TE Vwgh Beschluss 2021/2/5 Ra 2020/19/0322

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Veröffentlicht am 05.02.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verfassungsgerichtshof
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
B-VG Art133 Abs4
B-VG Art135 Abs3
BVwGG 2014 §17 Abs3
MRK Art8
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des A A B, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. April 2020, Zl. I413 2198817-1/27E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am 26. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, die schiitische Asa’ib Ahl al-Haqq Miliz habe die gesamte Familie bedroht sowie seinen Vater entführt und getötet.

2        Mit Bescheid vom 22. Mai 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Mit Beschluss vom 26. Juni 2020, E 1596/2020-5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat sie gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

5        In der Folge erhob der Revisionswerber die gegenständliche außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof.

6        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7        Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

8        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9        Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit (in Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten) vor, das BVwG habe Beweisergebnisse der Erstbefragung in Abweichung von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in unzulässiger Weise verwertet. Es habe in seinem Erkenntnis selbst eingeräumt, dass jener Teil des in der Niederschrift der Erstbefragung protokollierten Fluchtvorbringens des Revisionswerbers, der sich auf eine versuchte Zwangsrekrutierung durch den Islamischen Staat bezogen habe, irrtümlich aus dem Fluchtvorbringen einer anderen Person, deren Erstbefragung unmittelbar vor jener des Revisionswerbers stattgefunden habe, übernommen worden sei. Auf Grund dieses Fehlers sowie offenkundiger („notorischer“) Schlampigkeit in der Verfahrensführung bei der polizeilichen Erstbefragung komme dem polizeilichen Erstbefragungsprotokoll überhaupt kein Beweiswert zu. Sämtliche Ausführungen des BVwG, mit denen die Glaubwürdigkeit des Revisionswerbers und die Glaubhaftigkeit seiner Angaben unter Bezugnahme auf das Protokoll der polizeilichen Erstbefragung in Abrede gestellt worden seien, würden sich damit als unbegründet erweisen. Auch habe das BVwG ausdrücklich betont, dass ein Widerspruch hinsichtlich des in der Erstbefragung vermerkten Fluchtvorbringens bezüglich einer versuchten Zwangsrekrutierung durch den IS zu den weiteren Angaben des Revisionswerbers im Verfahren nicht in die beweiswürdigenden Erwägungen hinsichtlich der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens miteinfließen würde. Allerdings habe das BVwG in der Folge sehr wohl die in der Niederschrift zur polizeilichen Erstbefragung enthaltenen bzw. nicht enthaltenen Angaben in die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einbezogen.

10       Soweit die Revision mit diesem Vorbringen die Zulässigkeit jeglicher beweiswürdigender Verwertung der Niederschrift der - durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erfolgten - Erstbefragung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren in Abrede stellen will, ist darauf zu verweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof zwar wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung erhoben hat, weil sich diese Einvernahme nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Gleichwohl ist es aber nicht generell unzulässig, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. VwGH 26.8.2020, Ra 2020/18/0132, mwN). Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 ist es weder der Behörde noch dem BVwG verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zwischen der Erstbefragung und späteren Angaben einzubeziehen. Es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese Widersprüche fallbezogen zurückzuführen sind (VwGH 26.3.2019, Ra 2018/19/0607; 11.8.2020, Ra 2020/14/0347, jeweils mwN).

11       Im vorliegenden Fall führte das BVwG auf Grund des vom Revisionswerber in zwei schriftlichen Stellungnahmen im verwaltungsbehördlichen Verfahren gerügten Umstandes, dass das im Erstbefragungsprotokoll des unmittelbar vor dem Revisionswerber erstbefragten Asylwerbers enthaltene Fluchtvorbringen wortgleich laute wie der zweite Teil des in der Niederschrift der Erstbefragung des Revisionswerbers protokollierten Fluchtvorbringens in Hinblick auf eine etwaige Bedrohung durch den IS, eigene diesbezügliche Ermittlungen durch und vernahm den Exekutivbeamten, der die Erstbefragung des Revisionswerbers durchgeführt hatte, sowie den beigezogenen Dolmetscher im Rahmen der mündlichen Verhandlung als Zeugen ein. Da nach Ansicht des BVwG auch dadurch nicht restlos habe geklärt werden können, wie es zu der genannten teilweisen Übereinstimmung gekommen sei, sah es entgegen dem Revisionsvorbringen davon ab, Widersprüche hinsichtlich des in der Erstbefragung vermerkten Fluchtvorbringens bezüglich einer versuchten Zwangsrekrutierung durch den IS zu den weiteren Angaben des Revisionswerbers im Verfahren in die beweiswürdigenden Erwägungen hinsichtlich der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens miteinzubeziehen. Vor dem Hintergrund der oben genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist nicht ersichtlich, dass eine Verwertung des übrigen in der Niederschrift der Erstbefragung protokollierten Fluchtvorbringens des Revisionswerbers als unzulässig anzusehen wäre.

12       Des Weiteren bringt die Revision vor, es sei das Recht des Revisionswerbers auf Parteiengehör verletzt worden. Das BVwG habe nämlich die rechtzeitig (vor Ende der von ihm gesetzten dreiwöchigen Frist) eingebrachte Stellungnahme zu den Ergebnissen der vom BVwG eingeholten bzw. herangezogenen Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation zum Beschäftigungsverhältnis und einer etwaigen Tötung des Vaters des Revisionswerbers bzw. zur Asa’ib Ahl al-Haqq Miliz in seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Durch das vollständige Ignorieren der in der Stellungnahme geäußerten fundierten Kritik an den Ermittlungsergebnissen sei dem Revisionswerber eine zentrale Stellungnahmemöglichkeit im Verfahren genommen worden. Dieser Verfahrensmangel sei offenkundig relevant, weil das Gericht bei tatsächlicher Gewährung des Parteiengehörs und Berücksichtigung der Stellungnahme Anlass zu weiteren Ermittlungen gehabt hätte. Hinsichtlich der für die Stellungnahme vom BVwG gesetzten Frist sei in Hinblick auf die durch COVID-19 bedingten Verfahrensunterbrechungen im Übrigen zweifelhaft, ob sie überhaupt im April habe enden dürfen.

13       Werden (wie hier) Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss in der gesonderten Zulässigkeitsbegründung auch deren Relevanz dargetan werden, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können. Dies setzt voraus, dass - auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (VwGH 31.7.2020, Ra 2020/19/0260). Auch eine Verletzung des Parteiengehörs bewirkt nur dann einen wesentlichen Mangel, wenn das Verwaltungsgericht bei dessen Vermeidung zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können. Der Revisionswerber muss deshalb die entscheidenden Tatsachen behaupten, die dem Verwaltungsgericht wegen des Verfahrensmangels unbekannt geblieben sind. Er darf sich nicht darauf beschränken, den Mangel bloß zu rügen, sondern muss konkret darlegen, welches Vorbringen er im Fall der Einräumung des vermissten Parteiengehörs erstattet hätte und inwiefern das Verwaltungsgericht dadurch zu einer anderen (für ihn günstigeren) Entscheidung hätte gelangen können (VwGH 5.3.2020, Ra 2019/19/0071).

14       Der Revisionswerber macht in der Revision, wie schon in seiner vom BVwG nicht berücksichtigten Stellungnahme, im Wesentlichen geltend, dass die in Form der Anfragebeantwortungen vorliegenden Beweisergebnisse in gewissen Belangen zu wenig Substanz aufwiesen und nicht vollständig auf sein Vorbringen übertragbar seien. Damit wird die Relevanz der mangelnden Berücksichtigung seiner Stellungnahme schon insofern nicht dargetan, als das BVwG die Beweisergebnisse aus den Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation lediglich ergänzend und in untergeordnetem Maß bei der Beweiswürdigung des Fluchtvorbringens des Revisionswerbers heranzog und die Revision für diese Würdigung maßgebliche, über die Ergebnisse des verwaltungsgerichtlichen Beweisverfahrens hinausgehende Tatsachen nicht vorbringt.

15       Die Revision macht zudem geltend, das BVwG habe die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen. Eine solche sieht sie darin, dass ein „im Copy- & Paste-Verfahren zusammengebasteltes“ polizeiliches Erstbefragungsprotokoll als tragendes Element gegen die persönliche Glaubwürdigkeit des Revisionswerbers herangezogen worden sei. Ebenso sei die bereits oben genannte Stellungnahme des Revisionswerbers nicht abgewartet und berücksichtigt worden. Auch hätte sich das BVwG mit der Frage befassen müssen, inwieweit der Umstand, dass einem Bruder des Revisionswerbers in Belgien der Status eines Asylberechtigten zuerkannt worden sei, Auswirkungen auf die Einschätzung der Glaubhaftigkeit der Angaben des Revisionswerbers zeitige. Eine unzulässige vorgreifende Beweiswürdigung liege deshalb vor, weil sich das BVwG mit den vorgelegten Beweismitteln zur Verfolgung im Irak inhaltlich teilweise gar nicht und teilweise nur oberflächlich auseinandergesetzt habe. Es habe die Bescheinigungsmittel, nämlich den Drohbrief der Milizen an die Familie, die Sterbeurkunde lautend auf den Vater, eine Bestätigung des Beschäftigungsverhältnisses des Vaters beim irakischen Handelsministerium sowie zwei polizeiliche Anzeigenbestätigungen aus dem Irak jeweils mit beglaubigten Übersetzungsschreiben gelistet, sei aber nicht auf deren Inhalt eingegangen, sondern habe ihnen mit dem Hinweis, dass im Irak ohnehin jedes Dokument gegen Bezahlung beschafft werden könne, pauschal und ex ante die Echtheit abgesprochen. Bei der Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Revisionswerbers habe das BVwG zum einen die strafrechtliche Verurteilung des Zwillingsbruders wegen eines Urkundendelikts im Bundesgebiet in nicht nachvollziehbarer Weise ins Treffen geführt. Zum anderen habe es die „permanenten“ Datumsangaben des Revisionswerbers als „exzessiv“ bezeichnet, welche sich leicht einstudieren lassen würden. Das BVwG verkenne dabei, dass der Revisionswerber über einen hohen Bildungsgrad verfüge und ein intelligenter Mensch sei, dem bewusst sei, dass ein Gericht eine chronologische Darstellung von Fluchtereignissen benötige, um einen Sachverhalt feststellen zu können.

16       Schließlich seien die seitens des BVwG angeführten Aspekte für angebliche Ungereimtheiten im Verfahren bei näherer Betrachtung keine und die Ausführungen des BVwG dazu, dass unklar sei, welchen Posten der Vater des Revisionswerbers im ehemaligen Handelsministerium unter der Führung von Saddam Hussein und danach bis 2005 gehabt habe, nicht nachvollziehbar.

17       Als Rechtsinstanz ist der Verwaltungsgerichtshof zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung in Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht im Einzelfall die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 31.8.2020, Ra 2020/19/0232, mwN).

18       Im vorliegenden Fall stützte das BVwG seine Feststellungen zu den Fluchtgründen zusammengefasst darauf, dass der Revisionswerber die im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde vorgebrachte Entführung und Tötung seines Vaters in der polizeilichen Erstbefragung mit keinem Wort erwähnt habe, er diese Steigerung auch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nicht überzeugend habe aufklären können, an der Echtheit der vom Revisionswerber vorgelegten Bescheinigungsmittel ernsthafte Zweifel bestünden, sich die Schilderungen des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung als äußerst oberflächlich erwiesen und alle „Realkriterien“, wie sie für Schilderungen von selbst wahrgenommenen Ereignissen typisch seien, vermissen ließen und seine Ausführungen zur angeblichen Veröffentlichung seines Namens am Flughafen in Bagdad nicht plausibel seien. Ebenso habe der Revisionswerber selbst eingeräumt, dass seine Familie im Irak nach dem angeblich fluchtauslösenden Ereignis nie mehr behelligt worden sei. Dabei sei die Echtheit der vorgelegten Bescheinigungsmittel aus mehreren Gründen nicht anzunehmen. Erstens sei nicht nachvollziehbar, dass der Revisionswerber vor der belangten Behörde behauptet habe, sein in Belgien aufhältiger Bruder habe ihm den Drohbrief und die Anzeigenbestätigung Ende des Jahres 2017 aus Belgien mitgebracht, nachdem er die Dokumente bereits bei seiner Ausreise aus dem Irak mitgenommen hätte, obwohl der Bruder den Irak bereits vor Erstattung der zweiten Anzeige verlassen habe. Zweitens lasse sich auch das Datum der zweiten Anzeigenbestätigung nicht mit den Angaben des Revisionswerbers zu seinem weiteren Aufenthalt im Herkunftsstaat nach Erstattung der Anzeige in Einklang bringen. Schließlich weise die Bestätigung über die Beschäftigung des Vaters des Revisionswerbers dessen Tätigkeit als „Leiter der Lagerabteilung“ aus, was vom Vorbringen des Revisionswerbers erheblich abweiche. Die Revision, die diesen Erwägungen nicht substantiiert entgegentritt, vermag eine vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifende Mangelhaftigkeit dieser Beweiswürdigung nicht aufzuzeigen.

19       Schließlich bringt die Revision zur Begründung ihrer Zulässigkeit hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten vor, das BVwG habe verkannt, dass die Verfahren der gemeinsam geflohenen Zwillingsbrüder auf Grund des untrennbaren inhaltlichen Zusammenhangs gemeinsam zu führen gewesen wären und die Glaubwürdigkeit des Vorbringens der Fluchtgründe des Revisionswerbers nicht isoliert von den Angaben seines Bruders hätte beurteilt werden dürfen. Tatsächlich sei für beide Brüder ursprünglich dieselbe Gerichtsabteilung zuständig gewesen. Allerdings sei die Beschwerde des Revisionswerbers auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25. September 2018 der Gerichtsabteilung I401 abgenommen und der Gerichtsabteilung I413 zugeteilt worden.

20       Gemäß § 17 Abs. 1 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG) wird jede im BVwG anfallende Rechtssache dem nach der Geschäftsverteilung zuständigen Einzelrichter oder Senat zugewiesen. Nach § 17 Abs. 3 BVwGG kann der Geschäftsverteilungsausschuss einem Einzelrichter oder Senat eine ihm zufallende Rechtssache durch Verfügung abnehmen, wenn der Einzelrichter oder Senat verhindert oder wegen des Umfangs seiner Aufgaben an deren Erledigung innerhalb einer angemessenen Frist gehindert ist. Diese einfachgesetzliche Regelung findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 135 Abs. 3 B-VG (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0365, mwN).

21       Die mit einem Schriftsatz eingebrachten Beschwerden der Zwillingsbrüder langten ausweislich des Eingangsstempels der Beschwerdevorlage am 21. Juni 2018 beim BVwG ein. Auf sie war daher die Geschäftsverteilung 2018 des BVwG in der Fassung vom 14. Juni 2018 anzuwenden. Gemäß deren § 24 Abs. 3 Z 2 liegt Annexität im Zeitpunkt des Einlangens der Beschwerden insbesondere dann vor, wenn sich eine Rechtssache nach dem AsylG 2005 auf ein Familienmitglied einer Person im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 bezieht, auf die sich ein anderes anhängiges Verfahren nach dem AsylG 2005 bezieht (Bezugsperson). Da der Zwillingsbruder danach nicht als Familienmitglied des Revisionswerbers im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 gilt, handelte es sich bei den beiden Beschwerdeverfahren im Zeitpunkt des Einlangens der Beschwerden um keine Annexsachen.

22       Nachdem die Beschwerde des Revisionswerbers bei Eingang der Gerichtsabteilung L507 zugeteilt worden war, wurde sie laut im Gerichtsakt einliegenden Aktenvermerk vom 4. Oktober 2018 mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25. September 2018 der Gerichtsabteilung L507 abgenommen und der Gerichtsabteilung I413 neu zugewiesen. Gemäß § 3 der genannten Verfügung waren die vorgesehenen Zuweisungen unter Wahrung „bestehender Annexitäten“ vorzunehmen. Die Revision zeigt mit ihrem Vorbringen folglich nicht auf, dass der erkennende Richter seine Zuständigkeit rechtswidrig wahrgenommen hätte.

23       Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten macht die Revision geltend, die angefochtene Entscheidung sei hinsichtlich der allgemeinen Situation im Irak letztlich insofern bereits grob mangelhaft, als das BVwG die aktuellen Entwicklungen auf Grund der Corona-Pandemie völlig außer Acht gelassen habe. Hätte das BVwG grundlegende Ermittlungen durchgeführt, hätte sich rasch ergeben, dass es sehr wohl Länderberichte, wie beispielsweise vom Deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dazu gebe, dass die COVID-19-Pandemie spürbare Auswirkungen auf die Bewegungsfreiheit der Menschen im Irak und auf die Versorgungslage vor Ort habe. Angesichts dieser Situation habe zum Entscheidungszeitpunkt nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können, dass sich auf Grund einer veränderten Versorgungslage und der geltenden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit reale Risiken dafür ergeben würden, dass der Revisionswerber im Fall seiner Rückkehr in eine unmenschliche oder erniedrigende Lage im Sinne des Art. 3 EMRK geraten würde.

24       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht jedoch nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 20.8.2020, Ra 2020/19/0239, mwN).

25       Der Revision gelingt es mit dem bloßen Hinweis auf spürbare Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Bewegungsfreiheit der Menschen im Irak und auf die Versorgungslage vor Ort nicht aufzuzeigen, warum das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich des Revisionswerbers, der nach den Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis ein gesunder, erwerbsfähiger und volljähriger Mann sei, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 8 AsylG 2005 abgewichen wäre.

26       Hinsichtlich der Erlassung einer Rückkehrentscheidung macht die Revision als Zulässigkeitsgrund geltend, das BVwG sei von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes insofern abgewichen, als es unter Hinweis auf die Zeitspanne, seit der sich der Revisionswerber in Österreich aufhalte, von keinem Überwiegen der Interessen des Revisionswerbers an seinem weiteren Aufenthalt in Österreich ausgehe und dabei insbesondere maßgebliche Aspekte, die für eine herausragende Integration des Revisionswerbers sprechen, wie Zeugenaussagen von Personen aus seinem nächsten Umfeld, unberücksichtigt gelassen habe. Auch sei die Beweiswürdigung des Vorbringens des Revisionswerbers zu seinen sozialen Kontakten in Österreich durch das BVwG insofern willkürlich, als eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den vom Revisionswerber vorgelegten Empfehlungsschreiben tatsächlich nicht erfolgt sei. Es sei zudem unverständlich und nicht nachvollziehbar, dass das BVwG zur Überprüfung, ob ein soziales Netzwerk des Revisionswerbers in Österreich zu bejahen sei, keine der erklärten Freunde und Bezugspersonen des Revisionswerbers geladen habe, sondern neben der Lebensgefährtin lediglich solche Personen, die Freunde seines Zwillingsbruders seien.

27       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG dar (vgl. etwa VwGH 31.8.2020, Ra 2020/19/0116 bis 0118).

28       Das BVwG hat - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - für die Interessenabwägung maßgebliche Umstände betreffend den Eingriff in das Recht auf Privatleben festgestellt und ist zu dem Schluss gelangt, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Inland überwiegen. Der Revision gelingt es nicht darzulegen, dass diese Interessenabwägung unvertretbar erfolgt wäre. Ob die einzelfallbezogene Abwägung, die zu einem zumindest vertretbaren Ergebnis gelangt ist, in jeder Hinsicht zutrifft, stellt keine grundsätzliche Rechtsfrage dar (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2019/19/0524). Auch zeigt die Revision nicht auf, zu welchen anderen Feststellungen über die maßgeblichen Umstände das BVwG im Fall der Einvernahme zusätzlicher Zeugen gelangt wäre.

29       In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 5. Februar 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190322.L00

Im RIS seit

23.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

23.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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