TE Vwgh Erkenntnis 2019/9/24 Ra 2017/06/0091

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Veröffentlicht am 24.09.2019
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

MRK Art6
VStG §51e
VStG §51e Abs3
VStG §51e Abs3 Z1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §44
VwGVG 2014 §44 Abs3 Z1
VwGVG 2014 §44 Abs4
VwGVG 2014 §44 Abs5

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Mag. Haunold als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des G K in S, vertreten durch Mag. Bernhard Hofer in 1010 Wien, Rotenturmstraße 12/6, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 27. Februar 2017, VGW- 031/005/2101/2017-2, betreffend Übertretung des Bundesstraßen-Mautgesetzes 2002 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:

Magistrat der Stadt Wien, Magistratisches Bezirksamt für den 4./5. Bezirk), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien (im Folgenden: Verwaltungsgericht) vom 27. Februar 2017 wurde die Beschwerde des Revisionswerbers gegen das Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien, Magistratisches Bezirksamt für den 4./5. Bezirk (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht), vom 29. Dezember 2016, mit dem über den Revisionswerber wegen einer Übertretung des § 20 Abs. 1 in Verbindung mit § 10 Abs. 1 und § 11 Abs. 1 Bundesstraßen-Mautgesetz 2002 (BMStG) eine Geldstrafe in der Höhe von EUR 300,-- verhängt worden war, abgewiesen. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für unzulässig erklärt.

2 Dem Revisionswerber wurde vorgeworfen, am 6. August 2016 in einem näher genannten Mautabschnitt der A 21 (Wiener Außenring Autobahn) als Lenker eines auf ihn zugelassenen Kraftfahrzeuges die mautpflichtige Bundesstraße A 21 benützt zu haben, ohne die nach § 10 BMStG geschuldete zeitabhängige Maut ordnungsgemäß, d. h. durch Anbringen einer gültigen Mautvignette am Fahrzeug, entrichtet zu haben. Die auf der Windschutzscheibe des Fahrzeuges angebrachte 10-Tages-Vignette aus dem Jahr 2016 sei nicht ordnungsgemäß entsprechend den Bestimmungen der Mautordnung für die Autobahnen und Schnellstraßen Österreichs angebracht gewesen, weil die Trägerfolie nicht vollständig von der Vignette abgelöst gewesen sei.

3 Das Verwaltungsgericht stützte seine Feststellungen einerseits auf die Anzeige der ASFINAG, der auch zwei Fotos angeschlossen gewesen seien, auf denen sich das "X" der Trägerfolie erkennen lasse, und andererseits auf die eigenen Angaben des Revisionswerbers, wonach er selbst lediglich den oberen Teil der Vignette durch Abziehen der Folie an der Scheibe angebracht und sich am unteren Abschnitt der Vignette noch die Trägerfolie befunden habe. Auch sei auf den der Anzeige beigeschlossenen Lichtbildern deutlich zu sehen, dass die Vignette nicht von der Trägerfolie abgelöst sei, sei doch ein schwarzes "X" am rechten Rand der Vignette zu sehen, welche in Größe und Verlauf dem schwarzen "X" entspreche, welches auf Vignettenträgerfolien zu sehen sei. Dadurch habe der Revisionswerber die Vignette nicht vollständig von der Trägerfolie abgelöst und auf die Windschutzscheibe geklebt, sondern nur den oberen Teil angeklebt. 4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts und Rechtswidrigkeit wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften.

5 Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Zurückweisung bzw. Abweisung der Revision beantragt.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Zu ihrer Zulässigkeit wird in der Revision vorgebracht, das Verwaltungsgericht habe - ohne dies zu begründen - von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes könne die Rechtsprechung zu § 51e VStG auch auf § 44 VwGVG umgelegt werden. Der Revisionswerber habe in seiner Beschwerde die ihm zur Last gelegte Übertretung bestritten und ausdrücklich ausgeführt, dass die verklebte Vignette gültig gewesen und noch vorhanden sei, auch wenn der untere Abschnitt noch daran gehangen sei. Die Vignette sei auch an der Scheibe richtig positioniert gewesen. Es sei der obere Teil der Vignette durch Abziehen der Folie an der Scheibe angebracht gewesen, der untere Teil der Vignette sei am oberen Teil der Vignette zum Beweis dafür angeheftet gewesen, dass keine Mautprellerei begangen worden sei. Ausdrücklich angeführt worden sei, dass das im Straferkenntnis beanstandete "X" nicht auf der oberen Folie sichtbar sei, sondern frei unterhalb an der unteren Folie dranhänge, und dass die Gültigkeit der Vignette seitens der ASFINAG telefonisch bestätigt worden sei. Daraus - ebenso wie aus den Lichtbildern, auf die sich der im Verfahren unvertretene Revisionswerber mit diesen Ausführungen erkennbar bezogen habe - ergebe sich, dass der Revisionswerber mit dem "oberen Teil der Vignette" die Vignette selbst gemeint und mit dem "unteren Teil der Vignette" den "Anhang" der Vignette bezeichnet habe, der am "oberen Teil der Vignette" (an der Vignette selbst) zum Beweis dafür angeheftet gewesen sei, dass keine Mautprellerei begangen worden sei.

8 Der Revisionswerber habe damit eine konkrete Gegendarstellung abgegeben. Das Verwaltungsgericht hätte daher nicht ohne jegliche Begründung von einer mündlichen Verhandlung Abstand nehmen dürfen. Es habe sich in Widerspruch zur Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesetzt, wonach selbst dann, wenn der Beschuldigte keinen entsprechenden Antrag gestellt habe (und auch wenn eine EUR 500,-- übersteigende Geldstrafe nicht verhängt worden sei), das der Behörde diesbezüglich eingeräumte "Ermessen" nicht zum Tragen komme, wenn der Beschuldigte eine konkrete Gegendarstellung abgegeben habe, und daher eine mündliche Verhandlung durchzuführen sei.

9 Die Revision ist zulässig, weil das LVwG mangels Durchführung einer mündlichen Verhandlung von der hg. Rechtsprechung abgewichen ist. Sie erweist sich auch als berechtigt.

10 Gemäß § 44 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. In den Abs. 2 bis 5 leg. cit. finden sich zulässige Ausnahmen von der Verhandlungspflicht. Ein Absehen von der Verhandlung wäre nach dieser Bestimmung zu beurteilen und zu begründen gewesen (VwGH 15.12.2014, Ro 2014/17/0120; 27.4.2016, Ro 2015/17/0030, mwN).

11 Eine Begründung für das Absehen von einer Verhandlung findet sich im angefochtenen Erkenntnis nicht. Da das Verwaltungsgericht mit Erkenntnis entschieden hat, kommt ein Absehen nach § 44 Abs. 4 VwGVG (das voraussetzt, dass das Verwaltungsgericht einen Beschluss zu fassen hat) nicht in Betracht (VwGH 20.4.2016, Ra 2015/04/0016, mwN). Ein ausdrücklicher Verzicht auf die Durchführung einer Verhandlung (im Sinn des § 44 Abs. 5 VwGVG) wurde nicht festgestellt. 12 Auch der das Absehen von einer Verhandlung ermöglichende Tatbestand des § 44 Abs. 3 Z 1 VwGVG liegt nicht vor. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann die bisherige Rechtsprechung zu § 51e VStG (in der Fassung vor BGBl. I Nr. 33/2013) auf § 44 VwGVG übertragen werden. Zu § 51e Abs. 3 Z 1 VStG hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass ein Beschuldigter, der in der Berufung die Begehung der Tat bestreitet, nicht nur eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet (vgl. zum Ganzen erneut VwGH 20.4.2016, Ra 2015/04/0016, mwN). Im vorliegenden Fall hat der Revisionswerber in seiner Beschwerde gegen das Straferkenntnis die Begehung der ihm vorgeworfenen Verwaltungsübertretung bestritten und im Ergebnis die Beweiswürdigung gerügt. Damit lag die Voraussetzung des § 44 Abs. 3 Z 1 VwGVG für ein Absehen von einer Verhandlung nicht vor. 13 Der Tatbestand des § 44 Abs. 3 Z 3 VwGVG (die weiteren Tatbestände dieser Bestimmung kommen fallbezogen nicht in Betracht) setzt voraus, dass eine EUR 500,-- nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde und - dies gilt für alle Tatbestände dieser Bestimmung - keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat.

14 Im vorliegenden Fall wurde eine Geldstrafe von EUR 300,-- verhängt. Einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hatte der im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht unvertretene, jedoch in der Rechtsmittelbelehrung des Straferkenntnisses vom 29. Dezember 2016 ausdrücklich belehrte Revisionswerber nicht gestellt. 15 Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes wäre es allerdings verfassungswidrig, allein aufgrund der Höhe der angefochtenen Geldstrafe (weniger als EUR 500,--) ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Bestimmung räumt Ermessen ein und lässt damit eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall zu. Soweit es Art. 6 EMRK gebietet, ist eine mündliche Verhandlung jedenfalls durchzuführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben (vgl. VfSlg. 16.894/2003; VfSlg. 17.375/2004, zu § 51e Abs. 3 VStG).

16 § 44 VwGVG ist verfassungskonform dahingehend zu verstehen, dass er ein Absehen von der mündlichen Verhandlung erlaubt, wenn auch nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK von einem konkludenten Verzicht auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung auszugehen ist. Der Ausschluss der Annahme eines konkludenten Verzichts ist jedoch nicht schon bei jeder Gegenbehauptung anzunehmen, sondern nur dann, wenn die Gegendarstellung verfahrensrelevante Umstände, also den vorgeworfenen Tatbestand betrifft (vgl. dazu EGMR 23.11.2006, 73053/01, Jussila, mwN, in dem der EGMR in einem Verwaltungsstrafverfahren, in dem sich Fragen tatsächlicher Natur stellten, der Beschuldigte es aber verabsäumte, in seinem Rechtsmittel die Tat substantiiert zu bestreiten, keine Konventionsverletzung feststellte; vgl. weiters EGMR 27.3.2012, 10390/09, Bozo Berdajs; vgl. in diesem Zusammenhang auch EGMR 10.7.2014, 40820/12, Marcan; sh. auch VfSlg. 18.721/2009;

vgl. ferner VwGH 3.10.2008, 2005/10/0129 sowie die keine Verwaltungsstrafverfahren betreffenden Erkenntnisse VwGH 25.9.2017, Ra 2016/08/0127; 19.12.2017, Ra 2017/09/0003;

29.1.2019, Ra 2018/08/0238).

17 Eine Fallkonstellation, die die Annahme eines konkludenten Verzichts auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung rechtfertigte, liegt gegenständlich jedoch nicht vor:

18 Das Verwaltungsgericht stützte im angefochtenen Erkenntnis seine Feststellung, wonach die Trägerfolie nicht vollständig von der Vignette abgelöst gewesen (und dadurch der dem Revisionswerber vorgeworfene Verwaltungsstraftatbestand verwirklicht worden) sei, auf näher genannte Fotos, auf denen sich das "X" der Trägerfolie erkennen lasse, sowie auf Angaben des Revisionswerbers, wonach er selbst lediglich den oberen Teil der Vignette durch Abziehen der Folie an der Scheibe angebracht und sich am unteren Abschnitt der Vignette noch die Trägerfolie befunden habe.

19 Der Revisionswerber hatte in seiner Beschwerde zur aufgeklebten Vignette ausgeführt, dass "der untere Abschnitt noch daran hing". Dies könnte für sich allein auf den ersten Blick für die vom Verwaltungsgericht getroffene Annahme einer nicht vollständigen Ablösung der Vignette von der Trägerfolie sprechen. Allerdings hatte der Revisionswerber auch vorgebracht, dass der "obere Teil der Vignette" durch Abziehen der Folie an der Scheibe angebracht und der "untere Teil der Vignette" am "oberen Teil der Vignette angeheftet" gewesen sei. Die Darstellung in der Revision, dass mit der Wortfolge "obere Teil der Vignette" die Vignette selbst und mit der Wortfolge "untere Teil der Vignette" der "Anhang" der Vignette bezeichnet worden sei, kann aber nicht von Vornherein als unzutreffend beurteilt werden.

20 Darüber hinaus hatte der Revisionswerber in der Beschwerde zur Erkennbarkeit des "X" der Trägerfolie auf den der Anzeige angeschlossenen Fotos dargelegt, dass das beanstandete "X" nicht auf der "oberen Folie" sichtbar sei, sondern es "hängt Frei unterhalb an der unteren Folie daran". Folgte man diesem Vorbringen und der beschriebenen Erklärung der oben zitierten Wortfolgen, könnten sich aber möglicherweise die aus der Erkennbarkeit des "X" auf den Fotos gezogenen Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts als unzutreffend erweisen.

21 Ein eindeutiger Sachverhalt (im Sinne einer nicht vollständigen Ablösung der auf die Windschutzscheibe geklebten Vignette von der Trägerfolie), wie ihn das Verwaltungsgericht implizit annahm, lag daher aufgrund des - allenfalls als mehrdeutig zu beurteilenden - Beschwerdevorbringens nicht vor. 22 Der Revisionswerber hatte in seiner Beschwerde den Sachverhalt somit in einem die Bestrafung - möglicherweise - verhindernden Umfang bestritten (vgl. VwGH 10.9.2004, 2004/02/0130) und eine konkrete, sachverhaltsbezogen verfahrensrelevante Gegendarstellung abgegeben, deren Inhalt jedenfalls aufzuklären war. Das Verwaltungsgericht hätte daher nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Abgesehen davon hat es - wie bereits dargelegt - diese Vorgangsweise auch nicht begründet.

23 Bereits aus den genannten Gründen war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auszuheben, weshalb auf das weitere Revisionsvorbringen nicht mehr einzugehen war.

24 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 in der Fassung BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am 24. September 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2017060091.L00

Im RIS seit

05.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

05.02.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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