TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/15 W119 2206138-3

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Veröffentlicht am 15.06.2021
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Entscheidungsdatum

15.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AVG §68 Abs1
AVG §71
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55
VwGVG §28 Abs2 Z1

Spruch


W119 2206138-3/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien, gesetzlich vertreten durch seine Mutter XXXX , vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 8.4.2021, Zl. 1170763108/200905782, beschlossen:

A) Der beschwerdeführenden Partei wird gemäß § 71 AVG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung der Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 8.2.2021, Zl. 1170763108/200905782, bewilligt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien, gesetzlich vertreten durch seine Mutter XXXX , vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 8.2.2021, Zl. 1170763108/200905782 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG iVm § 68 Abs. 1 AVG, §§ 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG, § 9, BFA-VG und §§ 52 Abs. 2 und Abs. 9 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Mutter des Beschwerdeführers (GZ W119 1431375) brachte nach illegaler Einreise am 19.5.2012 im Bundesgebiet ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz ein. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes (im Folgenden auch: belangte Behörde) vom 23.11.2012 gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status einer Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG wurde der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG wurde die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien verfügt (Spruchpunkt III.). Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Asylgerichtshof mit Entscheidung vom 21.2.2013 hinsichtlich Spruchpunkt I. gem. § 3 AsylG 2005 abgewiesen, sodass dieser in Rechtskraft erwuchs. In Erledigung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. und III. wurde der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gem. § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 3.7.2013 wurde der Mutter des Beschwerdeführers gem. § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde neuerlich die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien verfügt (Spruchpunkt III.).

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.9.2014 wurde die dagegen erhobene Beschwerde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen. Gemäß § 75 Abs. 20 AsylG wurde das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

Der in weiterer Folge eingebrachte Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.11.2014 gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG abgewiesen.

Am 18.5.2015 stellte die Mutter einen Folgeantrag auf internationalen Schutz.

Am 12.10.2017 stellte die Mutter für denim Bundesgebiet nachgeborenen Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 4.12.2017 wurde die Mutter des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Sie gab an, dass der Beschwerdeführer keinen eigenen Fluchtgrund habe und gesund sei. Zum Grund für das Verlassen ihres Heimatlandes gab sie im Wesentlichen an, dass sie bereits alles erzählt habe. Ihre Kinder könnten aus demselben Grund nicht nach Armenien zurückkehren.

Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 20.8.2018 wurden die Anträge des Beschwerdeführers und seiner Mutter auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde jeweils der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei. Ferner wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe und wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.

In Erledigung der dagegen erhobenen Beschwerde wurden die angefochtenen Bescheide mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.11.2018 behoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

Am 1.4.2019 wurde die Mutter des Beschwerdeführers erneut vor der Behörde einvernommen.

Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wurde folglich mit Bescheid der belangten Behörde vom 18.6.2019 gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei. Der Beschwerde wurde gem. § 18 (1) Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.9.2019, L526 2206138-2/2E, gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm §§ 9, 18 (1) BFA-VG, sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

Den minderjährigen Beschwerdeführer betreffend wurde insbesondere festgehalten, dass für diesen keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht worden seien und aus den Verfahren der Mutter wie auch des Vaters (GZ L526 1413998) kein Schutz für ihn abzuleiten gewesen wäre.

Das erkennende Gericht übersehe nicht, dass er sein gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht habe. Jedoch sei zu berücksichtigen, dass aufgrund des noch mit einer hohen Anpassungsfähigkeit verbundenen Alters des minderjährigen Beschwerdeführers davon ausgegangen werden könne, dass für ihn der Übergang zu einem Leben im Herkunftsstaat nicht mit unzumutbaren Härten verbunden wäre (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 und EGMR 26.01.1999, Beschwerde Nr. 43.279/98, Sarumi, in der der EuGH Kindern im Alter von 7 und 11 Jahren eine Anpassungsfähigkeit, die eine Rückkehr mit ihren Eltern aus England, wo sie geboren wurden, nach Nigeria als keine unbillige Härte erscheinen ließ, attestierte). Überdies würde der minderjährige Beschwerdeführer in Begleitung in den Herkunftsstaat zurückkehren, wodurch die soziale Eingliederung in den Herkunftsstaat erleichtert würde. Selbst wenn gemäß Art 24 Abs. 2 GRC bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein müsse, könne ein grundsätzlicher Anspruch auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten beziehungswiese des Status der subsidiär Schutzberechtigten aus dieser Zielbestimmung nicht abgeleitet werden.

Im gegenständlichen Fall seien aufenthaltsbeendende Maßnahmen damit auch nicht aus dem Blickfeld des Kindeswohles unzulässig, zumal allfällige ungünstigere Entwicklungsbedingungen im Ausland für sich allein noch keine Gefährdung des Kindeswohls begründeten, vor allem dann, wenn die Familie von dort stamme (OGH 08.07.2003, Zl. 4Ob146/03d unter Verweis auf Coester in Staudinger, BGB13 § 1666 Rz 82 mwN). Zudem gehörten die Eltern und deren sozioökonomischen Verhältnisse grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes (ebd.). Im gegenständlichen Fall sei die gesamte Familie armenische Staatsbürger und alle im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bedroht. Beim Beschwerdeführer handle es sich um ein Kleinkind, dessen überwiegende Anknüpfungspunkte sich aus der Kernfamilie ergeben und es sei im Verfahren auch hervorgekommen, dass sich Verwandte der Eltern in Armenien befänden und sie dort auch über soziale Anknüpfungspunkte verfügen würden.

Am 3.3.2020 stellte seine Mutter einen Antrag auf internationalen Schutz in der Schweiz und wurde die Familie nach erfolgter Dublin-Zustimmung am 23.9.2020 nach Österreich überstellt.

Bei der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung zum gegenständlichen Folgeantrag durch die Beamten des öffentlichen Sicherheitsdienstes erklärte die Mutter des Beschwerdeführers im Wesentlichen, dieser befinde sich seit seiner Geburt in ihrer Obhut und habe keine eigenen Fluchtgründe, sondern es würden die seiner Mutter gelten.

Am 19.10.2020 wurde die Mutter des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen und betonte nochmals, dass das Kind gesund sei und keine eigenen Fluchtgründe habe, sondern die ihrigen gelten würden.

Nach der am 25.9.2019 rechtskräftigen Vorentscheidung hätten sie sich gemeinsam vom 2.3.2020 bis 23.9.2020 in der Schweiz aufgehalten.

Mit gegenständlich bekämpftem Bescheid des Bundesamtes vom 8.2.2021 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG hinsichtlich des Status des Asylberichtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine neuerliche Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Armenien zulässig ist (Spruchpunkt V.) und festgestellt, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist zur freiwilligen Ausreise besteht (Spruchpunkt VI.).

Am 10.2.2021 wurden dieser Bescheid sowie die Information gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG betreffend die amtswegige Zurverfügungstellung der BBU GmbH als Rechtsberatung der Mutter des Beschwerdeführers ordnungsgemäß gegen Unterschriftsleistung zugestellt. In der Rechtsmittelbelehrung wurde darauf hingewiesen, dass die Rechtsmittelfrist zwei Wochen betrage.

Am 12.3.2021 stellte die Mutter des Beschwerdeführers, vertreten durch die BBU GmbH, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, erhob gleichzeitig Beschwerde und beantragte die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.

Zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde begründend vorgebracht, dass die Mutter des Beschwerdeführers am 22.2.2021 bei der amtswegig zur Verfügung gestellten Rechtsberatung ein Beratungsgespräch bezüglich der Bescheide wahrgenommen habe. Im Laufe dieses Gesprächs habe sie ihren ausdrücklichen Wunsch einer Beschwerdeerhebung geäußert und für sich und ihre minderjährigen Kinder eine Vertretungsvollmacht unterzeichnet. Durch die Rechtsberaterin sei ihr versichert worden, dass die Beschwerde fristgerecht verfasst und dem Bundesamt übermittelt werde. Anschließend habe die Rechtsberaterin eine vierwöchige Rechtsmittelfrist ausgehend vom Bescheiddatum, sohin mit Fristende 8.3.2021, berechnet. In weiterer Folge sei aufgrund zeitlicher Ressourcen der Fall an eine andere Rechtsberaterin derselben Organisation übergeben worden. Am 1.3.2021 habe sich diese mit dem verfahrensgegenständlichen Fall befasst und festgestellt, dass ihre Kollegin irrtümlich eine falsche Rechtsmittelfrist ins System eingetragen habe und dementsprechend die Frist bereits abgelaufen sei.

Bezüglich der Beschwerde wurde im Wesentlichen vorgebracht, das Bundesamt habe es vernachlässigt, sich mit dem Kindeswohl zu befassen. Der Beschwerdeführer könne nur Jesidisch und Deutsch.

Mit Bescheid vom 8.4.2021 wurde der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 12.3.2021 gemäß § 71 Abs. 1 AVG abgewiesen.

Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage sämtlicher Asylanträge des Beschwerdeführers und seiner Mutter, der Einvernahmen der Mutter vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und des Bundesamts bzw. Bundesasylamtes sowie vor dem Asylgerichtshof und dem Bundesverwaltungsgericht, der bislang ergangenen Entscheidungen der belangten Behörde, des Asylgerichtshofes und des Bundesverwaltungsgerichts, der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid, der im Verfahren vorgelegten Schriftsätze sowie der Einsichtnahme in die Verwaltungs- und Gerichtsakten werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

Der minderjährige Beschwerdeführer ist armenischer Staatsangehöriger und wurde im Bundesgebiet geboren.

Die Mutter des Beschwerdeführers (GZ W119 1431375) brachte nach illegaler Einreise am 19.5.2012 im Bundesgebiet ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz ein. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.11.2012 gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status einer Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG wurde der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG wurde die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien verfügt (Spruchpunkt III.). Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Asylgerichtshof mit Entscheidung vom 21.2.2013 hinsichtlich Spruchpunkt I. gem. § 3 AsylG 2005 abgewiesen, sodass dieser in Rechtskraft erwuchs. In Erledigung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. und III. wurde der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gem. § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 3.7.2013 wurde der Mutter des Beschwerdeführers gem. § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde neuerlich die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien verfügt (Spruchpunkt III.). Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.9.2014 wurde die dagegen erhobene Beschwerde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen. Gemäß § 75 Abs. 20 AsylG wurde das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
Der in weiterer Folge eingebrachte Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.11.2014 gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG abgewiesen.
Am 18.5.2015 stellte die Mutter einen Folgeantrag auf internationalen Schutz.

Am 12.10.2017 stellte die Mutter für denim Bundesgebiet nachgeborenen Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 20.8.2018 wurden die Anträge des Beschwerdeführers und seiner Mutter auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde jeweils der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei. Ferner wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe und wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.

In Erledigung der dagegen erhobenen Beschwerde wurden die angefochtenen Bescheide mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.11.2018 behoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wurde folglich mit Bescheid der belangten Behörde vom 18.6.2019 gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei. Der Beschwerde wurde gem. § 18 (1) Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.9.2019, L526 2206138-2/2E, gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm §§ 9, 18 (1) BFA-VG, sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55, FPG als unbegründet abgewiesen.

Nach gemeinsamer Ausreise in die Schweiz stellte die Mutter dort am 3.3.2019 weitere Anträge auf internationalen Schutz.

Gegenständlich liegt ein Familienverfahren in Bezug auf die Mutter vor. Es wurden keine eigenen Fluchtgründe für den Beschwerdeführer geltend gemacht.

Eine maßgebliche Änderung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat seit rechtskräftigem Abschluss des Vorverfahrens am 25.9.2019 kann ebenso wenig festgestellt werden, wie eine maßgebliche Änderung der bereits in den Vorverfahren vorgebrachten Fluchtgründe.

Der Beschwerdeführer ist gesund.

Seit dem Abschluss des Vorverfahrens sind keine Umstände eingetreten, wonach dem Beschwerdeführer allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage ohne Hinzutreten individueller Faktoren in Armenien aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder ihm im Falle einer Rückkehr die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Neue Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.

Festgestellt wird, dass sich seit dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.9.2019 die Integration des Beschwerdeführers nicht entscheidungswesentlich verfestigt hat, zumal er sich vom 2.3.2020 bis zur Rückschiebung am 23.9.2020 in der Schweiz aufhielt.

Im Bundesgebiet befindet sich noch die Mutter (GZ W119 1431375) des Beschwerdeführers sowie die beiden minderjährigen Geschwister (GZ W119 1436703 und GZ W119 2206141), deren Beschwerden ebenfalls mit Erkenntnissen des heutigen Tages abgewiesen und gegen die gleichzeitig Rückkehrentscheidungen erlassen wurden. Gegen die Mutter besteht eine seit 25.9.2019 rechtskräftige Rückkehrentscheidung iVm einem fünfjährigen Einreiseverbot (GZ L526 1431375-5/7E). Das Asylverfahren des Vaters ist bereits rechtskräftig negativ abgeschlossen, auch gegen ihn besteht eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung (L526 1413998-4/3E). Er stellte aktuell keinen Folgeantrag.

Die Eltern des Beschwerdeführers sind nicht verheiratet. Der Beschwerdeführer und seine Geschwister sind bereits seit April 2019 – somit vor Erlassung des Vorerkenntnisses – vom Vater getrennt.

Der Beschwerdeführer befindet sich im anpassungsfähigen Alter. Er wuchs im armenischen Familienverband auf. Wie bereits in den Vorverfahren festgestellt, ist es nicht glaubwürdig, dass die Familie in der Heimat kein soziales Netzwerk hat.

Feststellungen zur Situation aufgrund der Corona-Pandemie:

Mit Stichtag vom 2.6.2021 werden von der World Health Organization (WHO) in Armenien 222.778 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei im Fall von 4.445 der infizierten Personen der Todesfall bestätigt worden ist. Die Tendenz ist insgesamt stark fallend und mit Stand 31.5.2021 waren nurmehr 142 Personen erkrankt. (WHO Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard | WHO Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard).

Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

COVID-19

Letzte Änderung: 09.11.2020

Informationen zur COVID-19-Situation in Armenien werden hauptsächlich in diesem Kapitel ihren Eingang finden. Vereinzelte Informationen finden sich jedoch auch in den nachfolgenden Kapiteln.

Aufgrund der derzeitigen Situation in Armenien (siehe dazu auch die KI vom 28.9.2020 betreffend Berg-Karabach) können daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt aktuelle seriöse Informationen zur COVID-19-Situation nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Websites der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der John Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Reisewarnung (Sicherheitsstufe 6) aufgrund der gegenwärtigen militärischen Kampfhandlungen um die Region Berg-Karabach und der Verhängung des Kriegsrechts. Zur Eindämmung des Coronavirus (COVID-19) wurde bis vorerst 11.01.2021 ein landesweites „Quarantäne-Regime“ erlassen. Weiterhin gelten die Maskenpflicht in allen öffentlichen Räumen und „Social Distancing“ sowie Hygieneregeln für die Geschäftswelt (BmeiA 9.11.2020).

Am 16. März 2020 rief die Regierung Armeniens den Ausnahmezustand aus, der fünf Mal verlängert wurde und am 11.September 2020 durch die Nationale Quarantäne ersetzt wurde, die nun bis 11.1.2021 gilt.

Armenien ist das am stärksten von COVID-19 betroffene Land im Südkaukasus. Trotz der Notsituation funktionieren fast alle Sektoren der armenischen Wirtschaft wieder, nachdem Unternehmen Anfang Mai wiedereröffnen durften, um den wirtschaftlichen Zusammenbruch abzuwehren.

Das Einreiseverbot in die Republik Armenien für nicht-armenische Staatsbürger vom 17.3.2020 wurde am 12.8.2020 aufgehoben, sofern der Grenzübertritt nicht auf dem Landweg erfolgt.

Der Grenzübertritt auf dem Landweg ist nur für folgende Personen gestattet:

?        Armenische Staatsangehörige und ihre Familienangehörigen;

?        Nicht-armenische Staatsangehörige mit einem legalen Aufenthaltstitel in Armenien

?        Personen diplomatischer Vertretungen, konsularischer Einrichtungen, internationaler Organisationen und ihre Familienangehörige;

?        Personen, die zu Beerdigungen und Gedenkfeiern kommen, wenn sie nahe Verwandte des Verstorbenen sind (Eltern, Ehepartner, Kinder, Geschwister)

?        Fahrer des internationalen Güterverkehrs, Güterzüge

?        Andere Sonderfälle mit spezieller Sondergenehmigung des Kommandanten, Vize-Pemierministers Tigran Avinyan

Die Einreise nach Armenien ist mit einem negativen PCR-Testergebnis aus Österreich, das max. 72 Stunden vor der Einreise gemacht wurde, gestattet. Das Testergebnis soll auf Englisch bzw. Russisch oder Armenisch ausgestellt werden. Alle Einreisenden, die ohne ein dokumentiertes PCR-Testergebnis einreisen, müssen sich auf eigene Kosten einem PCR-Test im Labor am Flughafen unterziehen und sich dort unter Quarantäne stellen bis das Ergebnis bekannt wird. Die Ergebnisse dieser PCR-Tests werden im ARMED-System registriert und der getesteten Person innerhalb von 48 Stunden zur Verfügung gestellt.

Die internationalen regulären Flugverbindungen nach/von Jerewan sind derzeit eingeschränkt. Air France aus Paris und Austrian Airlines aus Wien fliegen Armenien jeweils drei Mal pro Woche an. Da sich die Flugpläne jedoch jederzeit ändern können, ist ständige Überprüfung der aktuellen Situation auf der Homepage von Austrian Airlines notwendig.

Am 19.3.2020 haben die armenischen Behörden ein vorübergehendes Ausfuhr-Verbot für bestimmte medizinische Waren erlassen, um die Versorgung des Landes sicherzustellen und eine weitere Ausbreitung des Coronavirus in Armenien einzudämmen. Das betrifft Güter wie medizinische Schutzausrüstung, Beatmungsgeräte, COVID-19-Test Kits, Atemschutzmasken, medizinische Masken, Desinfektionsmittel auf Alkoholbasis und andere Artikel.

Anfang Mai 2020 wurden die Ausgangsbeschränkungen und Reisebeschränkungen innerhalb Armeniens aufgehoben.

Cafés und Restaurants dürfen seit 4.5.2020 im Freien den Betrieb wiederaufnehmen.

Stufenweise ist seit 18. Mai 2020 auch der Indoor-Betrieb in Lokalen sowie in allen Geschäften und Einkaufszentren unter Auflagen erlaubt. Ebenfalls wurde am 18. Mai 2020 der öffentliche Verkehr wiederaufgenommen. Alle Gewerbe- und Industriebetriebe dürfen unter den vorgegebenen Hygiene-und Sicherheitsmaßnahmen wieder öffnen.

Seit Anfang Juni gilt in Armenien eine allgemeine Masken-Pflicht für alle Personen und Kinder ab 6 Jahren an öffentlichen Orten inklusive öffentliche Verkehrsmitteln sowie Taxis.

Alle Schulen und Universitäten sind seit 15. September 2020 unter bestimmten Auflagen und Vorsichtsmaßnahmen wiedereröffnet. Einige Kurse je nach Universität bzw. Hochschule werden jedoch weiterhin online angeboten.

Kindergärten sind seit 18. Mai 2020 wieder geöffnet.

Das Versammlungsverbot wurde beschränkt aufgehoben. Erlaubt sind nun öffentliche und private Versammlungen bei Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5 Metern und mit obligatorischen Gesichtsmasken in einem Kreis von max. 60 Personen (WKO 5.11.2020).

Quellen:

BMeiA – Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (9.11.2020): Armenien, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/armenien/, Zugriff 9.11.2020
WKO – Wirtschaftskammer Österreich (5.11.2020): Coronavirus: Situation in Armenien, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-armenien.html, Zugriff 9.11.2020

Politische Lage

Letzte Änderung: 02.09.2020

Armenien (arm.: Hayastan) umfasst knapp 29.800 km² und hatte im ersten Quartal 2019 eine Einwohnerzahl von 2,96 Millionen, was einen Rückgang von 0,3% zum Vergleichszeitraum des Vorjahres ausmachte (ArmStat 7.5.2019). Davon sind laut der Volkszählung von 2011 98,1% ethnische Armenier. Den Rest bilden kleinere Ethnien wie Jesiden und Russen (CIA 14.2.2019).

Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 findet in Armenien ein umfangreicher Reformprozess auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene hin zu einem demokratisch und marktwirtschaftlich strukturierten Staat statt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen am 9.12.2018 konnten nach übereinstimmender Meinung aller Wahlbeobachter als frei und fair bezeichnet werden. Die im Dezember 2015 per Referendum gebilligte Verfassungsreform zielt auf den Umbau von einer semi-präsidialen in eine parlamentarische Demokratie ab. Die Änderungen betreffen u.a. eine Ausweitung des Grundrechtekatalogs sowie die weitere Stärkung des Parlaments (auch der Opposition). Das Amt des Staatspräsidenten wurde im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben reduziert, gleichzeitig die Rolle des Premierministers und des Parlaments gestärkt (AA 27.4.2020). Der Premierminister und der Präsident werden vom Parlament gewählt. Der Premierminister ist der Regierungsvorsitzende, während der Präsident vorwiegend zeremonielle Funktionen ausübt (USDOS 11.3.2020).

Oppositionsführer Nikol Paschinjan wurde im Mai 2018 vom Parlament zum Premierminister gewählt, nachdem er wochenlange Massenproteste gegen die Regierungspartei angeführt und damit die politische Landschaft des Landes verändert hatte. Er hatte Druck auf die regierende Republikanische Partei durch eine beispiellose Kampagne des zivilen Ungehorsams ausgeübt, was zum schockartigen Rücktritt Serzh Sargsyans führte, der kurz zuvor das verfassungsmäßig gestärkte Amt des Premierministers übernommen hatte, nachdem er zehn Jahre lang als Präsident gedient hatte (BBC 20.12.2018; vgl. AA 27.4.2020). Bei den als „Samtene Revolution“ bezeichneten Demonstrationen im April/Mai 2018 verhielten sich die Sicherheitskräfte zurückhaltend. Auch die Demonstranten waren bedacht, keinerlei Anlass zum Eingreifen der Sicherheitskräfte zu bieten (AA 27.4.2020).

Am 9.12.2018 fanden vorgezogene Parlamentswahlen statt, welche unter Achtung der Grundfreiheiten ein breites öffentliches Vertrauen genossen. Die offene politische Debatte, auch in den Medien, trug zu einem lebhaften Wahlkampf bei. Das generelle Fehlen von Verstößen gegen die Wahlordnung, einschließlich des Kaufs von Stimmen und des Drucks auf die Wähler, ermöglichte einen unverfälschten Wettbewerb (OSCE/ODIHR 10.12.2018). Die Allianz des amtierenden Premierministers Nikol Paschinjan unter dem Namen „Mein Schritt“ erzielte einen Erdrutschsieg und erreichte 70,4% der Stimmen. Die ehemalige mit absoluter Mehrheit regierende Republikanische Partei (HHK) erreichte nur 4,7% und verpasste die 5-Prozent-Marke, um in die 101-Sitze umfassende Nationalversammlung einzuziehen. Die Partei „Blühendes Armenien“ (BHK) des Geschäftsmannes Gagik Tsarukyan gewann 8,3%. An dritter Stelle lag die liberale, pro-westliche Partei „Leuchtendes Armenien“ unter Führung Edmon Maruyian, des einstigen Verbündeten von Paschinjan, mit 6,4% (RFE/RL 10.12.2018; vgl. ARMENPRESS 10.12.2018).

Zu den primären Zielen der Regierung unter Premierminister Paschinjan gehören die Bekämpfung der Korruption und Wirtschaftsreformen (RFL/RL 14.1.2019; vgl. FH 4.3.2020) sowie die Schaffung einer unabhängigen Justiz (168hours 20.7.2018; vgl. FH 4.3.2020). Seit Paschinjans Machtübernahme hat sich das innenpolitische Klima deutlich verbessert und dessen Regierung geht bestehende Menschenrechts-Defizite weitaus engagierter als die Vorgängerregierungen an, auch wenn immer noch Defizite bei der konsequenten Umsetzung der Gesetze bestehen (AA 27.4.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

?        ARMENPRESS – Armenian News Agency (10.12.2018): My Step – 70.44%, Prosperous Armenia – 8.27%, Bright Armenia – 6.37%: CEC approves protocol of preliminary results of snap elections, https://armenpress.am/eng/news/957626.html, Zugriff 21.3.2019

?        ArmStat - Statistical Committee of the Repbulic of Armenia (7.5.2019): Economic and Financial Data for the Republic of Armenia, https://armstat.am/nsdp/, Zugriff 8.5.2019

?        BBC News (20.12.2018):Armenia country profile, https://www.bbc.com/news/world-europe-17398605, Zugriff 21.3.2019

?        CIA - Central Intelligence Agency (30.4.2.2019): The World Factbook, Armenia; https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/am.html, Zugriff 7.5.2019

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Armenia, https://freedomhouse.org/country/armenia/freedom-world/2020, Zugriff 24.4.2020

?        OSCE/ODIHR – Organization for Security and Cooperation in Europe/ Office for Democratic Institutions and Human Rights et alia (10.12.2018): Armenia, Parliamentary Elections, 2 April 2017: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/armenia/405890?download=true, Zugriff 21.3.2019

?        RFE/RL – Radio Free Europe/ Radio Liberty (10.12.2018): Monitors Hail Armenian Vote, Call For Further Electoral Reforms, https://www.rferl.org/a/monitors-hail-armenia-s-snap-polls-call-for-further-electoral-reforms/29647816.html, 21.3.2019

?        RFE/RL – Radio Free Europe/ Radio Liberty (14.1.2019): Pashinian Reappointed Armenian PM After Securing Parliament Majority, https://www.rferl.org/a/pashinian-reappointed-armenian-pm-after-securing-parliament-majority/29708811.html, Zugriff 21.3.2019

?        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

?        168hours (20.7.2018): Fight against corruption and creation of independent judiciary main pillars of government’s economic policy – PM Paschinjan, https://en.168.am/2018/07/20/26637.html, Zugriff 21.3.2019

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 30.11.2020

Im Ende September 2020 aufgeflammten Konflikt um die von Armenien kontrollierte Region Bergkarabach gelang es unter Vermittlung Russlands einen Waffenstillstand zu erreichen. Armenien, das als Schutzmacht für Bergkarabach agiert, stimmte unter massivem Druck der Neun-Punkte-Erklärung zu. In der Erklärung verpflichteten sich die Parteien zu einem vollständigen Einstellen aller Kampfhandlungen auf den zuletzt gehaltenen Positionen. Darüber hinaus werden die von Armenien im ersten Karabach-Krieg Anfang der 1990er Jahre eroberten sieben aserbaidschanische Bezirke rund um Bergkarabach schrittweise bis 1.12.2020 an Baku zurückgegeben. Vier davon gingen bereits im Zuge der Kampfhandlungen seit September weitgehend an Aserbaidschan verloren. Mit der Erklärung wurde ebenso eine russische Peacekeeping-Mission etabliert welche 1.960 Mann umfasst und die den Waffenstillstand entlang der Kontaktlinie auf Seiten Bergkarabachs sichern soll. Neben den Peacekeepern soll auch ein außerhalb Karabachs befindliches Zentrum zur Überwachung der Waffenruhe entstehen. Ebenso vereinbart wurde ein Austausch der Kriegsgefangenen und gefallenen Soldaten. Der letzte Punkt der Vereinbarung weist auf die Öffnung aller Wirtschafts- und Transportwege in die Region hin. Dem zufolge muss Armenien Verkehrsverbindungen zwischen den westlichen Regionen der Republik Aserbaidschan und der südwestlich von Armenien gelegenen und an die Türkei grenzenden aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan sicherstellen. Der Status von Bergkarabach wurde in der Erklärung offen gelassen (IFK 11.2020).

In einer gemeinsamen Erklärung haben sich Russlands Präsident Wladimir Putin, sein aserbaidschanischer Amtskollege Ilham Alijew und der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan auf eine neue Grenzziehung und die Stationierung eines russischen Militärkontingents zur Sicherung des neuen Status quo im Konflikt um Berg-Karabach geeinigt. Aserbaidschan übernimmt rund die Hälfte des abtrünnigen Gebiets, darunter die zweitgrößte Stadt Schuscha, die strategisch von immenser Bedeutung ist (DerStandard 10.11.2020).

Paschinjan wurde zur Zielscheibe nationalistischen Hasses (DerStandard 10.11.2020). Tausende Menschen demonstrierten in Jerewan gegen die Waffenruhe. Sie beschimpften Paschinian als „Verräter“ und forderten seinen Rücktritt. Hunderte der Demonstranten stürmten den Regierungssitz und das Parlamentsgebäude (Krone 10.11.2020). Die Polizei ging mit Gewalt gegen Demonstranten vor. Es gab dutzende Festnahmen, auch weil Kundgebungen wegen des geltenden Kriegsrechts und wegen der Coronavirus-Pandemie nicht erlaubt sind. Unter den Festgenommenen waren auch mehrere Parlamentsabgeordnete (DerStandard 11.11.2020 vgl. ZeitOnline 11.11.2020).

Die Türkei und Russland richten ein Zentrum zur Überwachung der Waffenruhe zwischen Aserbaidschan und Armenien ein. Laut dem türkischen Präsident Tayyip Erdo?an soll das Zentrum "auf von der Besatzung befreitem aserbaidschanischem Gebiet" entstehen. Eine entsprechende Vereinbarung sei unterschrieben worden. Die Türkei werde sich laut Erdogan zusammen mit Russland an Friedenskräften beteiligen, um die Umsetzung der Waffenruhe zu beobachten. Dagegen stellte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erneut klar, dass das Zentrum zum Monitoring der Waffenruhe auf aserbaidschanischem Gebiet angesiedelt werde und nicht in Gebieten in Berg-Karabach, die zuvor von Aserbaidschan erobert worden waren. Er wies abermals zurück, dass auch die Türkei Friedenstruppen entsendet, da eine gemeinsame Mission nicht gesprochen wurde (DerStandard 11.11.2020).

Quellen:

?        DerStandard (10.11.2020): Umstrittener Waffenstillstand in Bergkarabach, https://www.derstandard.at/story/2000121604696/umstrittener-waffenstillstand-in-bergkarabach, Zugriff 12.11.2020

?        DerStandard (11.11.2020): Erdogan verkündet Einigung auf Überwachung der Feuerpause in Bergkarabach, https://www.derstandard.at/story/2000121627117/erdogan-verkuendet-vereinbarung-zur-ueberwachung-der-waffenruhe-massenproteste-in-armenien, Zugriff 12.11.2020

?        IFK – Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (11.2020): Bergkarabach: Neuordnung der regionalen Machtverhältnisse, https://www.bundesheer.at/php_docs/download_file.php?adresse=/pdf_pool/publikationen/ifk_monitor_65_lampalzer_bergkarabach_nov_20_web.pdf, Zugriff 27.11.2020

?        Krone (10.11.2020): Einigung auf Waffenruhe in Berg-Karabach, https://www.krone.at/2272372, Zugriff 12.11.2020

?        ZeitOnline (11.11.2020): Tausende Armenier protestieren gegen Abkommen mit Aserbaidschan, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-11/bergkarabach-konflikt-armenien-aserbaidschan-abkommen-massenproteste-nikol-paschinjan, Zugriff 12.11.2020

Regionale Problemzone: Berg-Karabach (Nagorny Karabach)

Letzte Änderung: 30.11.2020

Die sogenannte Republik Berg-Karabach ('RBK', russ.: Nagorny Karabach; in Armenien auch Arzach genannt) wird von keinem Staat völkerrechtlich anerkannt. Die aserbaidschanische Regierung besitzt faktisch keine Kontrolle über das Gebiet. Auch Armenien erkennt die 'Republik Berg-Karabach' offiziell nicht an, praktisch sind beide aber wirtschaftlich und rechtlich stark verflochten. Die Bewohner von Berg-Karabach erhalten neben ihrem RBK-Pass auch armenische Pässe (AA 27.4.2020). Armenien finanziert 55% des Budgets der Republik Arzach (ChH 4.6.2020).

Nach der Verfassung ist der Präsident sowohl Staats- als auch Regierungschef und hat die volle Autorität, Kabinettsmitglieder zu ernennen und zu entlassen. Im September 2017 wurde das Amt des Premierministers abgeschafft (FH 4.3.2020k).

Am 31.3.2020 fanden in Berg-Karabach - international nicht anerkannte - Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt (HBS 2.4.2020). Die Partei des Freien Vaterlandes von Harutjunyan gewann bei den Parlamentswahlen mehr als 40% der Stimmen und wird 16 der 33 Sitze kontrollieren, während die größte Oppositionskraft, die Partei der Vereinigten Heimat von Samvel Babajan, neun Sitze erhielt (CW 16.4.2020).

Bei der Wahl zum Präsidenten wurde ein zweiter Wahlgang notwendig, der am 14.4.2020, trotz des wegen COVID-19 zwei Tage zuvor ausgerufenen Notstandes, durchgeführt wurde. Die Notstandsregel verbietet öffentliche Versammlungen, beschränkt die Verkehrsanbindung innerhalb von Karabach und untersagt Bürgern Armeniens und anderer Länder die Einreise in die Region (CW 16.4.2020). Arayik Harutjunyan gewann mit mehr als 87% der abgegebenen Stimmen. Harutjunyan war 2017 bis 2018 Außenminister und 2007-2017 Premierminister der Republik Arzach (PA 15.4.2020) und verfehlte bereits im ersten Wahlgang am 31.3.2020 die notwendige Mehrheit nur um wenige hundert Stimmen (Armenpress 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020).

Armenische Wahlbeobachter berichten von weitverbreiteten Verletzungen des Wahlgeheimnisses (EN 1.4.2020). Kritisiert wurde weiters, dass wegen COVID-19 kein Wahlkampf geführt werden konnte wie in „normalen“ Zeiten – und zudem der Urnengang selbst das Risiko einer weiteren Ausbreitung des Virus deutlich erhöht habe (HBS 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020). Der im zweiten Wahlgang unterlegene Präsidentschaftskandidat Masis Mailjan forderte die Wähler auf, wegen der Pandemie nicht an den Wahlen teilzunehmen und weigerte sich auch, an Fernsehdebatten teilzunehmen (CW 16.4.2020).

Die Republik Arzach wurde bis zu den Wahlen von Verbündeten der 2018 von Paschinjan gestürzten armenischen Regierung regiert. Die Führer des ehemaligen armenischen Regimes, darunter die ehemaligen Präsidenten Serzh Sargsyan und Robert Kocharyan, unternahmen einige vage Anstrengungen, um über Berg-Karabach als letzte Bastion die Macht in Armenien wiederzugewinnen. Ihr favorisierter Kandidat, Vitaliy Balasanyan, versäumte bei den Präsidentenwahlen am 31.3.2020 den Einzug in den zweiten Wahlgang (EN 1.4.2020).

Die Justiz ist in der Praxis nicht unabhängig und die Gerichte werden von der Exekutive sowie von mächtigen politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Gruppen beeinflusst. Die Verfassung garantiert grundlegende Verfahrensrechte, aber Polizei und Gerichte halten diese in der Praxis nicht immer ein. Die Regierung kontrolliert viele der Medien. Im Jahr 2019 wurden Veränderungen durch die politische Öffnung in Armenien im Jahr 2018 mitbewirkt. Politische Kritiker der Führung, denen zuvor selbst kurze Auftritte verboten waren, wurden zu regelmäßigen Gästen in Sendungen zu aktuellen Themen. Darüber hinaus werden nun regelmäßig Debatten organisiert, um wichtige Themen des lokalen öffentlichen Lebens anzusprechen. Oppositionspolitiker haben auch gute Verbindungen zu unabhängigen Medien in Armenien, wodurch deren Ansichten auch in Berg-Karabach vermittelt werden. Dennoch praktizieren viele Journalisten Selbstzensur, insbesondere bei Themen im Zusammenhang mit dem Friedensprozess. Die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit, lässt aber Einschränkungen im Namen der Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und anderer staatlicher Interessen zu. In der Verfassung ist die Armenische Apostolische Kirche als 'nationale Kirche' des armenischen Volkes verankert. Die Religionsfreiheit anderer Gruppen wird in der Praxis eingeschränkt. Proteste sind in der Praxis relativ selten. Die Behörden blockieren Versammlungen und Demonstrationen, wenn sie diese als Bedrohung der öffentlichen Ordnung wahrnehmen (FH 4.3.2020).

Es gibt keine Erkenntnisse, wonach Personen bei Bekanntwerden einer (auch) aserbaidschanischen Herkunft mit staatlichen Übergriffen zu rechnen hätten. In Berg-Karabach gelten den armenischen Regelungen vergleichbare Vorschriften zur kostenlosen medizinischen Behandlung. Im Sozialwesen gibt es 'behördlich' Unterstützung. Die wirtschaftliche Situation in Berg-Karabach ist nach allgemeiner Einschätzung besser als in Armenien (AA 27.4.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

?        Armenpress (2.4.2020): Paschinjan praises 'high-quality' Artsakh elections, https://armenpress.am/eng/news/1010917.html, Zugriff 23.4.2020

?        ChH – Chatham House (4.6.2020): South Caucasus States Set to Diverge Further due to COVID-19, https://www.chathamhouse.org/expert/comment/south-caucasus-states-set-diverge-further-due-covid-19, Zugriff 5.6.2020

?        CW – Caucasus Watch (16.4.2020): Zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in Bergkarabach wurde trotz des erklärten Ausnahmezustands abgehalten, https://caucasuswatch.de/news/2623.html, Zugriff 23.4.2020

?        EN – Eurasianet (1.4.2020): Karabakh elections to go to a second round, https://eurasianet.org/karabakh-elections-to-go-to-a-second-round, Zugriff 23.4.2020

?        FH-Freedom House (4.3.2020k): Freedom in the World 2020 – Nagorno Karabakh, https://freedomhouse.org/country/nagorno-karabakh/freedom-world/2020, Zugriff 5.6.2020

?        HBS – Henirich-Böll-Stiftung / Stefan Meister (2.4.2020): Covid-19 im Südkaukasus – Schnelle Reaktionen und autoritäre Reflexe, https://www.boell.de/de/2020/04/02/covid-19-im-suedkaukasus-schnelle-reaktionen-und-autoritaere-reflexe, Zugriff 23.4.2020

?        NKR – President of the Artsakh Republic (o.D.): NKR, General information, http://www.president.nkr.am/en/nkr/generalInformation/, Zugriff 24.6.2020

?        PA – the PanArmenian (15.4.2020): Arayik Harutyunyan wins Artsakh vote, preliminary results show, http://www.panarmenian.net/eng/news/280152/, Zugriff 23.4.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter ist in Art. 162 und 164 der Verfassung verankert. Die Verfassung von 2015 hat die bisher weitreichenden Kompetenzen des Staatspräsidenten bei der Ernennung von Richtern reduziert. Das Vertrauen in das Justizsystem ist allerdings weiterhin schwach, da die Mehrzahl der Richter ihre Ämter unter der Vorgängerregierung erlangt hat. Die im Oktober 2019 verabschiedete Reform zur Justizstrategie zielt auf einen personellen Wechsel im Justizapparat ab. Verfahrensgrundrechte, wie rechtliches Gehör, faires Gerichtsverfahren und Rechtshilfe werden laut Verfassung gewährt. In Bezug auf den Zugang zur Justiz gab es in den letzten Jahren bereits Fortschritte, die Zahl der Pflichtverteidiger wurde erhöht und kostenlose Rechtshilfe kommt einer breiteren Bevölkerung zugute. Die Einflussnahme durch Machthaber auf laufende Verfahren war in der Vergangenheit in politisch heiklen Fällen verbreitet. Die derzeitige Regierung unter Premierminister Paschinjan hat sich von solchen Praktiken distanziert (AA 27.4.2020).

Zwar muss von Gesetzes wegen Angeklagten ein Rechtsbeistand gewährt werden, doch führt der Mangel an Pflichtverteidigern außerhalb Jerewans dazu, dass dieses Recht den Betroffenen verwehrt wird (USDOS 11.3.2020). Richter stehen unter systemischem politischem Druck und Justizbehörden werden durch Korruption untergraben. Berichten zufolge fühlen sich die Richter unter Druck gesetzt, mit Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, um Angeklagte zu verurteilen. Der Anteil an Freisprüchen ist extrem niedrig (FH 4.3.2020). Allerdings entließen viele Richter nach der 'Samtenen Revolution' im Frühjahr 2018 etliche Verdächtige in politisch sensiblen Fällen aus der Untersuchungshaft, was die Ansicht von Menschenrechtsgruppen bestätigte, dass vor den Ereignissen im April/Mai 2018 gerichtliche Entscheidungen politisch konnotiert waren, diese Verdächtigen in Haft zu halten, statt gegen Kaution freizulassen (USDOS 11.3.2020).

Trotz gegenteiliger Gesetzesbestimmungen zeigt die Gerichtsbarkeit keine umfassende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verwaltungsgerichte sind hingegen verglichen zu den anderen Gerichten unabhängiger. Sie leiden allerdings unter Personalmangel. Nach dem Regierungswechsel im Mai 2018 setzte sich das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Richter fort und einige Menschenrechtsanwälte erklärten, es gebe keine rechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz. NGOs berichten, dass Richter die Behauptungen der Angeklagten, ihre Aussage sei durch körperliche Übergriffe erzwungen worden, routinemäßig ignorieren. Die Korruption unter Richtern ist weiterhin ein Problem. Die am 10. Oktober 2019 verabschiedete Strategie für die Justiz- und Rechtsreform 2019-2023 zielt darauf ab, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz und das Justizsystem zu stärken und die Unabhängigkeit der Justiz zu fördern (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung und die Gesetze sehen das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess vor, aber die Justiz setzt dieses Recht nicht durch. Ebenso sieht das Gesetz die Unschuldsvermutung vor, Verdächtigen wird dieses Recht jedoch in der Regel nicht zugesprochen. Das Gesetz verlangt, dass die meisten Prozesse öffentlich sind, erlaubt aber Ausnahmen, auch im Interesse der 'Moral', der nationalen Sicherheit und des 'Schutzes des Privatlebens der Teilnehmer'. Gemäß dem Gesetz können Angeklagte Zeugen konfrontieren, Beweise präsentieren und den Behördenakt vor einem Prozess einsehen. Allerdings haben Angeklagte und ihre Anwälte kaum Möglichkeiten, die Aussagen von Behördenzeugen oder der Polizei anzufechten. Die Gerichte neigen währenddessen dazu, routinemäßig Beweismaterial zur Strafverfolgung anzunehmen. Zusätzlich verbietet das Gesetz Polizeibeamten, in ihrer offiziellen Funktion auszusagen, es sei denn, sie waren Zeugen oder Opfer (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Armenia, https://freedomhouse.org/country/armenia/freedom-world/2020, Zugriff 24.4.2020

?        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die Polizei ist für die innere Sicherheit zuständig, während der Nationale Sicherheitsdienst (NSD oder eng. NSS) für die nationale Sicherheit, die Geheimdienstaktivitäten und die Grenzkontrolle zuständig ist (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 27.4.2020). Beide Behörden sind direkt der Regierung unterstellt. Ein eigenes Innenministerium gibt es nicht. Die Beamten des NSD dürfen auch Verhaftungen durchführen. Hin und wieder treten Kompetenzstreitigkeiten auf, z.B. wenn ein vom NSD verhafteter Verdächtiger ebenfalls von der Polizei gesucht wird (AA 27.4.2020).

Der Sonderermittlungsdienst führt Voruntersuchungen in Strafsachen durch, die sich auf Delikte von Beamten der Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Justizorgane beziehen und von Personen, die einen staatlichen Sonderdienst ausüben. Auf Verlangen kann der Generalstaatsanwalt solche Fälle an die Ermittler des Sonderermittlungsdienstes weiterleiten (SIS o.D., vgl. USDOS 11.3.2020, HRW 14.1.2020). Der NSD und die Polizeichefs berichten direkt an den Premierminister. NSD, SIS, die Polizei und das Untersuchungskomitee unterliegen demzufolge der Kontrolle der zivilen Behörden (USDOS 11.3.2020).

Obwohl das Gesetz von den Gesetzesvollzugsorganen die Erlangung eines Haftbefehls verlangt oder zumindest das Vorliegen eines begründeten Verdachts für die Festnahme, nahmen die Behörden gelegentlich Verdächtige fest oder sperrten diese ein, ohne dass ein Haftbefehl oder ein begründeter Verdacht vorlag. Nach 72 Stunden muss laut Gesetz die Freilassung oder ein richterlicher Haftbefehl erwirkt werden. Angeklagte haben ab dem Zeitpunkt der Verhaftung Anspruch auf Vertretung durch einen Anwalt bzw. Pflichtverteidiger. Die Polizei vermeidet es oft, betroffene Personen über ihre Rechte aufzuklären. Statt Personen formell zu verhaften, werden diese vorgeladen und unter dem Vorwand festgehalten, eher wichtige Zeugen denn Verdächtige zu sein. Hierdurch ist die Polizei in der Lage, Personen zu befragen, ohne das das Recht auf einen Anwalt eingeräumt wird (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Armenia, https://www.hrw.org/world-report/2020/country-chapters/armenia, Zugriff 16.1.2020

?        SIS - Special Investigation Service of Republic of Armenia (o.D.): History http://www.ccc.am/en/1428926241, Zugriff 24.6.2020

?        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 02.09.2020

Das Gesetz verbietet Folter und andere Formen von Misshandlungen. Dennoch gibt es Berichte, dass Mitglieder der Sicherheitskräfte Personen in ihrer Haft gefoltert oder anderweitig missbraucht haben. Laut Menschenrechtsanwälten definiert und kriminalisiert das Strafgesetzbuch zwar Folter, aber die einschlägigen Bestimmungen kriminalisieren keine unmenschliche und erniedrigende Behandlungen (USDOS 11.3.2020). Menschenrechtsorganisationen haben bis zur „Samtenen Revolution“ immer wieder glaubwürdig von Fällen berichtet, in denen es bei Verhaftungen oder Verhören zu unverhältnismäßiger Gewaltanwendung gekommen sein soll. Folteropfer können den Rechtsweg nutzen, einschließlich der Möglichkeit, sich an den Verfassungsgerichtshof bzw. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu wenden (AA 27.4.2020). Gemäß Menschenrechtsanwälten führte die Straffreiheit von Folter in der Zeit vor der „Samtenen Revolution“ dazu, dass Folter weiterhin angewandt wird, wenn auch nun in geringerem Ausmaß, und alte Fälle von Folter werden nicht aufgearbeitet (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 27.4.2020).

Misshandlungen finden auf Polizeistationen statt, die im Gegensatz zu Gefängnissen und Polizeigefängnissen nicht der öffentlichen Kontrolle unterliegen. Nach Ansicht von Menschenrechtsanwälten gab es keine ausreichenden verfahrensrechtlichen Garantien gegen Misshandlungen bei polizeilichen Vernehmungen, wie z.B. den Zugang zu einem Anwalt durch die zur Polizei als Zeugen geladenen Personen sowie die Unzulässigkeit von Beweisen, die durch Gewalt- oder Verfahrensverletzungen gewonnen wurden (USDOS 11.3.2020). In einem Antwortschreiben an das Helsinki Komitee Armeniens bezifferte der Special Investigation Service (SIS) die Anzahl der strafrechtlichen Untersuchungen bezüglich des Vorwurfes von Folter im Zeitraum zwischen dem 1.1. und dem 23.12.2019 auf 4 (HCA 25.2.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030001/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

?        HCA – Helsinki Committee of Armenia (25.2.2020): Human Rights in Armenia – 2019 Report, http://armhels.com/wp-content/uploads/2020/02/Ditord-2020Eng_Ditord-2019arm-2.pdf, Zugriff 24.6.2020

?        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

Korruption

Letzte Änderung: 02.09.2020

Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen bei behördlicher Korruption vor. Das Land hat eine Hinterlassenschaft der systemischen Korruption in vielen Bereichen. Nach der „Samtenen Revolution“ im Mai 2018 eröffnete die Regierung eine Untersuchung, die die systematische Korruption in den meisten Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens aufdeckte und es wurden zahlreiche Strafverfahren gegen mutmaßliche Korruption durch ehemalige Regierungsbeamte und ihre Angehörigen, Parlamentarier und in einigen Fällen auch durch Angehörige der Justiz und ihre Verwandten und einige wenige derzeitige Regierungsbeamte eingeleitet. 2018 machte die Regierung die Korruptionsbekämpfung zu einer ihrer obersten Prioritäten und setzte ihre Maßnahmen zur Beseitigung der Korruption im Laufe des Jahres fort. Obwohl Spitzenbeamte die „Ausrottung der Korruption“ im Land ankündigten, stellten lokale Beobachter fest, dass Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung einer weiteren Institutionalisierung bedürfen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020, SWP 5.2020).

Die Regierung unternimmt Schritte, die Antikorruptionsmechanismen des Landes zu stärken. Im Oktober 2019 veröffentlichte sie einen Drei-Jahres-Aktionsplan, der die Schaffung eines neuen Antikorruptionsausschusses bis 2021 vorsieht. Die Regierung plant auch, die bestehende Kommission zur Korruptionsprävention zu stärken (FH 4.3.2020; vgl. SWP 5.2020).

Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex 2019 von Transparency International belegte Armenien mit 44 Punkten Rang 77 von 180 untersuchten Ländern (TI 23.1.2020), im Vergleich zum Vorjahr mit 35 Punkten und Rang 105 von 180 Staaten (TI 2018).

Quellen:

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Armenia, https://freedomhouse.org/country/armenia/freedom-world/2020, Zugriff 24.4.2020

?        SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (5.2020): Korruptio

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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