TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/19 W226 2221213-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.09.2019
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Entscheidungsdatum

19.09.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3
FPG §55

Spruch

W226 2221213-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA:

Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.06.2019, Zl. 1032348806-190458432, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 und 2 und Abs. 4 und § 8 Abs. 1 Z 2, §§ 10 Abs. 1 Z 4, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, §§ 46, 52, 53 Abs. 1 iVm Abs. 3, 55 FPG mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbotes mit 6 Jahren befristet wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG), nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.) Der zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige, zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt volljährige Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, stellte durch seine gesetzliche Vertretung am 31.05.2003 einen Asylerstreckungsantrag.

Nachdem dem gesetzlichen Vertreter des Beschwerdeführers (Vater) der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wurde und die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur Kernfamilie festgestellt wurde, ist der Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.06.2004 mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 29.11.2006, Zl. 250.786/0-III/09/04 stattgegeben und dem Beschwerdeführer Asyl in Österreich durch Erstreckung gewährt worden. Gemäß § 12 AsylG 1997 wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Dieser Entscheidung lag zu Grunde, dass der Vater des BF in den Jahren XXXX und XXXX wegen des Verdachts, den Widerstand finanziell unterstützt zu haben, misshandelt wurde. Auch im Jahr XXXX wurde der Vater des BF bei einem Grenzübertritt Tschetschenien/Inguschetien geschlagen und sein Haus später zerstört.

Im Zuge des bisherigen Aufenthaltes in Österreich wurde der Beschwerdeführer wegen folgender Strafdelikte rechtskräftig verurteilt:

* LG für Strafsachen XXXX , GZ XXXX vom XXXX wegen §§ 142 (1), 143

1. Fall, 143 2. Fall 15 StGB, 6 Monate bedingt (Jugendstraftat);

* Landesgericht für Strafsachen XXXX , GZ. XXXX , vom XXXX wegen §§ 142, 143 (1) 2. Satz StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 3 Jahren (Junger Erwachsener).

Die belangte Behörde ließ sich in weiterer Folge sämtliche Strafurteile betreffend den BF übermitteln und nahm darüber hinaus Einsicht in die Entscheidung, die zur Gewährung von Asyl geführt hatte.

Auf Grund der Verurteilungen leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl das gegenständliche Aberkennungsverfahren ein, der BF wurde am 15.05.2019 im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen.

Der Beschwerdeführer führte aus, dass seine Muttersprache Tschetschenisch sei. Außerdem spreche er Serbisch, Türkisch, Englisch, Russisch und Deutsch, er würde die Einvernahme gerne auf Deutsch machen.

Der BF führte weiters aus gesund zu sein, er nehme keine Medikamente ein und könnte jeder Zeit arbeiten.

Zum Lebenslauf befragt führte der BF aus, dass er glaublich 2005 nach Österreich gekommen sei, habe hier Volksschule und Hauptschule sowie ein Jahr das Polytechnikum besucht. Er habe mehrere Lehren angefangen, aber keine abgeschlossen. Vor seiner Inhaftierung habe er eine Firma aufmachen und Gewand verkaufen wollen.

Auf die Frage nach Angehörigen im Heimatland führte der BF aus, dass er das nicht genau wüsste, er habe "sicher ein bis zwei Cousins oder so". Auch Onkel, Tanten und andere Cousins würde er "bestimmt welche haben". Vielleicht habe seine Mutter mit ihren Geschwistern Kontakt.

Er selbst habe Asylstatus erhalten, weil er "aus dem Krieg geflohen sei, damit er hier etwas Neues anfangen könne". Im Heimatland habe er niemanden mehr, kein Haus, keine Wohnung und keinen Kontakt zu irgendwem. Er wisse nicht, ob er dort eingesperrt werde, er habe gehört, dass "Rückkehrer dort eingesperrt oder gefoltert würden". Auf die Frage, welche konkreten Befürchtungen er für eine Rückkehr in einen anderen Teil des Heimatlandes habe, vermeinte der BF wie folgt: "Da müsste ich ganz von vorne anfangen. Ich habe dort nichts und niemanden. Hier habe ich meine zwei Brüder und meine Eltern, eine Wohnung."

Sonst habe er nichts mehr hinzuzufügen, er habe eine Lehre angefangen, aber nicht beendet, er sei außerdem in der Fahrschule gewesen, bevor er in Haft gekommen sei. In Österreich habe er seine Eltern, zudem zwei Brüder, ein Bruder sei in Österreich geboren. Er sitze derzeit wegen Raubes in Haft, aus Spaß sei Ernst geworden. Er habe sich eingeraucht und dann sei es dazu gekommen. In der Haft werde er von seinen Verwandten besucht.

Nach Vorhalt allgemeiner Länderberichte und nach Vorhalt, dass eine reale Gefahr für das Leben und die Gesundheit nicht feststellbar sei, dem BF zudem zumutbar sei, sich selbst unter durchaus schweren Bedingungen am Arbeitsmarkt nach einer Beschäftigung im Herkunftsstaat umzusehen, führte der BF aus wie folgt: "Ich hoffe nicht, dass ich abgeschoben werde. Ich bin hier aufgewachsen, habe mein Leben hier verbracht." Er habe alles hier, Freunde und Familie.

Die belangte Behörde nahm Einblick in das AJ-WEB-Auskunftsverfahren, woraus sich ergibt, dass der BF seit Jahren ausschließlich von Arbeitslosengeldbezug/bedarfsorientierter Mindessicherung lebt.

2.) Mit dem angefochtenen Bescheid vom 05.06.2019 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den mit Bescheid des UBAS vom 29.11.2006 zuerkannten Status der Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Ferner wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. Unter Spruchpunkt VII. wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Die belangte Behörde verwies auf die strafrechtlichen Verurteilungen und darauf, dass der Beschwerdeführer arbeitsfähig sei, an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung leide, er habe als Kleinkind mit den Eltern das Heimatland verlassen. Der Beschwerdeführer befinde sich in Haft.

Eine aktuelle bzw. individuelle Furcht vor Verfolgung sei nicht glaubhaft gemacht worden. Die belangte Behörde führte aus, dass der Beschwerdeführer wegen der (schweren) Verbrechen des Raubes und schweren Raubes verurteilt worden sei.

Der BF habe in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde keine aktuellen bzw. individuellen Fluchtgründe glaubhaft vorgebracht, sondern nur allgemein ausgeführt, dass er im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat "von vorne anfangen müsste", dort hätte er niemanden mehr, er hätte auch keine Wohnung. Auch habe sich die objektive Lage im Heimatland geändert, Familien von Unterstützern der Widerstandskämpfer seien 2006 amnestiert wurden, dies sei der Länderinformation zu entnehmen. Ehemalige Widerstandskämpfer oder Unterstützer dieser würden nicht mehr verfolgt werden, sondern nur noch aktuelle Kämpfer. Somit habe der BF im Heimatland keine Gefährdungslage zu befürchten und könne er in das Heimatland zurückkehren, umso mehr als er doch über Verwandtschaft verfüge, zu diesen auch Kontakt herstellen könnte, wobei diese ihn auch unterstützen könnten. Hinweise auf eine individuelle Gefährdungs- bzw. Bedrohungslage habe der BF nicht vorgebracht.

Bezüglich der Bestreitung des Lebensunterhaltes führte die belangte Behörde aus, dass der BF wohl nach wie vor über familiär Anknüpfungspunkte verfüge, zumal er zu diesen auch noch Kontakt aufnehmen könnte. Gerade für einen jungen Menschen sei es ein leichtes Unterfangen, neue soziale Kontakte zu knüpfen. Der BF sei gesund und arbeitsfähig, könne im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation den Unterhalt für sich selbst bestreiten, umso mehr als er die dortige Sprache (Tschetschenisch, Russisch) spreche und mit der dort ansässigen Kultur vertraut sei.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, dass ein Endigungsgrund eingetreten sei, weshalb gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG der Status des Asylberechtigten zwingend abzuerkennen sei.

Der BF könne sich auch nicht auf ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG berufen, denn er sei straffällig geworden, deshalb gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 AsylG ausdrücklich ausgeschlossen. Ein Berufen auf ein Weiterbestehen des Familienlebens sei deshalb unzulässig. Die behauptete Gefährdungslage sei bloß in den Raum gestellt, es bestehe demnach kein Grund zur weiteren Gewährung des Asylstatus, umso mehr auch sonst keine Gründe für eine wohlbegründete Furcht ersichtlich seien.

Die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz (§ 8 AsylG) begründete die belangte Behörde weitgehend damit, dass der BF gar keine Gründe glaubhaft vorgetragen habe, die ein Leben in der Russischen Föderation als unzumutbar darstellen würden. Sonstige Abschiebungshindernisse, wie etwa das Vorliegen einer lebensbedrohenden Erkrankung oder die Unmöglichkeit, den Lebensunterhalt bestreiten zu können, habe der BF nicht behauptet. Er könne sich in der Heimat eine Arbeit suchen und auf die Unterstützung der Familienangehörigen zurückgreifen. Aus der Länderinformation sei keine Situation ableitbar, dass jeder zurückgekehrte russische Staatsbürger einer reellen Gefahr eine Gefährdung ausgesetzt wäre.

Die Rückkehrentscheidung wurde ebenso wie das Einreiseverbot durch die belangte Behörde mit der schweren strafrechtlichen Delinquenz des BF begründet, sein Verhalten stelle eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar. Für die Behörde sei ersichtlich, dass der BF von der österreichischen Rechtsordnung nichts halte und diese offenbar ablehne. Es sei nicht absehbar, gegen welche Person die Gewaltbereitschaft des BF sich als nächstes richten würde. Zum Einreiseverbot führt die belangte Behörde aus, dass dieses auf § 53 Abs. 3 Z 1 FPG zu stützen sei, sei der BF doch zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren unbedingt rechtskräftig verurteilt worden. Das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit würde die wenigen familiären und privaten Anknüpfungspunkte in Österreich überwiegen, sodass diese einen Verbleib in Österreich nicht rechtfertigen würden. Der BF sei mehrfach wegen Raubes und schweren Raubes rechtskräftig verurteilt worden, sodass die Erlassung eines Einreiseverbotes von zehn Jahren gerechtfertigt sei. Da der BF mehrere Strafen bekommen habe, sei keine Besserung feststellbar und sei der BF offenbar nicht gewillt, sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten.

3.) Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben, wobei sich die vorliegende Beschwerde primär mit der von der belangten Behörde durchgeführten Abwägung gemäß § 9 BFA-VG iVm Art. 8 Abs. 2 EMRK reduziert. Der BF führt aus, dass sich seine gesamte Familie in Österreich legal befinde, die Eltern und seine Geschwister würden hier sein. Der BF sei selbst im Alter von fünf Jahren nach Österreich eingereist und habe hier die Schule besucht, er sei der deutschen Sprache mächtig. Zudem bereue der BF seine Taten zutiefst und sei umfassend geständig gewesen. Bestritten wurden auch die von der belangten Behörde angenommenen familiären Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat, habe der BF doch angegeben:

"nichts, das ich wüsste. Ich habe sicher ein bis zwei Cousins." Dies lasse den Schluss zu, dass der BF der Meinung sei, dass ein oder zwei Cousins dort leben würden. Familiäre Anknüpfungspunkte könnten aus dieser Aussage nicht angenommen werden. Der BF habe auch gesagt, dass ihm im Heimatland Folter drohe bzw. er Angst habe eingesperrt zu werden. Mit diesem Vorbringen habe sich die belangte Behörde nicht ausreichend auseinandergesetzt.

Darüber hinaus führt die Beschwerde aus, dass der BF seine Muttersprache nicht so gut spreche, da er schon als Kind nach Österreich gekommen sei und mit der österreichischen Kultur aufgewachsen sei. Schon alleine angesichts der prekären Sicherheitslage in Tschetschenien hätte die belangte Behörde den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Er habe lediglich die ersten paar Lebensjahre in der Russischen Föderation verbracht und beherrsche Deutsch besser als seine Muttersprache, er werde sich in der Tschetschenischen bzw. Russischen Kultur nicht zurechtfinden, weshalb davon auszugehen sei, dass er in eine existenzbedrohende Lage geraten würde.

Zusätzlich zu dieser Beschwerde langte am 30.07.2019 - verbunden mit einer Vollmacht für den weiteren Rechtsvertreter - ein weiterer ergänzender Schriftsatz ein, welcher sich weitgehend mit rechtlichen Überlegungen ("aus den Leitlinien zur Auslieferung und zum internationalen Flüchtlingsschutz") befasst.

Fallbezogen wird ausgeführt, dass "der BF aufgrund seines konkreten Fluchtvorbringens bei einer möglichen Rückkehr in die RF Gefahr läuft sein Leben zu verlieren. Es würden reale politisch motivierte Gründe bestehen, erneut unter extremer Bedrohung und Verfolgung aufgrund der Verfolgungsgründe seiner Eltern, Geschwister und Verwandten."

Der BF spreche besser Deutsch als Russisch, da er das volle österreichische Schulprogramm abgeschlossen habe. In der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien habe er weder Familienangehörige noch Freunde und Bekannte, die ihn unterstützen könnten. Es bestehe aufgrund der Verfolgungsgründe die reale Gefahr, in seiner Heimat "unter extremer Verfolgung ungewissen Grades ausgesetzt zu werden".

Darüber hinaus wird auf einen Vortrag des Vereins XXXX , "verletzte Kinder - starke Kinder" verwiesen, wonach Flüchtlingskinder Opfer werden, wobei sich aus dem Vorbringen nicht ableiten lässt, welchen konkreten Bezug dies zum konkreten Beschwerdefall hat. Beigelegt waren diverse Länderberichte, großteils in englischer Sprache gehalten, eine Kopie des Konventionsreisepasses und eine Kursbesuchsbestätigung, wonach der BF im Jahr 2013 beim BFI in Wien einen Kurs im Ausmaß von 30 Stunden besucht hat.

Beigelegt ist weiters ein Lebenslauf betreffend den BF, wobei unter "besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten" Tschetschenisch als Muttersprache ausgeführt wird. Beigelegt sind weiters diverse Zeugnisse betreffend den Besuch öffentlicher Schulen, die Heiratsurkunde der Eltern und erkennbar Unterlagen im Zusammenhang mit der versuchten Eintragung einer Firma in das Firmenbuch.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.) Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und somit Drittstaatsangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 10 FPG. Seine Identität steht fest. Er gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und bekennt sich zum moslemischen Glauben.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer mit seiner Familie illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist und stellte er am 31.05.2003 im Wege seines gesetzlichen Vertreters (Vater) einen Asylerstreckungsantrag und wurde dem Antrag stattgegeben und festgestellt, dass dem Beschwerdeführer kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Die Eltern und mehrere Geschwister des Beschwerdeführers leben als anerkannte Flüchtlinge in Österreich.

Der Beschwerdeführer wurde mehrfach in Österreich rechtskräftig strafrechtlich verurteilt und zwar wie folgt:

* LG für Strafsachen XXXX , GZ XXXX vom XXXX wegen §§ 142 (1), 143

1. Fall, 143 2. Fall 15 StGB, 6 Monate bedingt (Jugendstraftat);

* Landesgericht für Strafsachen XXXX , GZ. XXXX , vom XXXX wegen §§ 142, 143 (1) 2. Satz StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 3 Jahren (Junger Erwachsener)

Der Beschwerdeführer befindet sich seit 12.12.2018 durchgehend in diversen Justizanstalten in Haft (JA XXXX , JA XXXX ).

2.) Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer an dermaßen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leidet, welche eine Rückkehr in die Russische Föderation iSd. Art. 3 EMRK unzulässig machen würden. Eine lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers wurde nicht vorgebracht.

Nicht festgestellt werden kann, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Be-schwerdeführers in die Russische Föderation eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder inner-staatlichen Konflikts mit sich bringen würde.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer Tschetschenisch, Russisch und Deutsch sowie weitere Sprachen spricht. Der Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos und hat keine Obsorgeverpflichtungen.

Er hat im Bundesgebiet die Volksschule und die Hauptschule besucht. Nach eigenen Angaben hat der BF danach nicht gearbeitet, nur für kurze Zeit eine Lehre begonnen, jedoch niemals abgeschlossen und kurz vor der Verhaftung eine Firma eröffnet, mit welcher er hätte Kleidung verkaufen wollen.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in den letzten Jahren in Österreich eine Lebensgemeinschaft bzw. eine eheähnliche Beziehung führt. Die soziale Integration des Beschwerdeführers beschränkt sich derzeit im Wesentlichen auf die Mithäftlinge in den Justizanstalten und fallweise Besuche seiner Angehörigen.

3.) Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor. Es konnten keine Umstände festgestellt werden, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Russland gemäß § 46 FPG unzulässig wäre.

Zur Situation in Tschetschenien/in der Russischen Föderation wird festgestellt;

1.4.1.1. Politische Lage im Allgemeinen

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

-CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

-EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

-FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

-GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

-OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

-Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

-Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

-Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

1.4.1.1.a. Politische Lage in Tschetschenien im Besonderen

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

-ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

-SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

1.4.1.2. Sicherheitslage im Allgemeinen

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

1.4.1.2.a. Sicherheitslage im Nordkaukasus im Allgemeinen

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt",

https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018

-ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

-SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

1.4.1.2.b. Sicherheitslage in Tschetschenien im Besonderen

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

-Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018

-SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

1.4.1.3. Rechtsschutz / Justizwesen im Allgemeinen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

-EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

1.4.1.3.a. Rechtsschutz / Justizwesen in Tschetschenien im Besonderen

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013):

Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 -

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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