar 2018 in Italien aufhältig. Melderechtlich war der BF mit Ausnahme des Zeitraums vom 29.05.2020 bis 12.07.2020, wo er als obdachlos gemeldet war, ausschließlich in Anhaltezentren sowie Justizanstalten melderechtlich erfasst, insgesamt etwa 10,5 Monate. Aktuell befindet sich der BF seit 12.07.2020 in der Justizanstalt XXXX

Der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet gestaltet sich seit Rechtskraft seines ersten Asylverfahrens, somit seit 28.11.2016, als rechtwidrig, überdies wurde gegen ihn mit Rechtskraft 23.06.2018 ein auf die Dauer von 5 Jahren befristetes Einreiseverbot verhängt.

Der BF leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist arbeitsfähig, auch weist er Berufserfahrung als Maler auf.

Er verfügt über keinen Sozialversicherungsschutz.

Der Strafregisterauszug des BF weist folgende fünf Verurteilungen auf:

01) BG XXXX vom 09.03.2016 RK 15.03.2016

§ 229 (1) StGB

§ 241e (3) StGB

§ 127 StGB

Datum der (letzten) Tat 01.07.2015

Freiheitsstrafe 2 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

zu BG XXXX RK 15.03.2016

Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre

BG XXXX vom 13.04.2018

02) LG XXXX vom 22.03.2016 RK 26.03.2016

§ 127 StGB

Datum der (letzten) Tat 12.09.2015

Freiheitsstrafe 6 Wochen, bedingt, Probezeit 3 Jahre

zu LG XXXX RK 26.03.2016

Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre

BG XXXX vom 13.04.2018

03) BG XXXX vom 14.04.2016 RK 03.04.2018

§ 15 StGB § 127 StGB

Datum der (letzten) Tat 11.10.2015

Keine Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX RK

26.03.2016

Vollzugsdatum 03.04.2018

04) BG XXXX vom 13.04.2018 RK 17.04.2018

§ 297 (1) 1. Fall StGB

§ 12 3. Fall StGB § 127 StGB

Datum der (letzten) Tat 11.04.2016

Freiheitsstrafe 2 Monate

Vollzugsdatum 06.08.2018

05) LG XXXX vom 29.05.2018 RK 05.06.2018

§ 223 (2) StGB

§ 224 StGB

Datum der (letzten) Tat 14.02.2018

Freiheitsstrafe 1 Monat

Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf BG XXXX RK 17.04.2018

Vollzugsdatum 06.09.2018

Mit Schreiben vom 24.09.2020 wurde die belangte Behörde von der Staatsanwaltschaft XXXX davon in Kenntnis gesetzt, dass gegen den BF wegen § 15 StGB §§ 201 (1), 201 (2) 4. Fall StGB § 107 (1) StGB Anklage erhoben wurde.

Darüber hinaus wurde der BF auch in Italien zweimal wegen Diebstahls inhaftiert.

In Österreich leben keine Familienangehörigen des BF, es besteht zu keinen in Österreich lebenden Personen ein Abhängigkeitsverhältnis. Er verfügt über keine privaten Beziehungen mit maßgeblicher Intensität.

Der BF verfügt über Sprachkenntnisse in Arabisch und Italienisch. Er weist keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, sozialer, beruflicher und kultureller Hinsicht in Bezug auf Österreich auf.

1.2.    Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:

Der BF ist in Algerien keiner persönlichen Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung ausgesetzt.

Es existieren keine Umstände, welche einer Abschiebung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich entgegenstünden. Es spricht nichts dafür, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Algerien eine Verletzung von Art 2, Art 3 oder auch der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention nach sich ziehen würde. Der BF ist auch nicht von willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bedroht.

Im Falle einer Rückkehr nach Algerien ist dem BF nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen.

1.3.    Zu den Feststellungen zur Lage in Algerien:

Algerien gilt als sicherer Herkunftsstaat.

Die aktuelle Situation in Algerien (Stand Gesamtaktualisierung am 14.6.2019, letzte Information eingefügt am 26.6.2020) des BF stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

1.3.1 Politische Lage

Nach der Verfassung von 1996 ist Algerien eine demokratische Volksrepublik (AA 20.6.2019). Algerien, das größte Land Afrikas, gilt als wichtiger Stabilitätsanker in der Region (KAS 27.2.2019). Der Präsident wird für fünf Jahre direkt gewählt, seine Amtszeit ist seit der letzten Verfassungsreform im Jahr 2016 auf zwei Mandate begrenzt. Neben der nach Verhältniswahlrecht (mit Fünfprozent-Klausel) gewählten Nationalen Volksversammlung (Assemblée Populaire Nationale) besteht eine zweite Kammer (Conseil de la Nation oder Sénat), deren Mitglieder zu einem Drittel vom Präsidenten bestimmt und zu zwei Dritteln von den Gemeindevertretern gewählt werden (AA 20.6.2019). Die Gewaltenteilung ist durch die algerische Verfassung von 1996 gewährleistet, jedoch initiiert oder hinterfragt das Parlament seither selten Gesetzesvorschläge der Regierung und die Macht hat sich innerhalb der Exekutive zunehmend gefestigt. Präsident Bouteflika regierte weitgehend durch Präsidialdekret (BS 29.4.2020). Der Senatspräsident vertritt den Staatspräsidenten (AA 20.6.2019).

Im Februar 2019 entstand in Algerien eine Massenbewegung, welche sich mit dem arabischen Wort für Bewegung „Hirak“ beschreibt. Die algerischen Proteste begannen, nachdem der damals amtierende Präsident Abdelaziz Bouteflika seine fünfte Kandidatur für die Präsidentschaftswahl ankündigte. Zunächst forderten die Demonstrierenden den Rücktritt des Präsidenten, welcher dieser Forderung schließlich nachkam. Die Proteste endeten jedoch nicht mit dem Rücktritt Bouteflikas, bis Ende März 2020 wurde jeden Freitag auf den Straßen in der Hauptstadt Algier und anderswo demonstriert und die Veränderung des gesamten politischen Systems gefordert (IPB 12.6.2020; vgl. RLS 7.4.2020, HRW 14.1.2020, AA 17.4.2019, BAMF 18.2.2019). Die Proteste ungemindert weiter (RLS 7.4.2020 vgl. Standard 18.2.2020, Standard 12.12.2019, Guardian 13.12.2019) und verliefen meist friedlich (IPB 12.6.2020; vgl. BAMF 25.2.2019 Standard 13.12.2019, DF 9.12.2019), dennoch setzte die Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke ein, um die Menge zu zerstreuen (BAMF 25.2.2019; vgl. TB 22.2.2019, AI 18.2.2020). Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden die Hirak-Märsche ab Ende März 2020 ausgesetzt, der Aktivismus wurde ins Internet verlagert (IPB 12.6.2020; vgl. ARI 7.4.2020, RLS 7.4.2020).

Während die Staatsführung mit behutsamen Konzessionen und vom Hirak misstrauisch beäugten Reformversprechen versuchte, die Bewegung auszubremsen, geht der Sicherheitsapparat weiter mit Repressalien gegen Demonstranten und Oppositionelle vor (Standard 18.2.2020; vgl. AI 18.2.2020, IPB 12.6.2020). Fast 1.400 Hirak-Aktivisten müssen sich mittlerweile vor Gericht verantworten, mehrere hundert sitzen schon hinter Gittern (Standard 18.2.2020; vgl. AI 18.2.2020). Der konsequent friedlich agierende Hirak war führungslos und nur partiell strukturiert. Das Regime verfolgte die Strategie des Aussitzens (Standard 18.2.2020). Versuche der Regierung, Teile der Bewegung zu kooptieren oder untereinander aufzuspalten (IPB 12.6.2020), oder die friedlichen Proteste in offene Gewalt umschlagen zu lassen, waren nicht erfolgreich (Standard 13.12.2019).

Eine neue Präsidentschaftswahl wurde für den 4.7.2019 angesetzt und wegen der Proteste verschoben (HRW 14.1.2020; vgl. FAZ 12.12.2019). Schließlich wurde am 12.12.2019 Abdelmadjid Tebboune mit 58,15% der Stimmen zum neuen Präsidenten der Republik gewählt (TSA 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, Spiegel 13.12.2019, BBC 13.12.2019). Von den fünf zugelassenen Kandidaten waren drei in früheren Regierungen unter dem ehemaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika vertreten (Spiegel 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, ARTE 14.12.2019). Auch der Wahlsieger Tebboune war unter Bouteflika mehrfach Minister und im Jahr 2017 drei Monate lang Ministerpräsident (DF 14.12.2019; vgl. ARTE 14.12.2019).

Etwa 24 Millionen Menschen waren wahlberechtigt (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019). Viele Menschen boykottierten den Urnengang, weil die zugelassenen Kandidaten in ihren Augen Marionetten des alten Bouteflika-Regimes waren (ARTE 14.12.2019; vgl. Guardian 13.12.2019). Mehrere Oppositionsparteien wollten einen gemeinsamen Gegenkandidaten aufstellen - konnten sich allerdings nicht einigen (TB 22.2.2019; vgl. TS 26.3.2019). Die Wahlbeteiligung lag bei ca. 40 Prozent (TSA 13.12.2019; vgl. BBC 13.12.2019, ARTE 14.12.2019, Guardian 13.12.2019). Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung, die je bei einer Präsidentschaftswahl in Algerien verzeichnet wurde (Guardian 13.12.2019). Die Wahlbehörde zeigte sich mit dem Verlauf des Wahltages zunächst zufrieden; in 95 Prozent der Wahllokale sei der Betrieb reibungslos angelaufen (FAZ 12.12.2019). Es waren keine ausländischen Wahlbeobachtermissionen zugelassen (Reuters 12.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019).

Der Wahltag selbst wurde durch Proteste und Aufrufe zum Boykott der Wahlen beeinträchtigt (BBC 13.12.2019; vgl. ARTE 14.12.2019, Guardian 13.12.2019). Lokale Medien berichteten von zahlreichen Zwischenfällen. In der Hauptstadt Algier waren Tausende Menschen auf den Straßen, um gegen die Wahl zu protestieren (FAZ 12.12.2019; vgl. Spiegel 13.12.2019). Zentrum des Widerstandes gegen die Abstimmung war die Berberregion Kabylei im Osten des Landes (Standard 13.12.2019), wo es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Wahllokale wurden mit Backsteinen und Zement verschlossen, Wahlunterlagen in Brand gesetzt. Laut Medienberichten griffen die Sicherheitskräfte hart durch. Die Polizei setzte Tränengas ein. Vertreter der sogenannten Hirak-Protestbewegung beklagten Hunderte verhaftete und verletzte Menschen (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019; BBC 13.12.2019).

In Tizi Ouzou und Bejaia sind die Wahlbüros aus Sicherheitsgründen geschlossen worden (FAZ 12.12.2019; vgl. Spiegel 13.12.2019, TSA 13.12.2019). Der Wahlvorgang wurde auch in Boumerdès, Bouira, Bordj Bou Arreridj, Sétif und Jijel unterbrochen (TSA 13.12.2019). In Bouira hatten Demonstranten das Büro der Wahlkommission in Brand gesetzt (Spiegel 13.12.2019). In Béjaïa wurde ein Wahllokal überfallen und die Urnen zerstört (Reuters 12.12.2019; vgl. Standard 13.12.2019). Die Staatsführung um Armeechef Gaïd Salah sah die Wahlen als Mittel, die politische Krise zu beenden und die Legitimität der politischen Führung zu erneuern (Standard 12.12.2019; vgl. Reuters 12.12.2019, Guardian 13.12.2019).

Viele Demonstranten kündigten an, die offiziellen Ergebnisse nicht anzuerkennen (Reuters 12.12.2019). Der Wahlsieg von Tebboune löste erneut Massenproteste aus (ARTE 14.12.2019; vgl. BBC 13.12.2019). Der neue Präsident ist bei den vielen Demonstranten genauso verhasst wie seine vier Kontrahenten bei der Präsidentschaftswahl. Die Protestbewegung will weitermachen, bis das Regime aus Vertrauten des ehemaligen Machthabers Bouteflika tatsächlich fällt (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019).

1.3.2 Sicherheitslage

Demonstrationen fanden von Mitte Februar 2019 bis Ende März 2020 fast täglich in allen größeren Städten statt. Auch wenn diese weitgehend friedlich verliefen, konnten vereinzelte gewaltsame Auseinandersetzungen nicht ausgeschlossen werden (AA 5.5.2020; vgl. Standard 12.12.2019, Guardian 13.12.2019, IPB 12.6.2020). Die Sicherheitslage in gewissen Teilen Algeriens ist weiterhin gespannt. Es gibt immer noch terroristische Strukturen, wenn auch reduziert (ÖB 11.2019; vgl. BS 29.4.2020). Es gibt nach wie vor bewaffnete Splittergruppen, und es herrscht nach wie vor eine Sicherheitswarnung, insbesondere für die Süd- und Ostgrenze, für den Süden und die Berberregionen des Landes. Seit 2014 hat es keine Entführungen mehr gegeben (BS 29.4.2020; vgl. BMEIA 8.5.2020, AA 5.5.2020), In den vergangenen zwei Jahren gab es keine größeren terroristischen Vorfälle (BS 29.4.2020).

Der djihadistische Terrorismus in Algerien ist stark zurückgedrängt worden; Terroristen wurden Großteils entweder ausgeschaltet, festgenommen oder haben oft das Land verlassen, was zur Verlagerung von Problemen in die Nachbarstaaten, z.B. Mali, führte. Gewisse Restbestände oder Rückzugsgebiete sind jedoch v.a. in der südlichen Sahara (so z.B. angeblich Iyad ag Ghali) vorhanden. Gruppen, wie die groupe salafiste pour la prédication et le combat (GSPC), die den 1997 geschlossenen Waffenstillstand zwischen dem algerischen Militär und der AIS nicht anerkannte, sich in die Saharagebiete zurückzog und 2005 mit Al-Qaida zur AQIM verband, sind auf kleine Reste reduziert und in Algerien praktisch handlungsunfähig. Inzwischen hat sich diese Gruppe wieder mehrmals geteilt, 2013 u.a. in die Mouvement d’unité pour je jihad en Afrique occidentale (MUJAO). Ableger dieser Gruppen haben den Terroranschlag in Amenas/Tigentourine im Jänner 2013 zu verantworten. 2014 haben sich mit dem Aufkommen des „Islamischen Staates“ (IS) Veränderungen in der algerischen Terrorismusszene ergeben. AQIM hat sich aufgespalten und mindestens eine Teilgruppe, Jund al-Khilafa, hat sich zum IS bekannt. Diese Gruppe hat die Verantwortung für die Entführung und Enthauptung des französischen Bergführers Hervé Gourdel am 24.9.2014 übernommen. Dies war 2014 der einzige Anschlag, der auf einen Nicht-Algerier zielte. Ansonsten richteten sich die terroristischen Aktivitäten ausschließlich auf militärische Ziele (ÖB 11.2019).

Der interkommunale Konflikt in der Region Ghardaia mit gewalttätigen Zusammenstößen zwischen 2013 und 2015 wurde durch eine starke Militärpräsenz unter Kontrolle gebracht. Islamistische Extremisten, die eine echte Bedrohung für die staatliche Identität darstellen, sind nach wie vor eine sehr kleine Minderheit. Sie werden von der Bevölkerung kaum oder gar nicht unterstützt (BS 29.4.2020).

Die Sicherheitssituation betreffend terroristische Vorfälle hat sich inzwischen weiter verbessert, die Sicherheitskräfte haben auch bislang unsichere Regionen wie die Kabylei oder den Süden besser unter Kontrolle, am relativ exponiertesten ist in dieser Hinsicht noch das unmittelbare Grenzgebiet zu Tunesien, Libyen und zu Mali. Es kommt mehrmals wöchentlich zu Razzien und Aktionen gegen Terroristen oder deren Unterstützer (ÖB 11.2019).

Nach Angaben der offiziellen Armeepublikation „El Djeich“ (andere Quellen sind nicht öffentlich zugänglich) wurden 2018 32 Terroristen getötet, 25 festgenommen, 132 ergaben sich, weiters wurden 170 „Terrorismusunterstützer“ festgenommen (MDN 1.2019; vgl. ÖB 12.2019). Dieselbe Quelle gibt für das Jahr 2019 an, dass 15 Terroristen getötet und 25 festgenommen wurden, 44 ergaben sich; weiters wurden 245 „Terrorismusunterstützer“ festgenommen (MDN 1.2020). Wie in den Vorjahren kam es auch 2019 zu bewaffneten Vorfällen zwischen Sicherheitskräften und Terroristen, bei denen inoffiziellen Angaben zufolge auch aufseiten der Armee Tote verzeichnet wurden, was jedoch nicht öffentlich gemacht wird (ÖB 11.2019).

Spezifische regionale Risiken

Von Terroranschlägen und Entführungen besonders betroffen ist die algerische Sahararegion, aber auch der Norden und Nordosten des Landes (v.a. Kabylei). Die Gefahr durch den Terrorismus, der sich in erster Linie gegen die staatlichen Sicherheitskräfte richtet, besteht fort (AA 5.5.2020). 2017 gab es (mindestens) vier Anschläge mit eindeutig islamistischem Hintergrund, und zwar in Blida, Constantine, Oued Djemaa (Wilaya Blida), Ferkane (Wilaya Tebessa) und Tiaret (ÖB 11.2019).

Vor Reisen in die Grenzgebiete zu Libyen, Niger, Mali, Mauretanien, Tunesien und Marokko sowie in die sonstigen Saharagebiete, in ländliche Gebiete, Bergregionen (insbesondere Kabylei) und Gebirgsausläufer (Nord-Westen von Algier und Wilaya de Batna) wird gewarnt (BMEIA 8.5.2020; vgl. AA 5.5.2020, FD 20.5.2020). Ausgenommen davon sind nur die Städte Algier, Annaba, Constantine, Tlemcen und Oran (BMEIA 8.5.2020). Im Rest des Landes besteht weiterhin hohes Sicherheitsrisiko (BMEIA 8.5.2020). Praktisch nicht mehr existent sind die früher häufigen Entführungen, besonders in der Region Kabylei von wohlhabenden Einheimischen mit kriminellem Hintergrund (Lösegeldforderung). In den südlichen Grenzregionen zu Niger und Mali und jenseits der Grenzen gehen terroristische Aktivitäten, Schmuggel und Drogenhandel ineinander über. Es wird angenommen, dass AQIM in Nordmali, aber auch andernorts vereinzelt mit der lokalen Bevölkerung für Schmuggel aller Art zusammenarbeitet (ÖB 11.2019).

1.3.3. Rechtsschutz / Justizwesen

Obwohl die Verfassung eine unabhängige Justiz vorsieht, beschränkt die Exekutive die Unabhängigkeit der Justiz (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Der Präsident hat den Vorsitz im Obersten Justizrat, der für die Ernennung aller Richter sowie Staatsanwälte zuständig ist (USDOS 11.3.2020). Der Oberste Justizrat ist für die richterliche Disziplin und die Ernennung und Entlassung aller Richter zuständig (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Die in der Verfassung garantierte Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern wird in der Praxis nicht gänzlich gewährleistet (BS 29.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020), sie ist häufig äußerer Einflussnahme und Korruption ausgesetzt (USDOS 11.3.2020). Die Justizreform wird zudem nur äußerst schleppend umgesetzt. Algerische Richter sehen sich häufig einer außerordentlich hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt, was insbesondere in Revisions- und Berufungsphasen zu überlangen Verfahren führt (AA 25.6.2019). Praktische Entscheidungen über richterliche Kompetenzen werden vom Obersten Justizrat getroffen (BS 29.4.2020). Die Richter werden für eine Dauer von zehn Jahren ernannt und können u.a. im Fall von Rechtsbeugung abgelöst werden (AA 25.6.2019). Im Straf- und Zivilrecht entscheiden Justizministerium und der Präsident der Republik mittels weisungsabhängiger Beratungsgremien über das Fortkommen von Richtern und Staatsanwälten. Das Rechtswesen kann so unter Druck gesetzt werden, besonders in Fällen, in denen politische Entscheidungsträger betroffen sind. Es ist der Exekutive de facto nachgeordnet. Im Handelsrecht führt die Abhängigkeit von der Politik zur inkohärenten Anwendung der Anti-Korruptionsgesetzgebung, da auch hier die Justiz unter Druck gesetzt werden kann (GIZ 12.2016a).

Das algerische Strafrecht sieht explizit keine Strafverfolgung aus politischen Gründen vor. Es existiert allerdings eine Reihe von Strafvorschriften, die aufgrund ihrer weiten Fassung eine politisch motivierte Strafverfolgung ermöglichen. Dies betrifft bisher insbesondere die Meinungs- und Pressefreiheit, die durch Straftatbestände wie Verunglimpfung von Staatsorganen oder Aufruf zum Terrorismus eingeschränkt werden. Rechtsquellen sind dabei sowohl das algerische Strafgesetzbuch als auch eine spezielle Anti-Terrorverordnung aus dem Jahre 1992. Für die Diffamierung staatlicher Organe und Institutionen durch Presseorgane bzw. Journalisten werden in der Regel Geldstrafen verhängt (AA 25.6.2019; vgl. GIZ 12.2016a).

Die Verfassung gewährleistet das Recht auf einen fairen Prozess (USDOS 11.3.2020), aber in der Praxis respektieren die Behörden nicht immer die rechtlichen Bestimmungen, welche die Rechte des Angeklagten wahren sollen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 4.4.2018). Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung und sie haben das Recht auf einen Verteidiger, dieser wird, falls nötig, auf Staatskosten zur Verfügung gestellt. Die meisten Verhandlungen sind öffentlich. Angeklagte haben das Recht auf Berufung. Die Aussage von Frauen und Männern wiegt vor dem Gesetz gleich (USDOS 11.3.2020). Den Bürgerinnen und Bürgern fehlt nach wie vor das Vertrauen in die Justiz (AA 25.6.2019).

1.3.4 Sicherheitsbehörden

Die staatlichen Sicherheitskräfte lassen sich unterteilen in nationale Polizei, Gendarmerie, Armee und Zoll (GIZ 12.2016a). Die dem Innenministerium unterstehende nationale Polizei DGSN wurde in den 90er Jahren von ihrem damaligen Präsidenten, Ali Tounsi, stark ausgebaut und personell erweitert, und zwar von 100.000 auf 200.000 Personen, darunter zahlreiche Frauen (GIZ 12.2016a). Ihre Aufgaben liegen in der Gewährleistung der örtlichen Sicherheit (GIZ 12.2016a; vgl. USDOS 11.3.2020). Der Gendarmerie Nationale gehören ca. 130.000 Personen an, die die Sicherheit auf überregionaler (außerstädtischer) Ebene gewährleisten sollen (USDOS 11.3.2020). Sie untersteht dem Verteidigungsministerium (GIZ 12.2016a).

Die Gendarmerie Locale wurde in den 90er Jahre als eine Art Bürgerwehr eingerichtet, um den Kampf gegen den Terrorismus in den ländlichen Gebieten lokal zielgerichteter führen zu können. Sie umfasst etwa 60.000 Personen. Die Armee ANP (Armée Nationale Populaire) hat seit der Unabhängigkeit eine dominante Stellung inne und besetzt in Staat und Gesellschaft Schlüsselpositionen. Sie zählt allein an Bodentruppen ca. 120.000 Personen und wurde und wird im Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt. Die Armee verfügt über besondere Ressourcen, wie hochqualifizierte Militärkrankenhäuser und soziale Einrichtungen. Die Zollbehörden nehmen in einem außenhandelsorientierten Land wie Algerien eine wichtige Funktion wahr. Da in Algerien gewaltige Import- und Exportvolumina umgesetzt werden, ist die Anfälligkeit für Korruption hoch (GIZ 12.2016a).

Straffreiheit bleibt ein Problem (USDOS 11.3.2020). Übergriffe und Rechtsverletzungen der Sicherheitsbehörden werden entweder nicht verfolgt oder werden nicht Gegenstand öffentlich gemachter Verfahren (ÖB 11.2019). Das Strafgesetz enthält Bestimmungen zur Untersuchung von Missbrauch und Korruption und die Regierung veröffentlicht Informationen bzgl. disziplinärer oder rechtlicher Maßnahmen gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte (USDOS 11.3.2020).

1.3.5 Folter und unmenschliche Behandlung

Die Verfassung verbietet Folter und unmenschliche Behandlung (AA 25.6.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, ÖB 11.2019). Unmenschliche oder erniedrigende Strafen werden gesetzlich nicht angedroht. Das traditionelle islamische Strafrecht (Scharia) wird in Algerien nicht angewendet (AA 25.6.2019). Menschenrechtsorganisationen haben seit 2015 nicht mehr über Fälle berichtet, in denen Übergriffe gegen Personen in Gewahrsam bis hin zu Folter durch die Sicherheitsdienste beklagt werden (AA 25.6.2019). Menschenrechtsaktivisten berichten, dass die Polizei gelegentlich exzessive Gewalt gegen Verdächtige, einschließlich Protestierende, anwendet (USDOS 11.3.2020).

Das Strafmaß für Folter liegt zwischen 10 und 20 Jahren. Im Jahr 2019 hat das Justizministerium keine Zahlen zur Strafverfolgung gegen Beamte veröffentlicht. Menschenrechtsaktivisten gaben an, dass die Polizei manchmal übermäßige Gewalt gegen Verdächtige einschließlich Demonstranten anwendet (USDOS 11.3.2020).

1.3.6 Allgemeine Menschenrechtslage

Staatliche Repressionen, die allein wegen Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgen, sind in Algerien nicht feststellbar (AA 25.6.2019). Algerien ist den wichtigsten internationalen Menschenrechtsabkommen beigetreten. Laut Verfassung werden die Grundrechte gewährleistet. Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen haben seit Ende der 1990er Jahre abgenommen, bestehen jedoch grundsätzlich fort (AA 17.4.2019). Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden eingeschränkt (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020, AI 18.2.2020) und die Unabhängigkeit der Justiz ist mangelhaft. Weitere bedeutende Menschenrechtsprobleme sind übermäßige Gewaltanwendung durch die Polizei, inklusive Foltervorwürfe (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 18.2.2020), sowie die Einschränkung der Möglichkeit der Bürger, ihre Regierung zu wählen. Weitverbreitete Korruption begleitet Berichte über eingeschränkte Transparenz bei der Regierungsführung. Straffreiheit bleibt ein Problem (USDOS 11.3.2020).

Obwohl die Verfassung Meinungs- und Pressefreiheit gewährleistet, schränkt die Regierung diese Rechte ein (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020, BS 29.4.2020). NGOs kritisieren diese Einschränkungen. Bürger können die Regierung nicht ungehindert kritisieren. Es drohen Belästigungen und Verhaftungen; Bürger sind somit bei der Äußerung von Kritik zurückhaltend (USDOS 11.3.2020). Alle Medienanbieter, auch privat, stehen unter Beobachtung (USDOS 11.3.2020).

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden Demonstrationen regelmäßig nicht genehmigt bzw. in Algier komplett verboten (AA 25.6.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, HRW 14.1.2020). Ergebnis ist, dass die Möglichkeiten politischer Tätigkeit weiterhin eng begrenzt sind. Oppositionelle politische Aktivisten beklagen, aufgrund von Anti-Terrorismus-Gesetzen und solchen zur Begrenzung der Versammlungsfreiheit oder Vergehen gegen „Würde des Staates und die Staatssicherheit“ festgenommen zu werden (ÖB 11.2019). Oppositionelle Gruppierungen haben zudem oft Schwierigkeiten, Genehmigungen für Veranstaltungen in geschlossenen Räumen zu erhalten (AA 25.6.2019).

Algerien erlebte ab Februar 2019 die größten und nachhaltigsten Anti-Regierungsdemonstrationen seit seiner Unabhängigkeit 1962. Jeden Freitag überfluten Algerier die Straßen in der Hauptstadt Algier und anderswo. Als Reaktion auf die anhaltenden Proteste, zerstreuten die Behörden friedliche Demonstrationen, hielten willkürlich Protestierende fest, blockierten von politischen und Menschenrechtsgruppen organisierte Treffen und inhaftierten Kritiker (HRW 14.1.2020; vgl. AI 18.2.2020). Die Sicherheitskräfte haben verschärfte Kontrollen an den Zufahrtsstraßen nach Algier eingerichtet, um die Teilnehmerzahlen in der Hauptstadt zu senken (AA 25.6.2019). Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden die regelmäßigen Demonstrationen ab Ende März 2020 ausgesetzt (ARI 7.4.2020; vgl. IPB 12.6.2020). Im Zusammenhang mit dem gesundheitspolitischen Notstande intensivierte die Regierung ihr Vorgehen gegen Opposition und freie Presse (RLS 7.4.2020) und ab 17.3.2020 wurden die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit weiter verschärft (IPB 12.6.2020).

Das Gesetz garantiert der Regierung weitreichende Möglichkeiten zur Überwachung und Einflussnahme auf die täglichen Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Das Innenministerium muss der Gründung zivilgesellschaftlicher Organisationen zustimmen, bevor diese gesetzlich zugelassen werden (USDOS 11.3.2020).

Das im Jahr 2012 verabschiedete Gesetz über Vereinigungen erleichterte auch die Gründung von politischen Parteien (BS 29.4.2020), wofür wie bei anderen Vereinigungen eine Genehmigung des Innenministeriums nötig ist. Politische Parteien auf Basis von Religion, Ethnie, Geschlecht, Sprache oder Region sind verboten. Es gibt jedoch islamistisch ausgerichtete Parteien, v.a. jene der Grünen Allianz (USDOS 11.3.2020). Seit Verabschiedung des Parteigesetzes 2012 nahm die Anzahl der Parteien deutlich zu. Dies führte jedoch auch zu einer Zersplitterung der Opposition (BS 29.4.2020). Oppositionsparteien können sich grundsätzlich ungehindert betätigen, soweit sie zugelassen sind, und haben Zugang zu privaten und – in sehr viel geringerem Umfang – staatlichen Medien. Jedoch haben einzelne Parteien kritisiert, dass ihnen teils die Ausrichtung von Versammlungen erschwert wird und sie Bedrohungen und Einschüchterungen ausgesetzt sind (AA 25.6.2019).

Die CNDH als staatliche Menschenrechtsorganisation (Ombudsstelle) hat eine konsultative und beratende Rolle für die Regierung. Sie veröffentlicht jährlich Berichte zur Menschenrechtslage im Land (USDOS 11.3.2020). Zahlreiche Einzelfälle zeigen, dass die Funktion einer echten Ombudsstelle gegenüber der Verwaltung fehlt (ÖB 11.2019).

Verschiedene nationale Menschenrechtsgruppen operieren und können ihre Ergebnisse publizieren. Sie sind jedoch in unterschiedlichem Ausmaß Einschränkungen durch die Regierung ausgesetzt. Gesetzlich ist es allen zivilen Organisationen vorgeschrieben, sich bei der Regierung zu registrieren. Dennoch operieren einige Organisationen ohne Registrierung und werden seitens der Regierung toleriert (USDOS 11.3.2020).

1.3.7 Todesstrafe

Die Todesstrafe ist für zahlreiche Delikte vorgesehen und wird auch verhängt, doch gibt es in der Praxis ein Moratorium und seit 1993 werden offiziell keine Exekutionen mehr durchgeführt (GIZ 12.2016a; vgl. AI 18.2.2020, AA 25.6.2019).

1.3.8 Bewegungsfreiheit

Die Verfassung garantiert Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung, diese Rechte werden jedoch von der Regierung in der Praxis eingeschränkt (USDOS 11.3.2020). Die meisten Bürger können relativ frei im In- und Ausland reisen (FH 4.3.2020). Die Regierung hält aus Gründen der Sicherheit Reiserestriktionen in die südlichen Bezirke El-Oued und Illizi, in der Nähe von Einrichtungen der Kohlenwasserstoffindustrie sowie der libyschen Grenze, aufrecht. Überlandreisen sind aufgrund von Terrorgefahr zwischen den südlichen Städten Tamanrasset, Djanet und Illizi eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).

Jungen wehrpflichtigen Männern, die ihren Wehrdienst noch nicht abgeleistet haben, wird die Ausreise ohne Sondergenehmigung verweigert (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Sondergenehmigungen erhalten Studenten und Personen in besonderen Familienkonstellationen. Personen, die jünger als 18 Jahre sind, ist es gemäß Familienrecht nicht gestattet, ohne die Erlaubnis einer Aufsichtsperson ins Ausland zu reisen (USDOS 11.3.2020). Verheiratete Frauen, die jünger als 18 Jahre sind, dürfen ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns nicht ins Ausland reisen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Ehefrauen, die älter als 18 Jahre sind, sind Auslandsreisen auch ohne Erlaubnis des Ehemanns gestattet (USDOS 11.3.2020).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden landesweit nächtliche Ausgangssperren verhängt, alle Grenzübertrittsstellen für den Personenverkehr geschlossen sowie der Inlandsflugverkehr eingestellt (USEMB 26.4.2020). Am 13.6.2020 wurde angekündigt, die nächtlichen Ausgangssperren in 19 Provinzen aufzuheben und in den übrigen 29 Provinzen, darunter der Hauptstadt Algier, verkürzt beizubehalten. Die wirtschaftlichen Aktivitäten und der innerstädtische öffentliche Personenverkehr sollen schrittweise wieder aufgenommen werden. Eine mögliche Wiedereröffnung der Grenzen soll im Juli 2020 entschieden werden (National 13.6.2020).

1.3.9 Grundversorgung

Nahezu die gesamten Staatseinkünfte des Landes stammen aus dem Export von Erdöl und Erdgas. Rund 90 Prozent der Grundnahrungsmittel und fast die Gesamtheit der Pharmazeutika und Gebrauchsgüter werden importiert. Eine an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte oder auf Autarkie zielende Industrialisierung hat nicht stattgefunden. Die Staatseinnahmen – und damit die Fähigkeit zur Subventionierung von Grundbedürfnissen (Grundnahrungsmittel, Wohnungsbau, Infrastruktur) – sind seit 2014 aufgrund des sinkenden Öl- und Gaspreises drastisch zurückgegangen (RLS 17.12.2019; vgl. BS 29.4.2020).

Algerien leistet sich aus Gründen der sozialen und politischen Stabilität ein für die Möglichkeiten des Landes aufwendiges Sozialsystem, das aus den Öl- und Gasexporten finanziert wird. Algerien ist eines der wenigen Länder, die in den letzten 20 Jahren eine Reduktion der Armutsquote von 25% auf 5% erreicht hat. Schulbesuch und Gesundheitsfürsorge sind kostenlos. Energie, Wasser und Grundnahrungsmittel werden stark subventioniert. Ein Menschenrecht auf Wohnraum wird anerkannt. Für Bedürftige wird Wohnraum kostenlos zur Verfügung gestellt. Missbräuchliche Verwendung ist häufig (ÖB 11.2019).

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist bislang durch umfassende Importe gewährleistet. Insbesondere im Vorfeld religiöser Feste, wie auch im gesamten Monat Ramadan, kommt es allerdings immer wieder zu substanziellen Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln. Für Grundnahrungsmittel wie Weizenmehl, Zucker und Speiseöl gelten Preisdeckelungen und Steuersenkungen. Im Bereich der Sozialfürsorge kommt, neben geringfügigen staatlichen Transferleistungen, vornehmlich der Familien-, im Süden des Landes auch der Stammesverband, für die Versorgung alter Menschen, Behinderter oder chronisch Kranker auf. In den Großstädten des Nordens existieren „Selbsthilfegruppen“ in Form von Vereinen, die sich um spezielle Einzelfälle (etwa die Einschulung behinderter Kinder) kümmern. Teilweise fördert das Solidaritätsministerium solche Initiativen mit Grundbeträgen (AA 25.6.2019).

Die Arbeitslosigkeit liegt bei 12 bis 17%, die Jugendarbeitslosigkeit (15-24-jährige) bei 30 bis 50% (WKO 10.2019 [jeweils niedrigerer Wert], RLS 17.12.2019 [jeweils höherer Wert]). Das staatliche Arbeitsamt Agence national d’emploi / ANEM (http://www.anem.dz/) bietet Dienste an, es existieren auch private Jobvermittlungsagenturen (z.B. http://www.tancib.com/index.php?page=apropos). Seit Februar 2011 stehen jungen Menschen Starthilfekredite offen, wobei keine Daten darüber vorliegen, ob diese Mittel ausgeschöpft wurden. Die Regierung anerkennt die Problematik der hohen Akademikerarbeitslosigkeit. Grundsätzlich ist anzumerken, dass allen staatlichen Genehmigungen/Unterstützungen eine (nicht immer deklarierte) sicherheitspolitische Überprüfung vorausgeht, und dass Arbeitsplätze oft aufgrund von Interventionen besetzt werden. Der offiziell erfasste Wirtschaftssektor ist von staatlichen Betrieben dominiert (ÖB 11.2019).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie werden an vulnerable Familien in isolierten und vom Lockdown besonders betroffenen Gebieten Lebensmittel und Hygieneprodukte verteilt (Gentilini et al 12.6.2020: 29f).

1.3.10 Medizinische Versorgung

Grundsätzlich ist medizinische Versorgung in Algerien allgemein zugänglich und kostenfrei. Der Standard in öffentlichen Krankenhäusern entspricht nicht europäischem Niveau (ÖB 11.2019; vgl. AA 25.6.2019, BS 29.4.2020) Krankenhäuser, in denen schwierigere Operationen durchgeführt werden können, existieren in jeder größeren Stadt; besser ausgestattete Krankenhäuser gibt es an den medizinischen Fakultäten von Algier, Oran, Annaba und Constantine. Häufig auftretende chronische Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Tuberkulose, Herz- und Kreislaufbeschwerden, Geschlechtskrankheiten und psychische Erkrankungen können auch in anderen staatlichen medizinischen Einrichtungen behandelt werden. AIDS-Patienten werden in sechs Zentren behandelt (AA 25.6.2019).

Grundsätzlich meiden Algerier nach Möglichkeit die Krankenhäuser und bemühen sich, Kranke so schnell wie möglich in häusliche Pflege übernehmen zu können. Oft greift man zu Bestechung, um ein Intensivbett zu bekommen oder zu behalten. Ohne ständige familiäre Betreuung im Krankenhaus ist eine adäquate Pflege nicht gesichert. Die Müttersterblichkeit und Komplikationen bei Geburten sind aufgrund von Nachlässigkeiten in der Geburtshilfe hoch. Mit Frankreich besteht ein Sozialabkommen aus den 1960er-Jahren, das vorsieht, dass komplizierte medizinische Fälle in Frankreich behandelt werden können. Dieses Abkommen ist seit einiger Zeit überlastet. Nicht alle Betroffenen können es in Anspruch nehmen. Auch mit Belgien besteht ein entsprechendes Abkommen (ÖB 11.2019).

Es sind Privatspitäler, v.a. in Algier, entstanden, die nach europäischem Standard bezahlt werden müssen. Der Sicherheitssektor kann auf ein eigenes Netz von Militärspitälern zurückgreifen. Immer wieder wird darauf aufmerksam gemacht, dass sich in Algerien ausgebildete Ärzte in Frankreich und Deutschland niederlassen, was zu einem Ärztemangel in Algerien führt. Die Versorgung im Landesinneren mit fachärztlicher Expertise ist nicht sichergestellt. Augenkrankheiten sind im Süden häufig. Algerien greift für die Versorgung im Landesinneren auf kubanische Ärzte zurück, z.B. die im April 2013 neu eröffnete Augenklinik in Bechar. Tumorpatienten können medizinisch nicht nach westlichem Standard betreut werden. Schwierig ist die Situation von Alzheimer- und Demenzpatienten und von Behinderten (ÖB 11.2019).

Krankenversichert ist nur, wer einer angemeldeten Arbeit nachgeht. Die staatliche medizinische Betreuung in Krankenhäusern steht auch Nichtversicherten beinahe kostenfrei zur Verfügung, allerdings sind Pflege und die Verpflegung nicht sichergestellt, Medikamente werden nicht bereitgestellt, schwierige medizinische Eingriffe sind nicht möglich (ÖB 11.2019).

In der gesetzlichen Sozialversicherung sind Angestellte, Beamte, Arbeiter oder Rentner sowie deren Ehegatten und Kinder bis zum Abschluss der Schul- oder Hochschulausbildung obligatorisch versichert. Die Sozial- und Krankenversicherung ermöglicht grundsätzlich in staatlichen Krankenhäusern eine kostenlose, in privaten Einrichtungen eine kostenrückerstattungsfähige ärztliche Behandlung. Immer häufiger ist jedoch ein Eigenanteil zu übernehmen. Die höheren Kosten bei Behandlung in privaten Kliniken werden nicht oder nur zu geringerem Teil übernommen. Algerier, die nach jahrelanger Abwesenheit aus dem Ausland zurückgeführt werden, sind nicht mehr gesetzlich sozialversichert und müssen daher sämtliche Kosten selbst übernehmen, sofern sie nicht als Kinder oder Ehegatten von Versicherten erneut bei der Versicherung eingeschrieben werden oder selbst einer versicherungspflichtigen Arbeit nachgehen (AA 25.6.2019).

Die COVID-19-Pandemie traf Algerien hart, das öffentliche Gesundheitswesen im Land war nicht annähernd auf eine Krise solchen Ausmaßes vorbereitet (RLS 7.4.2020; vgl. GTAI 15.5.2020). Es gab Berichte von überfüllten Krankenhäusern in Algier und in Blida (GTAI 15.5.2020) und es gab einen Mangel an Ausrüstung und Medikamenten. Im März 2020 wurde Lokalbehörden untersagt, statistische Angaben zu COVID-19-Entwicklungen zu machen und die Öffentlichkeitsarbeit wurde bei den Ministerien in Algier gebündelt (RLS 7.4.2020). Die Regierung hat eilig Maßnahmen gesetzt, um mehr Intensivbetten anzubieten. Präsident Tebboune kündigte Anfang April 2020 an, nach der Pandemie den Gesundheitssektor umzustrukturieren. Mitte Mai war die Zahl der Erkrankten für die Krankenhäuser bewältigbar (GTAI 15.5.2020).

1.3.11 Rückkehr

Die illegale Ausreise, d.h. die Ausreise ohne gültige Papiere bzw. ohne eine Registrierung der Ausreise per Stempel und Ausreisekarte am Grenzposten, ist gesetzlich verboten (Art. 175 bis 1. algerisches Strafgesetzbuch, Gesetz 09-01 vom 25.2.2009, kundgemacht am 8.3.2009) (ÖB 11.2019; vgl. AA 25.6.2019). Das Gesetz sieht ein Strafmaß von zwei bis sechs Monaten und / oder eine Strafe zwischen 20.000 DA bis 60.000 DA vor (ÖB 11.2019)

Rückkehrer, die ohne gültige Papiere das Land verlassen haben, werden mitunter zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Für illegale Bootsflüchtlinge („harraga“) sieht das Gesetz Haftstrafen von drei bis zu fünf Jahren und zusätzliche Geldstrafen vor. In der Praxis werden zumeist Bewährungsstrafen verhängt (AA 25.6.2019).

Eine behördliche Rückkehrhilfe ist ho. nicht bekannt. Ebenso sind der Botschaft keine NGOs bekannt, die Unterstützung leisten. Bekannt ist, dass Familien zurückkehrende Familienmitglieder wieder aufnehmen und unterstützen. Viel bekannter hingegen sind Fälle, in denen Familien Mitglieder mit beträchtlichen Geldmitteln bei der illegalen Ausreise unterstützen. Sollten Rückkehrer auf familiäre Netze zurückgreifen können, würde man annehmen, dass sie diese insbesondere für eine Unterkunft nützen. Die Botschaft kennt auch Fälle von finanzieller Rückkehrhilfe (EUR 1.000-2.000) durch Frankreich, für Personen, die freiwillig aus Frankreich ausgereist sind. Algerien erklärt sich bei Treffen mit div. EU-Staatenvertretern immer wieder dazu bereit, Rückkehrer aufzunehmen, sofern zweifelsfrei feststehe, dass es sich um algerische Staatsangehörige handle. Nachfragen bei EU-Botschaften und Pressemeldungen bestätigen, dass Algerien bei Rückübernahmen kooperiert. Zwischen Algerien und einzelnen EU-Mitgliedsstaaten bestehen bilaterale Rückübernahmeabkommen (ÖB 11.2019).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden am 17.3.2020 alle Luft-, See- und Landgrenzübergänge geschlossen. Über eine mögliche Aufhebung der Sperren soll im Juli 2020 entschieden werden (National 14.6.2020; vgl. USEMB 16.6.2020, IATA 17.4.2020/17.6.2020, Garda 13.6.2020).

Weiters herangezogen werden die gegenständlich relevanten Passagen des

Berichtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand: Juni 2020)

https://www.ecoi.net/en/file/local/2035826/Auswärtiges_Amt%2C_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Demokratischen_Volksrepublik_Algerien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_11.07.2020.pdf

Für mehrere Medikamente und medizinische Geräte (mehr als 350 Artikel laut Dekret von Ende 2015) ist der Import verboten, um die algerische Produktion zu stärken. Obwohl viele Medikamente als lokal produzierte Generika verfügbar sind, kommt es immer noch zu Presseberichten über einen Mangel an bestimmten Medikamenten in den Apotheken, beispielsweise solchen für die Krebsbehandlung.

Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und die medizinische Versorgung sind gewährleistet. Versorgungsengpässe treten vereinzelt bei Medikamenten auf.

2.       Beweiswürdigung:

Der erkennende Einzelrichter des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:

2.1.    Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.2.    Zum Sachverhalt:

Die Feststellungen basieren ebenfalls auf dem unbestrittenen Akteninhalt, den Angaben des BF vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 16.07.2020, im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 25.08.2020 sowie dem Beschwerdeschriftsatz vom 22.09.2020. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), der Grundversorgung (GVS), dem Zentralen Fremdenregister sowie ein Sozialversicherungsdatenauszug wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.

Die Feststellungen zu den Lebensumständen des BF, zur Staatsangehörigkeit, zur Glaubens- und Volksgruppenzugehörigkeit ergeben sich aus den Ausführungen des BF sowohl vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Rahmen der Erstbefragung (Protokoll vom 16.07.2020, AS 9) als auch vor der belangten Behörde im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme (Protokoll vom 25.08.2020, AS 123 f). Da der BF den österreichischen Behörden keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen konnte, steht seine Identität nicht zweifelsfrei fest.

Der Umstand, dass sich der BF seit mindestens 12.03.2015 in Österreich aufhält, ergibt sich aus dem zu diesem Zeitpunkt gestellten Antrag auf internationalen Schutz sowie dem unstrittigen Akteninhalt. Dass der BF im Zeitraum von April 2016 bis Februar 2018 in Italien aufhältig gewesen ist, ergibt sich aus den entsprechenden Angaben des BF im Rahmen seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Protokoll vom 16.07.2020) und sind diese auch mit den Ausführungen vor der belangten Behörde in Einklang zu bringen (Protokoll vom 25.08.2020, AS 123). Hinsichtlich der melderechtlichen Erfassung im Bundesgebiet gilt es, auf den Auszug aus dem Zentralen Melderegister zur Person des BF zu verweisen. Aus dem Auszug aus dem Zentralen Melderegister lässt sich auch die aufsummierte Aufenthaltsdauer des BF in Anhaltezentren und Justizanstalten entnehmen, ebenso der Umstand, dass sich der BF seit 12.07.2020 in der Justizanstalt XXXX befindet.

Dass sich der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet seit 28.11.2016 als rechtswidrig gestaltet, ergibt sich aus dem zu diesem Zeitpunkt rechtskräftig gewordenen Bescheid der belangten Behörde, wobei dieser Umstand auch aus einem Auszug aus dem Zentralen Fremdenregister zur Person des BF hervorgeht. Daraus ergibt sich auch das über den BF verhängte Einreiseverbot.

Hinsichtlich des Gesundheitszustandes und der Arbeitsfähigkeit des BF gilt es, auf dessen Angaben im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde zu verweisen, vor der er ausführte, gesund und arbeitsfähig zu sein (Protokoll vom 25.08.2020, AS 125 f). Im Zuge der Beschwerde wurde hinsichtlich des Gesundheitszustandes des BF vorgebracht, dass dieser aufgrund einer Explosion an einer Verformung des Schädelknochens leide und Medikamente (Lurika) einnehmen müsse. Dass der BF tatsächlich an einer Verformung des Schädelknochens leidet, wird auf einem Lichtbild des BF ersichtlich (AS 91). Zumal jedoch kein ärztliches Attest vorgelegt wurde, der BF selbst anführte, gesund zu sein und selbst für den Fall, dass eine Medikamenteneinnahme zwingend notwendig ist, die Behandlung des BF medikamentös sichergestellt werden kann, ist von keiner lebensbedrohlichen Erkrankung auszugehen. Die Beschwerde vermag hinsichtlich einer Beeinflussung der Arbeitsfähigkeit durch die Einnahme der Medikamente auch keine Entscheidungsrelevanz zu entfalten, zumal es dem BF entsprechend seiner eigenen Ausführungen auch möglich gewesen ist, den Malerberuf zu erlernen und Berufserfahrung als Maler in Italien und Österreich zu sammeln. Darüber hinaus führte der BF sogar explizit vor der belangten Behörde aus, er sei arbeitsfähig und antwortete auf die Frage, welchen Beruf er gerne ausüben würde, dass er als Reinigungskraft, aber auch als Maler arbeiten würde (Protokoll vom 25.08.2020, AS 127). Aus dem vorliegenden Verwaltungsakt ergeben sich sonst keine Hinweise darauf, welche auf eine lebensbedrohliche Erkrankung des BF bzw. eine mangelnde Arbeitsfähigkeit desselben schließen ließen.

Dass der BF über keinen Sozialversicherungsschutz verfügt, ergibt sich aus dem Sozialversicherungsdatenauszug zur Person des BF. Letztmalig sozialversichert war der BF entsprechend diesem im Zeitraum vom 12.03.2015 bis 18.03.2015 als Asylwerber.

Hinsichtlich der Verurteilungen gilt es, auf den aktuellen Strafregisterauszug des BF zu verweisen, welcher diese ersichtlich macht.

Die Anklageerhebung wegen § 15 StGB §§ 201 (1), 201 (2) 4. Fall StGB § 107 (1) StGB seitens der Staatsanwaltschaft Graz wurde dem Bundesverwaltungsgericht mit E-Mail vom 29.09.2020 übermittelt. Dass der BF auch in Italien zweimal wegen Diebstahls inhaftiert wurde, ergibt sich aus den diesbezüglichen Ausführungen des BF vor der belangten Behörde (Protokoll vom 25.08.2020, AS 123).

Der Umstand, dass keine Familienangehörigen des BF in Österreich leben und auch zu keinen in Österreich lebenden Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, ergibt sich aus den Angaben des BF vor der belangten Behörde (Protokoll vom 25.08.2020, AS 125). Zwar brachte der BF vor, er habe in Österreich Freunde (Erstbefragungsprotokoll vom 16.07.2020), jedoch gereicht ein bloßes Vorbringen bzw. Vorhandensein solcher nicht den Anforderungen an ein schützenswertes Privatleben und Familienleben im Sinne der EMRK, sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die erforderliche Intensität, zumal der BF für die Dauer von etwa einem Jahr und zehn Monaten in Italien aufhältig war und er auch nach seiner Rückkehr im Februar 2018 bis dato etwa 10,5 Monate in Anhaltezentren und Justizanstalten verbracht hat, was der Entwicklung eines maßgeblichen Privatlebens nicht dienlich erscheint, sondern vielmehr dem entgegensteht. Darüber hinaus brachte der BF auch im Zuge seiner Beschwerde etwaige maßgeblichen privaten Kontakte nicht vor.

Dass der BF Sprachkenntnisse in Arabisch und Italienisch aufweist, geht sowohl aus den Ausführungen des BF vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Zuge der Erstbefragung (Protokoll vom 16.07.2020, AS 10) als auch jenen vor der belangten Behörde hervor (Protokoll vom 25.08.2020, AS125). Hingegen konnten Sprachkenntnisse in der französischen Sprache – entgegen den Feststellungen der belangten Behörde – nicht festgestellt werden, zumal der BF solche weder im Zuge der Erstbefragung noch der niederschriftlichen Einvernahme behauptet hat. Zwar führte der BF an, in Frankreich aufgezogen worden zu sein, jedoch sei dies von einem Scheich in einer Moschee erfolgt, welcher ihm nur das Lesen in Arabisch beigebracht habe (Protokoll vom 25.08.2020, AS 123 f). Allein mit einem Aufenthalt in Frankreich muss nicht zwangsläufig das Erlernen der französischen Sprache einhergehen.

Zumal im Zuge der Erstbefragung lediglich schlechte Deutschkenntnisse festgestellt werden konnten (Protokoll vom 16.07.2020, AS 10), der BF keine Urkunden zu Kenntnissen der deutschen Sprache vorgelegt hat und er auf einen Dolmetscher sowohl in der Erstbefragung als auch der niederschriftlichen Einvernahme angewiesen war, er bisher entsprechend seinem Sozialversicherungsdatenauszug im Bundesgebiet keiner Beschäftigung nachgegangen ist und der BF auch sonst keinerlei Urkunden hinsichtlich einer etwaigen Integration vorgelegt hat, war die Feststellung zu seiner fehlenden Integration in Bezug auf Österreich zu treffen.

2.3.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Von einem Antragsteller ist ein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Einem Asylwerber obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen und Verhältnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Asylanspruch lückenlos zu tragen und hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Die Behörde bzw. das Gericht muss somit die Überzeugung von der Wahrheit des von einem Asylwerber behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor asylrelevanter Verfolgung herleitet. Es kann zwar durchaus dem Asylwerber nicht die Pflicht auferlegt werden, dass dieser hinsichtlich asylbegründeter Vorgänge einen Sachvortrag zu Protokoll geben muss, der auf Grund unumstößlicher Gewissheit als der Wirklichkeit entsprechend gewertet werden muss, die Verantwortung eines Antragstellers muss jedoch darin bestehen, dass er bei tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit die Ereignisse schildert.

Im Zuge seiner Folgeantragstellung am 16.07.2020 brachte der BF bei seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes vor, er wolle in Österreich bleiben. Hier werde ihm geholfen und die Menschen seien so freundlich. Er habe hier Freunde und fühle sich in Österreich wohl. In einem arabischen Land laufe alles falsch, man verhungere in Algerien und die Regierung sitze mittlerweile in Haft. Das algerische Konsulat habe ihm mitgeteilt, dass es keine Beweise dafür gebe, dass er Algerier sei, weswegen er nicht dorthin zurückkehren könne. In Algerien könne man sich nicht bewegen. Tue man es doch, sterbe man. Alle Menschen würden aus Algerien nach Spanien fliehen.

Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme am 25.08.2020 führte der BF befragt nach seinen Fluchtgründen aus, er habe keine Fluchtgründe in Bezug auf Algerien. Er kenne Algerien nicht, da er das Land bereits im Alter von vier Jahren verlassen habe. Der BF wisse nicht, wohin er dort gehen und was er dort machen solle. Noch heute würden Leute Algerien verlassen und im Meer ertrinken, weil das Leben dort nicht auszuhalten wäre. In Algerien habe er nichts, er sei in Europa groß geworden und Europäer. In Algerien habe er Angst, zu verhungern.

Der BF brachte somit weder im Rahmen der Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes noch im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde ein asylrelevantes Fluchtvorbringen vor. Er war zu keinem Zeitpunkt einer persönlichen Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung in Algerien ausgesetzt.

2.4.    Zum Herkunftsstaat:

Zu den zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat ausgewählten Quellen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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