TE Vfgh Erkenntnis 2020/2/24 E3429/2019

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Veröffentlicht am 24.02.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
EU-Grundrechte-Charta Art47 Abs2
AsylG §3, §8, §10, §57
FPG §46, §52, §55
BFA-VG §21 Abs7
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung und im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf Grund Abweisung des Antrags eines türkischen Staatsangehörigen auf internationalen Schutz; keine hinreichende Beweiswürdigung durch Verweis auf die verwaltungsbehördliche Begründung und mangelhafte Erwägungen betreffend die Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) und im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.       Der Beschwerdeführer ist ein am 9. Oktober 1982 geborener Staatsangehöriger der Türkei und gehört der Volksgruppe der Kurden an. Bis zu seiner Ausreise lebte er in der Stadt Mersin. Am 22. Juli 2018 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend führte der Beschwerdeführer zu diesem Antrag im Wesentlichen aus, dass er in der Türkei verfolgt werde, weil er Kurde sei und sich auch entsprechend politisch engagiert habe. Er sei deshalb bereits zu Haftstrafen verurteilt worden und habe mehrere Jahre im Gefängnis verbracht, wo er Opfer von Folter und unmenschlicher Behandlung geworden sei. Derzeit laufe erneut ein Strafverfahren gegen ihn, indem er zu Unrecht beschuldigt werde, ein kurdischer Terrorist zu sein. Es drohe ihm eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren, weshalb sein Anwalt in der Türkei ihm zur Flucht geraten habe.

2.       Mit Bescheid vom 18. Jänner 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß §46 FPG zulässig sei. Gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3.       Die gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 19. August 2019 als unbegründet ab. Nach einer wörtlichen Wiedergabe der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, der Sachverhaltsfeststellungen und der Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass in der Beschwerde die Beweiswürdigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nicht substantiiert bekämpft worden sei. Deshalb sei das Bundesverwaltungsgericht nicht veranlasst gewesen, das Ermittlungsverfahren zu wiederholen bzw zu ergänzen. Der schlüssigen Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides sei zu folgen. Demnach sei das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers widersprüchlich und daher als unglaubwürdig zu qualifizieren.

4.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwingend geboten gewesen wäre. Die Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens könne nicht allein auf Grund des Akteninhaltes beurteilt werden. Zudem habe das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung kaum begründet.

5.       Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II.      Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2.       Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsbestimmung enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3.       Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1.    Das Bundesverwaltungsgericht gibt in seinem Erkenntnis die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die Sachverhaltsfeststellungen und die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides wörtlich wieder. Die im Bescheid getroffenen Länderfeststellungen, welche auf dem Länderinformationsblatt zur Lage in der Türkei mit Stand 18. Oktober 2018 basieren, werden im Erkenntnis gerafft auf einer Seite wiedergegeben. Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich ausdrücklich den getroffenen Feststellungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl an. Ebenso folgt es dessen Beweiswürdigung, welche "im Wesentlichen im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze in sich schlüssig und stimmig" sei. Demnach seien die Schilderungen des Beschwerdeführers widersprüchlich und somit unglaubwürdig.

3.2.    Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich in seinem Erkenntnis zur Gänze auf die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die Sachverhaltsfeststellungen und die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides. Es trifft weder eigene (aktuelle) Feststellungen im Hinblick auf die Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers noch führt es eine mündliche Verhandlung durch, auf Basis deren es eigene Feststellungen bzw eine entsprechende Beweiswürdigung vornehmen hätte können.

3.3.    Den in Erwiderung auf die Beschwerde ergänzend aufgenommenen Ausführungen zur Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers kommt angesichts der mangelhaften Argumentation kein Begründungswert zu.

3.3.1.  So erscheinen etwa die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes hinsichtlich der vom Beschwerdeführer vorgelegten Urteile türkischer Strafgerichte vom 18. Mai 2009 und vom 9. März 2017, von denen deutsche Übersetzungen erstellt wurden, nicht nachvollziehbar. Das Bundesverwaltungsgericht zieht den Inhalt dieser Dokumente heran, um darzulegen, dass die "Behauptung in der Beschwerde, wonach die bP wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden bzw wegen ihrer oppositionellen politischen Gesinnung in der Türkei von staatlicher Seite persönlich verfolgt wird, […] aktenwidrig" sei. Die Genfer Flüchtlingskonvention habe nicht zum Ziel, Personen vor gerechtfertigter Strafverfolgung zu schützen. Es könne laut Bundesverwaltungsgericht auch nicht erkannt werden, dass die ausgesprochene Strafe zu hoch wäre.

Den vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumenten sind jedoch strafgerichtliche Verurteilungen wegen Mitgliedschaft bei der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) sowie wegen Teilnahme an Protestaktionen im Zuge des Aufgriffes von Abdullah Öcalan zu entnehmen. Es erscheint daher gerade auf Basis dieser Dokumente nicht von vorneherein unglaubwürdig, dass der Beschwerdeführer auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden bzw seiner politischen Gesinnung in der Türkei verfolgt werde.

3.3.2.  Zur Befürchtung des Beschwerdeführers, bei einer Rückkehr erneut inhaftiert und gefoltert zu werden, hält das Bundesverwaltungsgericht lediglich fest, dass sich dies in den Länderfeststellungen nicht widerspiegle.

In der gerafften Wiedergabe der im Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl getroffenen Länderfeststellungen führt das Bundesverwaltungsgericht allerdings Folgendes aus:

"In amtlichen Haftanstalten kommt es immer wieder zu Folter und andere[n] Formen der Misshandlung. Davon betroffen sind insbesondere Personen, die unter dem Anti-Terror-Gesetz festgehalten werden. Folter bleibt in vielen Fällen straflos – wenngleich es ebenso Fälle gibt, in welchen Anklage erhoben und Verurteilungen erfolgen. Aus der Berichtslage ergibt sich jedoch nicht, dass nur Kurden von Misshandlungen betroffen sind."

3.4.    Die Begründung der angefochtenen Entscheidung erweist sich – insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Bundesverwaltungsgericht keine mündliche Verhandlung durchgeführt hat – als unzureichend und nicht nachvollziehbar. Letztlich läuft die vom Bundesverwaltungsgericht gewählte Begründungstechnik, einerseits ausschließlich auf die verwaltungsbehördliche Begründung zu verweisen und andererseits der Beschwerde fehlende Substanz zu unterstellen, auf eine bloße Plausibilitätskontrolle hinaus. Dies entspricht nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung von Entscheidungen eines (insoweit erstinstanzlich entscheidenden) Gerichtes. Das angefochtene Erkenntnis ist daher insgesamt mit Willkür belastet (vgl VfSlg 18.614/2008; 18.861/2009; 7.3.2017, E2100/2016; VfGH 9.6.2017, E3235/2016; 11.6.2019, E39/2019; 3.10.2019, E1533/2019).

4.       Für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt §21 Abs7 BFA-VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art47 Abs2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl VfSlg 19.632/2012).

Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung, wenn diese zur Gewährleistung einer den Anforderungen des Art47 Abs2 GRC an ein faires Verfahren entsprechenden Entscheidung des erkennenden Gerichtes geboten ist, stellt aber eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 GRC dar (VfGH 13.3.2013, U1175/12 ua; 26.6.2013, U1257/2012; 22.9.2014, U2529/2013; 26.11.2018, E4221/2017).

5.       Eine solche Verletzung von Art47 Abs2 GRC liegt aus folgenden Gründen vor:

5.1.    Hinsichtlich der Beurteilung der mangelnden Glaubhaftmachung des Fluchtvorbringens stützt sich das Bundesverwaltungsgericht ausschließlich auf die Feststellungen bzw Ausführungen des angefochtenen Bescheides. Eine mündliche Verhandlung zur Prüfung der Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers hat das Bundesverwaltungsgericht nicht durchgeführt. Dies wäre aber insbesondere vor dem Hintergrund der Begründung der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens im angefochtenen Bescheid, die im Wesentlichen auf Widersprüche zwischen Erstbefragung und den weiteren Einvernahmen des Beschwerdeführers abstellt, geboten gewesen (vgl VfGH 10.6.2016, E2108/2015; 26.11.2018, E4221/2017).

5.2.    Die Akten haben erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung des Sachverhaltes im vorliegenden Fall erwarten ließe. Das Bundesverwaltungsgericht hätte nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Der Beschwerdeführer ist daher in seinem Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 GRC verletzt worden (vgl VfGH 23.2.2015, E155/2014; 10.6.2016, E2108/2015; 24.11.2016, E1079/2016; 13.3.2019, E4744/2018; 23.9.2019, E1494/2019).

III.    Ergebnis

1.       Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des internationalen Abkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung und im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Verhandlung mündliche, Rückkehrentscheidung, EU-Recht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E3429.2019

Zuletzt aktualisiert am

12.03.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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