TE Lvwg Erkenntnis 2022/12/5 LVwG-1-185/2022-R9

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Veröffentlicht am 05.12.2022
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Entscheidungsdatum

05.12.2022

Norm

StVO 1960 §9 Abs2
  1. StVO 1960 § 9 heute
  2. StVO 1960 § 9 gültig ab 31.05.2011 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 34/2011
  3. StVO 1960 § 9 gültig von 22.07.1998 bis 30.05.2011 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/1998
  4. StVO 1960 § 9 gültig von 01.10.1994 bis 21.07.1998 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 518/1994
  5. StVO 1960 § 9 gültig von 01.07.1983 bis 30.09.1994 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 174/1983

Text

Im Namen der Republik!

Erkenntnis

Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg hat durch sein Mitglied Dr. Eva-Maria Längle über die Beschwerde des A L, H, gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft B vom 11.03.2022 betreffend eine Übertretung nach der Straßenverkehrsordnung (StVO) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - zu Recht erkannt:

Gemäß § 50 Abs 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) wird der Beschwerde Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis aufgehoben und das diesbezügliche Verwaltungsstrafverfahren eingestellt.

Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG) eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof unzulässig.

Begründung

1.              Im angefochtenen Straferkenntnis wurde dem Beschuldigten vorgeworfen, er habe am 14.05.2021 um 07.44 Uhr in H auf der Astraße als Lenker des Fahrzeuges mit dem amtlichen Kennzeichen (LKW) einem Fußgänger, der erkennbar einen Schutzweg benutzen habe wollen, das unbehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn nicht ermöglicht.

Die Bezirkshauptmannschaft erblickte hierin eine Übertretung des § 9 Abs 2 StVO. Es wurde eine Geldstrafe von 60 Euro verhängt und für den Fall ihrer Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von einem Tag und drei Stunden festgesetzt.

2.              Gegen dieses Straferkenntnis hat der Beschuldigte rechtzeitig Beschwerde erhoben. In dieser bringt er im Wesentlichen vor, dass die Anschuldigungen jeglicher Grundlage entbehren würden. Er bleibe bei jedem Schutzweg stehen, wenn jemand diesen überqueren wolle, außer jemand gebe ihm mit Handzeichen zu verstehen, dass er oder sie den Schutzweg nicht benutzen wolle. Das „geschulte Personal“ hätte an diesem Tag wohl ein „Blackout“ gehabt, es sei ja noch ziemlich früh gewesen. Ein Antrag auf eine mündliche Verhandlung sei hiermit gestellt.

3.              Das Landesverwaltungsgericht hat in dieser Angelegenheit eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Folgender Sachverhalt steht fest:

Der Beschuldigte hat am 14.05.2021 um 07.44 Uhr das Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen (LKW) in H auf der Astraße in Fahrtrichtung L gelenkt.

Kurz vor dem genannten Zeitpunkt hat sich eine Fußgängerin (mit Hund) – aus Sicht des Beschuldigten – auf der linken Straßenseite einem (nicht geregelten) Schutzweg, der sich am genannten Ort befindet, genähert.

Es ist nicht erwiesen, dass die Fußgängerin (mit Hund) zum genannten Zeitpunkt erkennbar den Schutzweg (auf der gegenüber liegenden Straßenseite) benützen wollte; mangels durchgehendem Blickkontakt der Zeugin kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Fußgängerin dem Beschuldigten, als er am Fahrzeug der Polizeibeamtin, M F, vorbeifuhr, beispielsweise mit einem Handzeichen zu erkennen gab, dass er an der auf dem Gehsteig befindlichen Fußgängerin (mit Hund) vorbeifahren kann.

Weiters ist nicht erwiesen, dass der Beschuldigte der Fußgängerin (mit Hund) durch seine Weiterfahrt das unbehinderte und ungefährdete Überqueren der (Gegen-)Fahrbahn nicht ermöglicht hat.

4.1.           Dieser Sachverhalt wird aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens, insbesondere aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 02.12.2022 und aufgrund der Aktenlage, als erwiesen angenommen.

4.2.           Bei der durchgeführten Verhandlung wurden der Beschuldigte und die Anzeigenlegerin M. F., einvernommen. Die belangte Behörde ist - trotz der im Vorlageschreiben vom 31.03.2022 enthaltenen Feststellung, wonach sie für den Fall der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht auf eine Teilnahme verzichte und trotz zugestelltem Ladungsbeschluss - nicht erschienen.

Der Beschuldigte hat bei der Verhandlung nicht bestritten, dass er am 14.05.2021 um 07:44 Uhr in H auf der Astraße den LKW mit dem amtlichen Kennzeichen gelenkt hat. Er könne sich nicht mehr an diesen Zeitpunkt und an diesen Ort erinnern. Er bestreite, dass er zur angegebenen Zeit einem Fußgänger das Überqueren der Fahrbahn nicht ermöglicht habe.

Die Polizeibeamtin M F hat – unter Wahrheitspflicht stehend – angegeben, dass sie den gegenständlichen Vorfall selbst wahrgenommen habe. Sie habe die Anzeige vom 15.05.2021 verfasst. Aus ihrer Sicht sei der Inhalt richtig und vollständig. Sie könne sich noch an den gegenständlichen Vorfall erinnern, weil dies einer ihrer letzten Dienste im Außendienst gewesen sei; sie sei aktuell in Karenz. Sie sei damals in einem Streifenwagen bei der Einfahrt zu einem Modegeschäft gesessen und habe in Richtung Zebrastreifen Astraße fahren wollen. Die Fußgängerin sei unter dem Baum gestanden, der auf dem (ihr vorgelegten) Luftbild (aus dem Programm „Vorarlberg Atlas“) ersichtlich sei; dieser Baum stehe vis-a-vis des Hauses Astraße; der LKW sei in Richtung L gefahren. Sie sei damals im Dienst gewesen; sie sei alleine unterwegs gewesen. Auf die Frage, wie sie zu den Daten des Beschuldigten gekommen sei, gab sie an, dass sie das Kennzeichen abgelesen habe; sie hätten immer einen Block dabei. Da habe sie sofort das Kennzeichen und die Uhrzeit aufgeschrieben. Die Frage, ob sie sich ganz sicher sei, dass sie sich das richtige Kennzeichen aufgeschrieben habe, bejahte sie und gab an, dass es ein weißer LKW mit grüner Aufschrift gewesen sei. Der Beschuldigte habe aus ihrer Sicht einer Fußgängerin mit Hund das Überqueren der Fahrbahn nicht ermöglicht. Auf die Frage, auf welcher Straßenseite sich die Fußgängerin befunden habe, bevor der Beschuldigte an ihr vorbeigefahren sei, gab sie an, dass diese aus der Sicht des Beschuldigten auf der linken Seite auf dem Gehsteig gestanden sei. Es sei aus ihrer Sicht erkennbar gewesen, dass die Fußgängerin die Fahrbahn überqueren habe wollen, weil sie schon zum Schutzweg gesehen habe. Sie habe sich aber noch nicht auf dem Schutzweg befunden. Es habe keinerlei Gefährdung vorgelegen. Auf die Frage, ob die Fußgängerin aufgrund des Weiterfahrens des Beschuldigten stehen bleiben habe müssen, gab sie an, dass die Fußgängerin länger auf dem Gehsteig warten habe müssen. Die Fußgängerin habe nicht aufgrund des Weiterfahrens des Beschuldigten ausweichen müssen. Ihr sei nichts aufgefallen, dass die Fußgängerin beispielsweise durch ein Handzeichen zu erkennen gegeben habe, dass sie auf den Vorrang verzichte. Auf die Frage des Beschuldigten gab sie an, dass sie die Fußgängerin gesehen habe, bevor der LKW durchgefahren sei und auch danach. Sie sei auf dem Gehsteig gestanden. Sie habe sich noch nicht auf dem Schutzweg befunden. Sie habe die Anzeige von Dienst wegen gemacht. Sie wisse nicht, wer die Fußgängerin sei.

Nach dieser Zeugeneinvernahme gab der Beschuldigte ua zu Protokoll, dass die Zeugin gar nicht sehen habe können, ob die Fußgängerin, die auf der linken Seite gestanden sei, also nicht auf der Straßenseite, die er als LKW-Lenker benützt habe, ihm bsp per Handzeichen zu verstehen gegeben habe, dass er vorbeifahren könne.

4.3.           Grundsätzlich sind die Angaben der einvernommenen Zeugin glaubwürdig.

Die einvernommene Zeugin hat bei der Verhandlung auf einem Luftbild, das ihr (aus dem digitalen Programm „Vorarlberg Atlas“) vorgelegt wurde, sowohl ihren Standort, den Standort der Fußgängerin (mit Hund) und die Fahrtrichtung des Beschuldigten eingezeichnet.

Demnach hatte die Zeugin nicht durchgehend Blickkontakt zur Fußgängerin (mit Hund); der Blickkontakt wurde, als der Beschuldigte mit seinem LKW am Fahrzeug der Zeugin vorbeifuhr, kurz unterbrochen.

Aufgrund dieses Umstandes folgt das Verwaltungsgericht den Angaben des Beschuldigten, wonach es sein kann, dass die Fußgängerin ihm per Handzeichen zu verstehen gegeben hat, dass er an ihr und ihrem Hund vorbeifahren kann und die Zeugin dies nicht gesehen hat.

Auch kann aufgrund der Angaben der Zeugin nicht zweifelsfrei davon ausgegangen werden, dass der Beschuldigte mit seiner Weiterfahrt der Fußgängerin (und ihrem Hund) das unbehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn nicht ermöglicht hat. Jedenfalls hat die Zeugin nicht angegeben, dass es der Fußgängerin (mit Hund) nicht möglich war, den Schutzweg auf der Gegenfahrbahn (trotz Weiterfahrt des Beschuldigten) - unbehindert und ungefährdet - zu betreten.

5.1.           Gemäß § 9 Abs 2 StVO, BGBl Nr 159/1960, idF BGBl I Nr 34/2011, hat der Lenker eines Fahrzeuges, das kein Schienenfahrzeug ist, einem Fußgänger oder Rollschuhfahrer, der sich auf einem Schutzweg befindet oder diesen erkennbar benützen will, das unbehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Zu diesem Zweck darf sich der Lenker eines solchen Fahrzeuges einem Schutzweg nur mit einer solchen Geschwindigkeit nähern, dass er das Fahrzeug vor dem Schutzweg anhalten kann, und er hat, falls erforderlich, vor dem Schutzweg anzuhalten.

Diese Gesetzesbestimmung stimmt – mit Ausnahme des nunmehr erwähnten Rollschuhfahrers – mit der 19. StVO-Novelle, BGBl Nr 518/1994 (ebenfalls § 9 Abs 2 erster und zweiter Satz StVO), überein. Im Rahmen der 20. StVO-Novelle, BGBl Nr 92/1998, wurde neben dem Fußgänger auch der Rollschuhfahrer in den Gesetzestext aufgenommen.

Nach § 99 Abs 3 lit a StVO, idF BGBl I Nr 39/2013, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 726 Euro, in Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen zu bestrafen, wer ua als Lenker eines Fahrzeuges ua gegen die Vorschriften dieses Bundesgesetzes verstößt und das Verhalten nicht nach den Abs 1, 1a, 1b, 2, 2a, 2b, 2c, 2d, 2e oder 4 zu bestrafen ist.

5.2. Wie sich aus der Fußnote 9 zu § 9 Abs 2 StVO-ON von Pürstl (Stand: 01.10.2019, rdb.at) ergibt, „darf der Fahrzeuglenker, solange der Fußgänger ungehindert und ungefährdet ist, weiterfahren. Der Lenker eines Fahrzeuges hat nur solche Fußgänger auf dem Schutzweg zu berücksichtigen, die den in seiner Fahrtrichtung liegenden Straßenteil benützen oder sich ihm nähern“.

In der zitierten Fußnote 9 wird nicht Bezug genommen auf Schutzwege, deren Fahrbahnen über eine Verkehrsinsel gequert werden.

6.   Im gegenständlichen Beschwerdefall kann aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens nicht mit der für ein Verwaltungsstrafverfahren erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, dass die Fußgängerin (mit Hund) zu dem, dem Beschuldigten vorgeworfenen Tatzeitpunkt erkennbar einen Schutzweg benützen wollte oder ob sie dem Beschuldigten genau in dem Zeitraum, in dem die einzige Zeugin aufgrund der Vorbeifahrt des Beschuldigten keinen durchgehenden Blickkontakt zur Fußgängerin hatte, bsp über ein Handzeichen zu erkennen gab, dass er weiterfahren kann. Weiters ist nicht erwiesen, dass die Fußgängerin, die sich mit ihrem Hund auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf dem Gehsteig befand, durch das Fahrmanöver des Beschuldigten tatsächlich beim Überqueren (zunächst) der (Gegen-)Fahrbahn gefährdet und/oder behindert worden ist und somit der Beschuldigte ein unbehindertes und ungefährdetes Überqueren der Fahrbahn nicht ermöglicht hat. Die diesbezüglichen Wahrnehmungen der als Zeugin einvernommenen Meldungslegerin reichen – wie dies in der Beweiswürdigung dargestellt wurde – als Beweisergebnis nicht aus, um die entsprechenden Feststellungen mit der hierfür erforderlichen Sicherheit treffen zu können.

Aufgrund dessen kann daher - im Zweifel für den Beschuldigten - nicht davon ausgegangen werden, dass eine Anhalteverpflichtung bestanden hat (vgl dazu im Übrigen auch den in Pkt 5.2. zitierten Kommentar von Pürstl, publiziert von Manz).

Gemäß § 45 Abs 1 Z 1 Verwaltungsstrafgesetz (VStG), der gemäß § 38 VwGVG auch im Verfahren vor den Landesverwaltungsgerichten sinngemäß Anwendung findet, hat die Behörde von der Einleitung oder Fortführung des Strafverfahrens abzusehen und die Einstellung zu verfügen, wenn die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat nicht erwiesen werden kann oder keine Verwaltungsübertretung bildet.

Der Grundsatz "in dubio pro reo" stellt eine Regel für jene Fälle dar, in denen im Wege des Beweisverfahrens und anschließender freier Würdigung der Beweise in dem entscheidenden Organ nicht mit Sicherheit die Überzeugung von der Richtigkeit des Tatvorwurfes erzeugt werden konnte. Nur wenn nach Durchführung aller Beweise trotz eingehender Beweiswürdigung Zweifel an der Täterschaft des Beschuldigten verbleiben, hat nach dem genannten Grundsatz ein Freispruch zu erfolgen (vgl VwGH 28.11.1990, 90/02/0137, Rechtssatznummer 1).

Da die dem Beschuldigten mit dem bekämpften Straferkenntnis zur Last gelegte Tat aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens letztendlich nicht als erwiesen angenommen werden konnte, war der Beschwerde (in Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“) stattzugeben, das angefochtene Straferkenntnis aufzuheben und das Verwaltungsstrafverfahren einzustellen.

7.              Gemäß § 25a Abs 4 VwGG ist eine Revision wegen Verletzung in Rechten nach Art 133 Abs 6 Z 1 B-VG nicht zulässig, wenn in einer Verwaltungsstrafsache oder einer Finanzstrafsache eine Geldstrafe von bis zu 750 Euro und keine Freiheitsstrafe verhängt werden durfte und im Erkenntnis eine Geldstrafe von bis zu 400 Euro verhängt wurde. Im vorliegenden Fall durfte eine Geldstrafe von bis zu 726 Euro und keine Freiheitsstrafe verhängt werden. Auch wurde mit dem nunmehrigen Erkenntnis die von der Behörde verhängte Geldstrafe aufgehoben. Eine Revision wegen Verletzung in Rechten gemäß Art 133 Abs 6 Z 1 B-VG ist daher nicht zulässig.

Schlagworte

Straßenverkehrsordnung, Schutzweg, Verpflichtung zum Anhalten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGVO:2022:LVwG.1.185.2022.R9

Zuletzt aktualisiert am

16.12.2022
Quelle: Landesverwaltungsgericht Vorarlberg LVwg Vorarlberg, http://www.lvwg-vorarlberg.at
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