TE Lvwg Beschluss 2023/2/6 VGW-102/013/5453/2022-27

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Veröffentlicht am 06.02.2023
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Entscheidungsdatum

06.02.2023

Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
23/04 Exekutionsordnung
41/01 Sicherheitsrecht

Norm

B-VG Art. 89 Abs2
B-VG Art. 135 Abs4
B-VG Art. 140 Abs1
EO §382f
EO §382g
SPG 1991 §25 Abs4
SPG 1991 §35 Abs1 Z8
SPG 1991 §38a
SPG 1991 §84 Abs1b Z3
SPG 1991 §84 Abs2
  1. EO § 382f heute
  2. EO § 382f gültig ab 01.07.2022 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 202/2021
  3. EO § 382f gültig von 01.07.2021 bis 30.06.2022 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 86/2021
  4. EO § 382f gültig von 01.01.2005 bis 30.06.2021 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 113/2003
  1. EO § 382g heute
  2. EO § 382g gültig ab 01.07.2021 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 86/2021
  3. EO § 382g gültig von 01.01.2020 bis 30.06.2021 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 105/2019
  4. EO § 382g gültig von 18.05.2018 bis 31.12.2019 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 32/2018
  5. EO § 382g gültig von 01.06.2009 bis 17.05.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 40/2009
  6. EO § 382g gültig von 01.07.2006 bis 31.05.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 56/2006

Text

Das Verwaltungsgericht Wien stellt durch seinen Richter Dr. Helm im Verfahren über die Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG der Frau A. B., vertreten durch Rechtsanwälte GmbH, vom 29.04.2022, wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch die Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes am 20.03.2022, gegen die Landespolizeidirektion Wien als belangte Behörde, gemäß Art. 140 Abs. 1 iVm Art. 135 Abs. 4 und Art. 89 Abs. 2 B-VG an den Verfassungsgerichtshof folgenden, gegenüber dem mit Beschluss vom 6.12.2022 zu G 240/2022 zurückgewiesenen Erstantrag erweiterten

Antrag:

Der Verfassungsgerichtshof möge

1) den Abs. 8 des § 38a SPG, BGBl. Nr. 566/1991 idF BGBl. I Nr. 147/2022,

2) die Wortfolge „über die Verpflichtung gemäß Abs. 8 und die Rechtsfolgen einer Zuwiderhandlung sowie“ in § 38a Abs. 2 Z 4 SPG, obzitierte Fassung,

3) § 84 Abs. 1b Z 3 SPG, obzitierte Fassung,

4) den Abs. 4 des § 25 SPG, obzitierte Fassung, und

5) die Wortfolge „der noch nicht an einer Gewaltpräventionsberatung nach § 38a Abs. 8 SPG teilgenommen hat,“ samt vorangestelltem Komma in § 382f Abs. 4 der Exekutionsordnung, BGBl. Nr. 79/1896 idF BGBl. I Nr. 202/2021,

i n e v e n t u

die unter 1) bis 5) genannten Bestimmungen bzw. Wortfolgen sowie § 38a Abs. 7 zweiter und dritter Satz SPG, BGBl. Nr. 566/1991 idF BGBl. I Nr. 147/2022,

i n e v e n t u

die unter 1) bis 5) genannten Bestimmungen bzw. Wortfolgen sowie Abs. 6 und Abs. 7 zweiter und dritter Satz des § 38a SPG, BGBl. Nr. 566/1991 idF BGBl. I Nr. 147/2022,

i n e v e n t u

§ 38a zur Gänze, den Abs. 1b des § 84 sowie die Worte „oder 1b“ in § 84 Abs. 2, die Wortfolge „oder eines Betretungs- und Annäherungsverbotes nach § 38a“ sowie das Wort „derselben“ in § 35 Abs. 1 Z 8 SPG, BGBl. Nr. 566/1991 idF BGBl. I Nr. 147/2022, weiters die unter 5) genannte Wortfolge und die Wortfolge „aus Anlass eines Betretungs- und Annäherungsverbots nach § 38a“, in § 382g der Exekutionsordnung, BGBl. Nr. 79/1896 idF BGBl. I Nr. 202/2021,

als verfassungswidrig aufheben.

Begründung

1. Anlassfall

Beim Verwaltungsgericht Wien ist eine Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG anhängig, welche sich gegen die Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbots gemäß § 38a SPG gegen die Beschwerdeführerin am 20.03.2022 durch Organe der LPD Wien richtet. Dieser Maßnahme liegt ein heftiger Streit zwischen zwei Ehepartnern zu Grunde, in dessen Zuge die Beschwerdeführerin – laut ihrer Aussage – vom Gatten gewürgt worden sei, und sie ihn – nach seiner Aussage - mit einem Schuh geschlagen habe. Die weitere Angabe des Gatten, die Beschwerdeführerin hätte auch die gemeinsame Tochter geschlagen, war von der Beschwerdeführerin vehement bestritten, und bis zur Verhängung der Maßnahme weder vom Gatten noch durch Befragung der Tochter und Augenschein in irgendeiner Weise belegt worden.

Der Beschwerdeführerin wurde daraufhin nicht nur das Betreten der ehelichen Wohnung untersagt, sondern, wie durch die Novelle BGBl. I Nr. 105/2019 (Gewaltschutzgesetz 2019) vorgesehen, auch die Annäherung an diese Wohnung bzw. an den Ehegatten und die gemeinsame, unmündige Tochter in einem Umkreis von 100 Metern. Überdies ist seit der genannten Novelle an die Verhängung eines Betretungsverbots ex lege die vorbeugende Maßnahme des § 38a Abs. 8 geknüpft, welche daher mit jedem Betretungsverbot automatisch und ohne Ermessen mitverhängt wird; so auch gegen die Beschwerdeführerin. Das Verwaltungsgericht Wien geht daher davon aus, dass sich die gegen das Betretungsverbot nach § 38a SPG gerichtete Beschwerde gegen dessen gesamte Auswirkungen auf die Beschwerdeführerin richtet, mag auch die in Abs. 8 normierte Folge – anders als das Annäherungsverbot – keinen Niederschlag in der geänderten Überschrift dieser Gesetzesbestimmung gefunden haben.

2. Präjudizialität

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt wegen Rechtswidrigkeit. Bei der Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbots gemäß § 38a Abs. 1 SPG handelt es sich nach einhelliger Auffassung der Literatur und nach ständiger Rechtsprechung um eine solche Ausübung. Die weiteren Absätze des § 38a SPG enthalten Regelungen zur Vorgangsweise, aber seit kurzem auch eine aktive Verpflichtung der als „Gefährder“ identifizierten Person.

§ 38a Abs. 8 SPG lautet in der aktuellen, gegenüber dem Gewaltschutzgesetz 2019 durch die Novellen BGBl I Nr.144/2020 und 124/2021 geänderten Fassung:

„(8) Der Gefährder hat binnen fünf Tagen ab Anordnung des Betretungs- und Annäherungsverbots eine Beratungsstelle für Gewaltprävention zur Vereinbarung einer Gewaltpräventionsberatung (§ 25 Abs. 4) zu kontaktieren und an der Beratung aktiv teilzunehmen, sofern das Betretungs- und Annäherungsverbot nicht gemäß Abs. 7 aufgehoben wird. Die Beratung hat längstens binnen 14 Tagen ab Kontaktaufnahme erstmals stattzufinden. Nimmt der Gefährder keinen Kontakt auf oder nicht (aktiv) an einer Gewaltpräventionsberatung teil, ist er zur Sicherheitsbehörde zum Zweck der Ermöglichung der Durchführung der Gewaltpräventionsberatung durch die Beratungsstelle für Gewaltprävention zu laden; § 19 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 – AVG, BGBl. Nr. 51/1991, gilt.

§ 38a Abs. 2 Z 4 SPG lautet:

„(2) bei Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes

1. dem Gefährder den Verbotsbereich nach Abs. 1 zur Kenntnis zu bringen;

2. dem Gefährder alle in seiner Gewahrsame befindlichen Schlüssel zur Wohnung gemäß Abs. 1 abzunehmen und ihn zu diesem Zweck erforderlichenfalls zu durchsuchen; § 40 Abs. 3 und 4 gilt sinngemäß;

3. dem Gefährder Gelegenheit zu geben, dringend benötigte Gegenstände des persönlichen Bedarfs mitzunehmen und sich darüber zu informieren, welche Möglichkeiten er hat, unterzukommen;

4. den Gefährder über die Verpflichtung gemäß Abs. 8 und die Rechtsfolgen einer Zuwiderhandlung sowie über die Möglichkeit eines Antrags gemäß Abs. 9 zu informieren;

5. vom Gefährder die Bekanntgabe einer Abgabestelle für Zwecke der Zustellung von Schriftstücken nach dieser Bestimmung oder der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr. 79/1896, zu verlangen; unterlässt er dies, kann die Zustellung solcher Schriftstücke so lange durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch erfolgen, bis eine Bekanntgabe erfolgt; darauf ist der Gefährder hinzuweisen;

6. den Gefährder bei Aufenthalt in einem Verbotsbereich nach Abs. 1 wegzuweisen.

§ 84 Abs. 1b SPG lautet:

(1b) Ein Gefährder (§ 38a), der

1. den vom Betretungsverbot gemäß § 38a umfassten Bereich betritt,

2. sich sonst trotz Annäherungsverbots gemäß § 38a einem Gefährdeten annähert,

3. einer Verpflichtung gemäß § 38a Abs. 8 zur Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle für Gewaltprävention oder zur (aktiven) Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung nicht nachkommt,

begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 2 500 Euro, im Wiederholungsfall mit Geldstrafe bis zu 5 000 Euro, im Falle ihrer Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu sechs Wochen, zu bestrafen.

§ 25 Abs. 4 SPG lautet:

(4) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, bewährte geeignete Einrichtungen für opferschutzorientierte Täterarbeit vertraglich damit zu beauftragen, Gefährder gemäß § 38a Abs. 8 zu beraten (Beratungsstellen für Gewaltprävention). Die Beratung dient der Hinwirkung auf die Abstandnahme von Gewaltanwendung im Umgang mit Menschen und soll mindestens sechs Beratungsstunden umfassen (Gewaltpräventionsberatung).

§ 382f Abs. 4 EO lautet:

(4) Das Gericht kann in Verfahren nach den §§ 382b und 382c einem Antragsgegner, der noch nicht an einer Gewaltpräventionsberatung nach § 38a Abs. 8 SPG teilgenommen hat, auf Antrag der gefährdeten Partei oder von Amts wegen auftragen, binnen fünf Tagen ab Erlassung einer einstweiligen Verfügung eine Beratungsstelle für Gewaltprävention (Abs. 6) zur Vereinbarung einer Beratung zu kontaktieren und aktiv an einer Beratung zur Gewaltprävention teilzunehmen. Die Beratung hat längstens innerhalb von 14 Tagen ab Kontaktaufnahme erstmals stattzufinden.

Durch die Novelle BGBl I Nr. 144/2020 war – offenbar bereits aus verfassungsrechtlichen Erwägungen – die ursprünglich vorgesehene Kostentragungspflicht des Gefährders entfallen, und die Bezeichnung „Gewaltpräventionszentrum“ auf „Beratungsstelle für Gewaltprävention“ geschönt worden; die zweite Novellierung bestand in der Einfügung des Wortes „erstmals“ nach „Kontaktaufnahme“. War der Gesetzgeber offensichtlich bemüht, den Eindruck einer zwangsweisen Therapie zu vermeiden, so handelt es sich doch um eine vorbeugende Maßnahme, die in jeder Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes mitenthalten ist.

Aufgrund dieser automatischen und unbedingten Verknüpfung hat jede Entscheidung über die Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes zu berücksichtigen, dass es hierbei nicht bloß um eine vorläufige Sicherungsmaßnahme zum Schutz einer mutmaßlich gefährdeten Person geht, sondern dass damit auch gegen den „Gefährder“ (welcher dieses Attribut lediglich aufgrund einer vorläufigen Einschätzung von Organen der Sicherheitsexekutive erhält) eine vorbeugende Maßnahme verhängt wird. Dies ist nicht zuletzt im Hinblick auf den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (der auch ohne seine ausdrückliche Normierung in § 29 SPG zur Anwendung käme) von Bedeutung. Die spezielle Ausformung dieses Grundsatzes in § 38a Abs. 3 SPG spielt hier keine Rolle, sie bezieht sich nur auf das Wohnbedürfnis.

Dies gilt naturgemäß nicht nur für die Entscheidung des einschreitenden Exekutivbeamten, sondern auch für deren Beurteilung durch das zuständige Landesverwaltungsgericht im Falle einer Beschwerde. Auch das Gericht hat die Rechtmäßigkeit der Maßnahme, wozu deren Verhältnismäßigkeit gehört, im Hinblick auf Bewegungsfreiheit, Privatsphäre und andere verfassungsmäßig gewährleistete Rechte des „Gefährders“ nicht nur wegen der eingeschränkten Annäherung und der untersagten Wohnungsnutzung zu prüfen, sondern ebenso wegen der aktiven Teilnahmeverpflichtung an einer Gewaltpräventionsberatung. Es hat daher auch den Abs. 8 des § 38a SPG anzuwenden, welcher sich somit als präjudiziell erweist. Anzumerken ist, dass der Verfassungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 06.12.2022, G 240/2022, mit dem er den vorangegangenen, nur auf § 38a Abs. 8 und Abs. 2 Z 4 abzielenden Antrag des Verwaltungsgerichts Wien vom 22.08.2022 als zu eng gefasst zurückgewiesen hat, gleichwohl die Präjudizialität als gegeben erachtet.

3. Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit

3.1. im Hinblick auf die Art. 5, 6 und 8 EMRK

Der ursprüngliche Charakter des § 38a SPG war der einer bloßen Sicherheitsmaßnahme, welche den vorläufigen Schutz einer an Leib, Leben oder Freiheit mutmaßlich (dh als Annahme aufgrund bestimmter Tatsachen) gefährdeten Person vor einer anderen (dem „Gefährder“) gewährleisten sollte. Als solche war ihre Verhängung durch Exekutivbeamte ohne förmliches Verfahren sicherlich unbedenklich: in einer eskalierenden Gewaltsituation ist die sofortige Trennung der beteiligten Personen ein probates Mittel zur Gewaltbeendigung. Es ist daher hinzunehmen, dass die einschreitenden Beamten nur aufgrund ihres ersten Eindrucks (wenn auch nach Anhörung beider, so die stRsp) allenfalls auch der unschuldigen Streitpartei die Verantwortung als „Gefährder“ zuweisen und diese zur Entfernung veranlassen.

Anders stellt sich der Fall dar, wenn eine an sich vorbildliche und – bis auf den Fall eines zur Tat entschlossenen Gefährders – auch effektive Sicherheitsmaßnahme (vgl. Helm in Heißl (Hrsg.), Handbuch Menschenrechte [2009], 193 ff.) mit einer, von Bestrafung nicht weit entfernten, vorbeugenden Maßnahme gegen die vorläufig als verantwortlich identifizierte Person verknüpft wird, bei der es sich bei weitem (noch) nicht um einen überführten Täter oder eine Täterin handelt. Diese Person wird dadurch wie ein Täter behandelt, obwohl dem kein faires Verfahren vorausgegangen ist, und obwohl sie das Attribut eines „Gefährders“ lediglich aufgrund einer vorläufigen Einschätzung von Exekutivbeamten trägt (mag diese Einschätzung in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit auch vertretbar gewesen sein). Dementsprechend war in der öffentlichen Diskussion über die gegenständliche Regelung auch fälschlich immer wieder vom „Täter“ die Rede.

Nach früherer Rechtslage wäre in einem Fall wie dem gegenständlichen – einem heftigeren Ehestreit unter etwa gleichwertiger Beteiligung beider Streitteile – unter Umständen eine Wegweisung samt Betretungsverbot hinsichtlich jedes der beiden Streitteile gerade noch vertretbar gewesen, um eine weitere Eskalation zu verhindern, weil die Intensität des Eingriffs (14 Tage Wegbleiben von der Wohnung) diese Abwägung gerade noch zugelassen hätte. Wird aber der aktuell weggewiesene Teil gleichsam in die Rolle eines „Täters“ gedrängt, indem gegen ihn – oder hier: gegen sie – entsprechende Rechtsfolgen unüberprüft zur Anwendung gelangen, so steht die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme in Frage.

Die Verpflichtung zur aktiven, nicht nur einmaligen (arg. „erstmals“) Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung greift sowohl in das Recht auf persönliche Freiheit als auch in das Recht auf Achtung des Privatlebens in einer Weise ein, wie sie für eine bloße Sicherheitsmaßnahme zugunsten anderer nicht erforderlich sowie unverhältnismäßig ist und also nicht gerechtfertigt werden kann. Die Verknüpfung eines solchen Eingriffs mit einer – als solche unbedenklichen – Sicherungsmaßnahme, die allein aufgrund einer vorläufigen Einschätzung unter Zeitdruck von einschreitenden Polizeibeamten getroffen wird, genügt nach Ansicht des antragstellenden Gerichts nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen, und wäre eher mit polizeistaatlichen Methoden zu assoziieren.

Da die in § 38a Abs. 8 normierte Verpflichtung als vorbeugende Maßnahme einer strafrechtlichen Sanktion gleichzuhalten ist, müsste sie gegebenenfalls von einem unabhängigen Gericht verhängt werden; sollte man stattdessen lediglich von einem Eingriff in „civil rights“ ausgehen wollen, so hätte dies dieselbe Konsequenz.

Noch dazu wurde mit der rezenten Novellierung der Exekutionsordnung durch das Budgetbegleitgesetz 2022, BGBl. I Nr.202/2021, mit dem § 382f Abs. 4 EO die Möglichkeit geschaffen, dass der für Einstweilige Verfügungen im Anschluss an die Maßnahme nach § 38a Abs. 1 SPG zuständige Richter die Teilnahme des Antragsgegners an einer Gewaltpräventionsberatung nach seinem Ermessen anordnen kann. Da die Stellung eines entsprechenden Antrags unverzüglich möglich ist, bedarf es somit nicht (mehr) der automatischen Verknüpfung einer lediglich von Exekutivbeamten getroffenen vorläufigen Sicherheitsmaßnahme mit weitergehenden vorbeugenden Maßnahmen. Vielmehr kann iSd Art. 6 EMRK nunmehr ein unabhängiger Richter aufgrund eines – wenn auch verkürzten – fairen Verfahrens ohne wesentliche Verzögerung darüber entscheiden. Auch schon deshalb ist eine weitere Beibehaltung der angefochtenen Bestimmung nicht erforderlich.

Die angefochtene Gesetzesbestimmung greift sohin nicht nur unverhältnismäßig und ohne zwingende Notwendigkeit in die durch die Art. 5 und 8 EMRK gewährleisteten Rechte ein, sondern sie widerspricht auch – im Gegensatz zur neuen Bestimmung des § 382f EO – dem Art 6 EMRK.

3.2. im Hinblick auf Art. 13 EMRK

Der in seinen, in der EMRK festgelegten, Rechten und Freiheiten Verletzte hat nach Art. 13 dieser Konvention das Recht, eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz einzulegen.

Das antragstellende Gericht verkennt nicht, dass eine Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt naturgemäß erst im Nachhinein auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden kann. Im Falle eines Betretungs- und Annäherungsverbotes gilt das aber nicht für sämtliche damit verbundenen Auswirkungen, insbesondere nicht für jene des § 38a Abs. 8 SPG. Es wäre dem Gesetzgeber ein Leichtes gewesen, diese Bestimmung so auszugestalten, dass dagegen mit aufschiebender Wirkung remonstriert werden kann und ein ordentliches Verfahren eingeleitet wird.

Für die durch die Neuregelung des § 38a SPG ebenfalls eingeführte Ausweitung des Betretungsverbotes auf ein Betretungs- und Annäherungsverbot hat der Gesetzgeber in Abs. 9 leg.cit. immerhin auf Antrag die Gewährung örtlicher und zeitlicher Ausnahmen mit Bescheid zugelassen, etwa um einem Betroffenen nicht die Berufsausübung zu verunmöglichen, oder bei gemeinsamer Obsorge über nicht gefährdete Kinder deren Übergabe zwischen beiden Obsorgeberechtigten zu gewährleisten. Eine Bestimmung für das zumindest vorläufige Absehen – zB bis zu einer behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung – von der automatisch mit dem Verbot verknüpften Verpflichtung des Abs. 8 leg.cit. existiert jedoch nicht.

Es bestand keine zwingende Notwendigkeit, die Verpflichtung des § 38a Abs. 8 SPG als Teil einer Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt auszugestalten und dem Betroffenen damit jede Möglichkeit zu nehmen, die Rechtmäßigkeit der Auferlegung dieser vorbeugenden Maßnahme vor deren Wirksamwerden überprüfen zu lassen. Wie oben bereits ausgeführt, rechtfertigt nur die Sicherheit einer mutmaßlich gefährdeten Person den sofortigen Eingriff, und ist dafür sogar in Kauf zu nehmen, dass die unter Zeitdruck von Polizeibeamten vorzunehmende Einschätzung nicht selten eine für die Gewalt weniger oder gar nicht verantwortliche Person trifft (und damit Effektivität vor Rechtsrichtigkeit geht). Alle diese Überlegungen gelten aber nicht für die Verhängung einer sanktionsähnlichen Verpflichtung, die den Verpflichteten gleichsam zum Täter stempelt. Dagegen ist eine nachträglich erhobene „Maßnahmenbeschwerde“ gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG nicht ausreichend wirksam.

An dieser Stelle ist neuerlich auf die mit § 382f EO gerade erst geschaffene, zeitnahe Möglichkeit der Verhängung durch ein ordentliches Gericht im verkürzten Verfahren zu verweisen, welche den rechtsstaatlich mehr als fragwürdigen Abs. 8 des § 38a SPG spätestens seit ihrer Einführung erübrigt.

4. Zur Formulierung des Antrags

Der Verfassungsgerichtshof erachtet in ständiger Rechtsprechung Gesetzesprüfungsanträge nur insoweit als zulässig, als sie sich auf im fraglichen Zeitraum gültige Gesetzesbestimmungen als solche beziehen, und nicht etwa nur auf eine Gesetzesnovelle. Die Anfechtung nimmt daher nicht auf die Novelle BGBl. I Nr. 105/2019 Bezug, sondern auf den durch diese novellierten (und nach wie vor in Geltung stehenden) Text des § 38a Abs. 8 SPG. Ferner hat sich eine Anfechtung zwar nur gegen jene Teile des Gesetzestextes zu richten, welche der Sitz der angenommenen Verfassungswidrigkeit sind, darf aber gleichzeitig keine unverständlichen oder unsinnigen Textreste hinterlassen.

Im Gegenstand ist der Entfall des gesamten Abs. 8 des § 38a SPG notwendig, um die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen und keinen Torso zu hinterlassen. Da hierdurch die entsprechende Hinweispflicht der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Abs. 2 Z 4 leg. cit. obsolet wird und ihre Belassung irreführend wäre, hätte auch diese zu entfallen. Gleiches gilt für die Bestimmung des § 25 Abs. 4 SPG, welche nach Aufhebung der verwiesenen Bestimmung sinnentleert als Torso dastünde.

Die Strafnorm des § 84 Abs.1b Z 3 bildet – wie der Verfassungsgerichtshof in seinem zurückweisenden Beschluss vom 6.12.2022, G 240/2022, ausgeführt hat – mit der verpflichtenden Gewaltpräventionsberatung ein derart zusammenhängendes System, dass auch diese Norm der Aufhebung zu verfallen hätte, wenn die beiden erstgenannten Bestimmungen entfallen. Für die Wortfolge „der noch nicht an einer Gewaltpräventionsberatung nach § 38a Abs. 8 SPG teilgenommen hat,“ in § 382f Abs. 4 EO trifft das genauso zu; ihre Belassung würde die Klarheit dieser Bestimmung beeinträchtigen.

Warum aber auch die zur verpflichtenden Gewaltpräventionsberatung führenden Abläufe – so etwa § 38a Abs 7 SPG, u.U. auch Abs. 6 – mit dieser ein untrennbar zusammenhängendes System bilden sollten, erschließt sich dagegen nicht: Beide Bestimmungen sind fast wortident und weisen denselben Regelungsinhalt auf, wie vor der Einführung der verpflichtenden Gewaltpräventionsberatung durch das Gewaltschutzgesetz 2019 (also in der Fassung BGBl. I Nr. 61/2016); abgesehen von den geänderten Absatzbezeichnungen (früher Abs. 6 bzw. Abs. 5) wurde lediglich die Überprüfungspflicht von zwei auf drei Tage erstreckt.

Die genannten Abläufe sind daher keineswegs in besonderer Weise mit der im Abs. 8 normierten Verpflichtung verknüpft; diese wurde im Gegenteil an die bereits früher bestehenden Abläufe der Anordnung eines Betretungsverbots einfach angehängt (und tritt ja auch ex lege mit dieser ein!). Sie kann daher ebenso gut wieder wegfallen, ohne dass diese Abläufe tangiert würden. Dessen ungeachtet nimmt das antragstellende Gericht die entsprechende Andeutung des VfGH im obgenannten Zurückweisungsbeschluss zum Anlass, in seinem ersten Eventualantrag eine Erweiterung um den zweiten Satz des § 38a Abs. 7 SPG vorzunehmen. (Dieser entspricht im Übrigen dem zweiten und dritten Satz des § 38a Abs. 6 SPG idF BGBl. I Nr. 61/2016, deren Aufhebung das Verwaltungsgericht Wien bereits nach jener Novellierung erfolglos begehrt hat; der seinerzeitige Antrag wurde mit Erkenntnis vom 25.09.2018, G 414/2017 abgewiesen.) Der erste Satz des Abs. 7 erscheint jedoch nicht verzichtbar.

Im zweiten Eventualantrag wird darüber hinaus noch die Aufhebung von Abs. 6 des § 38a SPG, welcher andere Abläufe regelt, beantragt.

Weitere Absätze oder Wortfolgen im § 38a SPG bedürfen nach Ansicht des antragstellenden Gerichts keiner Aufhebung. Das gleichzeitig neu eingeführte Annäherungsverbot sieht immerhin Ausnahmemöglichkeiten vor, die zum Tragen kommen können, wenn es z.B. um gemeinsame Kinder des Gefährders (bzw. – wie hier – der Gefährderin) und der gefährdeten Person geht, welche selbst nicht gefährdet sind. Dieser Punkt ist daher nicht Gegenstand des vorliegenden Antrags.

Sollte der Verfassungsgerichtshof allerdings zu der Ansicht gelangen, dass die Zusammenhänge innerhalb des mehrfach novellierten § 38a SPG nicht (mehr) vernünftig trennbar sind und die gesamte Bestimmung einer Neuordnung bedarf, so wird mit dem dritten Eventualantrag eben dies begehrt. In diesem Falle würde der Gesetzgeber eine wenigstens einjährige Frist für die Neuordnung benötigen.

Es wird daher wie oben beantragt.

Schlagworte

Normprüfungsantrag; Betretungs- und Annäherungsverbot; automatische Verknüpfung; vorläufige Sicherungsmaßnahme; vorbeugende Maßnahme; Gewaltpräventionsberatung; aktive Teilnahmeverpflichtung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2023:VGW.102.013.5453.2022.27

Zuletzt aktualisiert am

08.03.2023
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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