TE Vfgh Erkenntnis 2020/11/27 G8/2020 ua

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Veröffentlicht am 27.11.2020
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Index

32/02 Steuern vom Einkommen und Ertrag

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
EStG 1988 §9 Abs1 Z3, §9 Abs2, §14 Abs6, §14 Abs12
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Keine Gleichheitswidrigkeit von Bestimmungen des EStG 1998 betreffend die unterschiedlichen Abzinsungssätze für Abfertigungs-, Jubiläumsgeld- und Pensionsrückstellungen mit einem Rechnungszinsfuß iHv 6% im Vergleich zum Zinssatz für langfristige Rückstellungen für sonstige ungewisse Verbindlichkeiten iHv 3,5%; höherer Rechnungszinsfuß für die dem Sozialkapital zuzurechnenden Jubiläumsgeldrückstellungen im rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers

Spruch

I. Soweit sich die Anträge gegen die Wortfolgen "sowie Rückstellungen für Jubiläumsgelder" in §9 Abs2 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988), BGBl Nr 400, idF BGBl I Nr 28/1999 und ", wenn die Rückstellungen nicht Abfertigungen, Pensionen oder Jubiläumsgelder betreffen" in §9 Abs1 Z3 EStG 1988 idF BGBl I Nr 71/2003 sowie §14 Abs12 EStG 1988 idF BGBl I Nr 28/1999 richten, werden sie abgewiesen.

II. Im Übrigen werden die Anträge zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anträge

Mit den zu G8-9/2020 und G11-12/2020 protokollierten, auf Art140 Abs1 Z1 lita B-VG gestützten Anträgen begehrt das Bundesfinanzgericht,

"1. §14 Abs6 Z6 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art3 Z9 lita des Budgetbegleitgesetzes 2007, BGBl I Nr 24/2007 sowie die Wortfolge ', des Abs6 Z6' in §14 Abs12 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art3 Z9 lith des Budgetbegleitgesetzes 2007, BGBl I Nr 24/2007 sowie die Wortfolge ', wenn die Rückstellungen nicht Abfertigungen, Pensionen oder Jubiläumsgelder betreffen' in §9 Abs1 Z3 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art39 Z6 des Budgetbegleitgesetzes 2003, BGBl I Nr 71/2003;

2. in eventu, die Wortfolge ', des Abs6 Z6' in §14 Abs12 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art3 Z9 lith des Budgetbegleitgesetzes 2007, BGBl I Nr 24/2007 sowie die Wortfolge ', wenn die Rückstellungen nicht Abfertigungen, Pensionen oder Jubiläumsgelder betreffen' in §9 Abs1 Z3 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art39 Z6 des Budgetbegleitgesetzes 2003, BGBl I Nr 71/2003;

3. in eventu, die Wortfolge ', des Abs6 Z6' in §14 Abs12 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art3 Z9 lith des Budgetbegleitgesetzes 2007, BGBl I Nr 24/2007 sowie die Wortfolge 'oder Jubiläumsgelder' in §9 Abs1 Z3 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art39 Z6 des Budgetbegleitgesetzes 2003, BGBl I Nr 71/2003;

4. in eventu, die Wortfolge ', des Abs6 Z6' in §14 Abs12 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art3 Z9 lith des Budgetbegleitgesetzes 2007, BGBl I Nr 24/2007;

5. in eventu, §14 Abs6 Z6 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art3 Z9 lita des Budgetbegleitgesetzes 2007, BGBl I Nr 24/2007 sowie die Wortfolge ', des Abs6 Z6' in §14 Abs12 dritter Satz desselben Bundesgesetzes in der Fassung des Art3 Z9 lith des Budgetbegleitgesetzes 2007, BGBl I Nr 24/2007;

6. in eventu, die Wortfolge 'sowie Rückstellungen für Jubiläumsgelder' in §9 Abs2 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art1 Z1 des Abgabenänderungsgesetzes 1998, BGBl I Nr 28/1999 sowie die Wortfolge ', wenn die Rückstellungen nicht Abfertigungen, Pensionen oder Jubiläumsgelder betreffen' in §9 Abs1 Z3 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art39 Z6 des Budgetbegleitgesetzes 2003, BGBl I Nr 71/2003 sowie §14 Abs12 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988, BGBl Nr 400/1988) in der Fassung des Art1 Z2 a und b des Abgabenänderungsgesetzes 1998, BGBl I Nr 28/1999"

als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar (die in den Hauptanträgen angefochtenen Bestimmungen sind hervorgehoben):

1. §9 des Bundesgesetzes vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988), BGBl 400, idF BGBl I 13/2014; Abs2 zuletzt mit BGBl I 28/1999 geändert; Abs5 mit BGBl I 142/2000 eingefügt, zuletzt geändert mit BGBl I 13/2014:

"Rückstellungen

§9. (1) Rückstellungen können nur gebildet werden für

1. Anwartschaften auf Abfertigungen,

2. laufende Pensionen und Anwartschaften auf Pensionen,

3. sonstige ungewisse Verbindlichkeiten, wenn die Rückstellungen nicht Abfertigungen, Pensionen oder Jubiläumsgelder betreffen[,]

4. drohende Verluste aus schwebenden Geschäften.

(2) Rückstellungen im Sinne des Abs1 Z1 und 2 sowie Rückstellungen für Jubiläumsgelder sind nach §14 zu bilden.

(3) Rückstellungen im Sinne des Abs1 Z3 und 4 dürfen nicht pauschal gebildet werden. Die Bildung von Rückstellungen ist nur dann zulässig, wenn konkrete Umstände nachgewiesen werden können, nach denen im jeweiligen Einzelfall mit dem Vorliegen oder dem Entstehen einer Verbindlichkeit (eines Verlustes) ernsthaft zu rechnen ist.

(4) Rückstellungen für die Verpflichtung zu einer Zuwendung anläßlich eines Firmenjubiläums dürfen nicht gebildet werden.

(5) Rückstellungen im Sinne des Abs1 Z3 und 4 sind mit dem Teilwert anzusetzen. Der Teilwert ist mit einem Zinssatz von 3,5% abzuzinsen, sofern die Laufzeit der Rückstellung am Bilanzstichtag mehr als zwölf Monate beträgt."

2. §14 EStG 1988 idF BGBl I 24/2007; Abs12 zuletzt mit BGBl I 28/1999 geändert, lautet auszugsweise:

"Vorsorge für Abfertigungen, Pensionen und Jubiläumsgelder

§14. (1) Für Wirtschaftsjahre, die nach dem 31. Dezember 2001 enden, kann eine Abfertigungsrückstellung im Ausmaß bis zu 47,5%, für die folgenden Wirtschaftsjahre eine solche bis zu 45% der am Bilanzstichtag bestehenden fiktiven Abfertigungsansprüche gebildet werden. Fiktive Abfertigungsansprüche sind jene, die bei Auflösung des Dienst- bzw Anstellungsverhältnisses bezahlt werden müßten

1. an Arbeitnehmer als Abfertigung auf Grund

- gesetzlicher Anordnung oder

- eines Kollektivvertrages,

wobei in beiden Fällen Beschäftigungszeiten (Vordienstzeiten) angerechnet werden können,

2. an andere Personen auf Grund gesetzlicher Anordnung,

3. an Arbeitnehmer oder andere Personen auf Grund schriftlicher und rechtsverbindlicher Zusagen, wenn der Gesamtbetrag der zugesagten Abfertigung einer gesetzlichen oder dem Dienst- bzw Anstellungsverhältnis entsprechenden kollektivvertraglichen Abfertigung nachgebildet ist, wobei in beiden Fällen Beschäftigungszeiten (Vordienstzeiten) angerechnet werden können.

Die Abfertigungsrückstellung kann insoweit bis zu 60% der am Bilanzstichtag bestehenden fiktiven Abfertigungsansprüche gebildet werden, als die Arbeitnehmer oder anderen Personen, an die die Abfertigungen bei Auflösung des Dienstverhältnisses bezahlt werden müßten, am Bilanzstichtag das 50. Lebensjahr vollendet haben.

(2) Die Rückstellung ist in der Bilanz gesondert auszuweisen.

(3) Bei erstmaliger Bildung der Rückstellung hat der Steuerpflichtige das prozentuelle Ausmaß der Rückstellung festzulegen. Dieses Ausmaß ist gleichmäßig auf fünf aufeinanderfolgende Wirtschaftsjahre verteilt zu erreichen. Eine Änderung des Ausmaßes ist unzulässig.

(4) Gehen im Falle des Unternehmerwechsels Abfertigungsverpflichtungen auf den Rechtsnachfolger über, so ist die Rückstellung beim Rechtsvorgänger insoweit nicht gewinnerhöhend aufzulösen, sondern vom Rechtsnachfolger weiterzuführen.

(5) Steuerpflichtige, die ihren Gewinn gemäß §4 Abs3 ermitteln, können für die am Schluss des Wirtschaftsjahres bestehenden fiktiven Abfertigungsansprüche einen Betrag steuerfrei belassen. Die Bestimmungen der Abs1, 3 und 4 sind anzuwenden. Die Begünstigung darf nur in Anspruch genommen werden, wenn die steuerfrei belassenen Beträge in einer laufend geführten Aufzeichnung ausgewiesen sind. Aus dieser Aufzeichnung muss die Berechnung der steuerfrei belassenen Beträge klar ersichtlich sein.

(6) Steuerpflichtige, die ihren Gewinn gemäß §4 Abs1 oder §5 ermitteln, können für schriftliche, rechtsverbindliche und unwiderrufliche Pensionszusagen und für direkte Leistungszusagen im Sinne des Betriebspensionsgesetzes in Rentenform Pensionsrückstellungen bilden. Für die Bildung gilt folgendes:

1. Die Pensionsrückstellung ist nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik zu bilden.

2. Die Pensionsrückstellung ist erstmals im Wirtschaftsjahr der Pensionszusage zu bilden, wobei Veränderungen der Pensionszusage wie neue Zusagen zu behandeln sind. Als neue Zusagen gelten auch Änderungen der Pensionsbemessungsgrundlage und Indexanpassungen von Pensionszusagen.

3. Der Rückstellung ist im jeweiligen Wirtschaftsjahr soviel zuzuführen, als bei Verteilung des Gesamtaufwandes auf die Zeit zwischen Pensionszusage und dem vorgesehenen Zeitpunkt der Beendigung der aktiven Arbeits- oder Werkleistung auf das einzelne Wirtschaftsjahr entfällt.

4. Soweit durch ordnungsmäßige Zuweisungen an die Pensionsrückstellung das zulässige Ausmaß der Rückstellung nicht erreicht wird, ist in dem Wirtschaftsjahr, in dem der Pensionsfall eintritt, eine erhöhte Zuweisung vorzunehmen.

5. Die zugesagte Pension darf 80% des letzten laufenden Aktivbezugs nicht übersteigen. Auf diese Obergrenze sind zugesagte Leistungen aus Pensionskassen anzurechnen, soweit die Leistungen nicht vom Leistungsberechtigten getragen werden.

6. Der Bildung der Pensionsrückstellung ist ein Rechnungszinsfuß von 6 % zugrunde zu legen.

[…]

(12) Für die Bildung von Rückstellungen für die Verpflichtung zu einer Zuwendung anläßlich eines Dienstjubiläums gilt folgendes: Die Bildung einer Rückstellung ist nur bei kollektivvertraglicher Vereinbarung, bei Betriebsvereinbarung oder bei anderen schriftlichen, rechtsverbindlichen und unwiderruflichen Zusagen zulässig. Die Rückstellung ist unter sinngemäßer Anwendung des Abs6 Z1 bis 3, des Abs6 Z6 sowie der Abs8 und 9 zu bilden; eine Bildung nach den Regeln der Finanzmathematik ist zulässig.

(13) Werden bei Pensionsrückstellungen oder bei Rückstellungen für die Verpflichtung zu einer Zuwendung anläßlich eines Dienstjubiläums die den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik entsprechenden biometrischen Rechnungsgrundlagen geändert, ist der dadurch bedingte Unterschiedsbetrag beginnend mit dem Wirtschaftsjahr der Änderung gleichmäßig auf drei Jahre zu verteilen. Der Unterschiedsbetrag errechnet sich aus der Differenz zwischen dem nach den bisherigen Rechnungsgrundlagen errechneten Rückstellungsbetrag und dem Rückstellungsbetrag auf der Grundlage der geänderten Rechnungsgrundlagen."

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Den Anträgen liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Beim Bundesfinanzgericht sind mehrere Beschwerden gegen Bescheide betreffend die Feststellung von Einkünften als Gruppenmitglied anhängig. In der Bilanz der beschwerdeführenden Parteien waren Rückstellungen für Abfertigungen sowie sonstige Rückstellungen, welche sich ua aus Rückstellungen für Jubiläumsgelder zusammensetzten, ausgewiesen. In der den angefochtenen Bescheiden zugrunde liegenden steuerlichen Mehr-Weniger-Rechnung wurde jeweils eine Korrektur der Personalrückstellungen iSd §§9 und 14 EStG 1988 vorgenommen. Im Rahmen der Behandlung der Beschwerden gegen diese Bescheide sind beim Bundesfinanzgericht Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit bestimmter Absätze bzw Wortfolgen der §§9 und 14 EStG 1988 entstanden.

2. Auf das Wesentliche zusammengefasst bringt das Bundesfinanzgericht vor, dass es Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Abzinsungsfaktoren von 3,5% für die Bildung von langfristigen Rückstellungen nach §9 Abs5 EStG 1988 und 6% für die Bildung von Jubiläumsgeldrückstellungen nach §14 Abs12 iVm §14 Abs6 Z6 EStG 1988 hege. Jubiläumsgeldrückstellungen sei die langfristige Bildung wesensimmanent, der Vorsorgecharakter rücke – im Vergleich zu Pensionsrückstellungen – dabei in den Hintergrund, zudem würden Jubiläumsgeldrückstellungen nach dem Ansammlungsverfahren, das auch für langfristige Rückstellungen zulässig sei, gebildet werden. Das Bundesfinanzgericht könne demnach keinen Unterschied zwischen langfristigen Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten und Jubiläumsgelder erkennen. Der Abzinsungssatz für langfristige Rückstellungen würde aber 2,5 Prozentpunkte von jenem für Jubiläumsgelder abweichen. Da der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen habe, dass sich Jubiläumsgelder in nichts von sonstigen ungewissen Verbindlichkeiten unterscheiden, hege das antragstellende Gericht Zweifel, ob eine solche beachtliche Unterscheidung sachlich gerechtfertigt sei.

3. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie den in den Anträgen erhobenen Bedenken entgegentritt und zusammengefasst ausführt, dass es dem Gesetzgeber im Rahmen seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraums freistehe, unterschiedliche Abzinsungssätze für Jubiläumsgeldrückstellungen und sonstige langfristige Rückstellungen vorzusehen (vgl VfSlg 8457/1978, 17.067/2003). Mit der Wahl von unterschiedlichen Abzinsungssätzen weiche der Gesetzgeber auch nicht vom für Rückstellungen bestehenden Gesamtsystem ab. Die unterschiedlichen Abzinsungssätze seien auch aus mehreren Gründen sachlich gerechtfertigt: So würden unterschiedliche Laufzeiten auch unterschiedliche Abzinsungssätze erfordern. Die Laufzeit von sonstigen Rückstellungen falle in einer Durchschnittsbetrachtung deutlich geringer aus als im Fall von Personalrückstellungen, weshalb auch von unterschiedlichen Kategorien langfristiger Rückstellungen ausgegangen werden könne. Zudem würden die Rückstellungen unterschiedlich gebildet.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit der Anträge

1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitäts-entscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Haupt-sache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungs-gerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichts im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Das antragstellende Gericht begehrt die Aufhebung verschiedener Absätze und Wortfolgen in den §§9 und 14 EStG 1988. Es ist nichts hervorgekommen, was an der Präjudizialität der angefochtenen Gesetzesbestimmungen zweifeln ließe.

1.2. Ein von Amts wegen oder auf Antrag eines Gerichtes eingeleitetes Gesetzesprüfungsverfahren dient der Herstellung einer verfassungsrechtlich einwandfreien Rechtsgrundlage für das Anlassverfahren (vgl VfSlg 11.506/1987, 13.701/1994).

Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.

Dieser Grundposition folgend hat der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011; VfGH 14.3.2017, G311/2016). Das antragstellende Gericht hat all jene Normen anzufechten, die für das anfechtende Gericht präjudiziell sind und vor dem Hintergrund der Bedenken für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des antragstellenden Gerichtes teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014; VfGH 10.3.2015, G201/2014).

Unzulässig ist der Antrag etwa dann, wenn der im Falle der Aufhebung im begehrten Umfang verbleibende Rest einer Gesetzesstelle als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar wäre (VfSlg 16.279/2001, 19.413/2011; VfGH 19.6.2015, G211/2014; 7.10.2015, G444/2015; VfSlg 20.082/2016), der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Verfassungswidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde (vgl zB VfSlg 18.891/2009, 19.933/2014), oder durch die Aufhebung bloßer Teile einer Gesetzesvorschrift dieser ein völlig veränderter, dem Gesetzgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde (VfSlg 18.839/2009, 19.841/2014, 19.972/2015, 20.102/2016).

Eine zu weite Fassung des Antrages macht diesen nicht in jedem Fall unzulässig. Zunächst ist ein Antrag nicht zu weit gefasst, soweit das Gericht solche Normen anficht, die denkmöglich eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bilden und damit präjudiziell sind; dabei darf aber nach §62 Abs1 VfGG nicht offen bleiben, welche Gesetzesvorschrift oder welcher Teil einer Vorschrift nach Auffassung des antragstellenden Gerichtes aus welchem Grund aufgehoben werden soll (siehe mwN VfGH 2.3.2015, G140/2014 ua; vgl auch VfGH 10.12.2015, G639/2015; 15.10.2016, G103-104/2016 ua). Ist ein solcher Antrag in der Sache begründet, hebt der Verfassungsgerichtshof aber nur einen Teil der angefochtenen Bestimmungen als verfassungswidrig auf, so führt dies — wenn die sonstigen Prozessvoraussetzungen vorliegen — im Übrigen zur teilweisen Abweisung des Antrages (VfSlg 19.746/2013; VfGH 5.3.2014, G79/2013 ua).

Der Verfassungsgerichtshof entscheidet daher – vor dem Hintergrund der Bedenken und der Erforderlichkeit, die den Sitz der Bedenken bildenden Bestimmungen (bei geringstmöglichem Eingriff in den Gehalt der Rechtsordnung) zu ermitteln – über die Frage, ob gegebenenfalls auch Bestimmungen aufzuheben sind, die nicht präjudiziell sind, aber mit präjudiziellen Bestimmungen in einem untrennbaren Zusammenhang stehen (vgl zB VfSlg 19.939/2014, 20.086/2016), nicht im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit des Antrages, sondern im Einzelnen erst dann, wenn der Verfassungsgerichtshof, erweist sich der Antrag als begründet, den Umfang der aufzuhebenden Bestimmungen abzugrenzen hat.

1.3. Mit den jeweiligen Hauptanträgen zu G8-9/2020 und G11-12/2020 wendet sich das antragstellende Gericht gegen die Bestimmung des §14 Abs6 Z6 EStG 1988 und die Wortfolge ", des Abs6 Z6" in §14 Abs12 EStG 1988 jeweils idF BGBl I 24/2007 sowie die Wortfolge ", wenn die Rückstellungen nicht Abfertigungen, Pensionen oder Jubiläumsgelder betreffen" in §9 Abs1 Z3 EStG 1988 idF BGBl I 71/2003.

1.4. Das antragstellende Gericht geht zunächst zutreffend davon aus, dass durch die Aufhebung der Z6 in §14 Abs6 EStG 1988 für die Bildung von Jubiläumsgeldrückstellungen die Verzinsung mit einem Rechnungszinsfuß von 6% beseitigt würde. Hiedurch wird – wie in den Anträgen zutreffend erkannt wird – allerdings noch nicht die Anwendung des Abzinsungssatzes gemäß §9 Abs5 EStG 1988 gewährleistet.

1.5. Soweit in den Hauptanträgen die Auffassung vertreten wird, dass durch Aufhebung der Wortfolge "wenn die Rückstellungen nicht Abfertigungen, Pensionen und Jubiläumsgelder betreffen" in §9 Abs1 Z3 EStG 1988 die Anwendung des Zinssatzes iHv 3,5% auch auf die nach den Grundsätzen des §14 EStG 1988 ermittelte Bemessungsgrundlage für Jubiläumsgelder als langfristige ungewisse Verbindlichkeiten erreicht würde, wird übersehen, dass §9 Abs2 EStG 1988 anordnet, dass Rückstellungen für Jubiläumsgelder nach §14 EStG 1988 zu bilden sind.

1.6. Damit regelt §14 EStG 1988 für Jubiläumsgelder nicht nur den Ansatz dem Grunde nach, sondern abschließend auch deren Bewertung. Der in §9 Abs1 Z3 EStG 1988 vom antragstellenden Gericht angefochtene, in Reaktion auf VfSlg 16.759/2002 mit dem Budgetbegleitgesetz 2003, BGBl I 71, aufgenommene Halbsatz soll dagegen lediglich gewährleisten, dass für Abfertigungen, Pensionen und Jubiläumsgelder, die nicht unter §14 EStG 1988 fallen, Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten auch nicht nach §9 EStG 1988 gebildet werden können. Die Aufhebung des §9 Abs1 Z3 leg.cit. würde somit aber nicht die Anwendung der Bewertungsvorschrift des §9 Abs5 EStG 1988 auf die in §14 EStG 1988 geregelte Bewertung von Jubiläumsgeldrückstellungen eröffnen.

1.7. Eine den Bedenken des antragstellenden Gerichts Rechnung tragende Anwendung des in §9 Abs5 EStG 1988 vorgesehenen Abzinsungssatzes auf die Bildung von Jubiläumsgeldrückstellungen erfordert daher aber jedenfalls die Anfechtung jener – in untrennbarem Zusammenhang stehender – Wortfolge des §9 Abs2 EStG 1988, die für Jubiläumsgeldrückstellungen die Bildung nach §14 EStG 1988 anordnet.

1.8. Die Hauptanträge erweisen sich vor dem Hintergrund der Bedenken des antragstellenden Gerichts somit als zu eng gefasst und sind daher zurückzuweisen.

1.9. Gleiches gilt aus den in Pkt. 1.7. dargelegten Gründen für die unter Punkt 2-5 angeführten Eventualanträge.

1.10. Mit den jeweils unter Punkt 6 angeführten Eventualanträgen wendet sich das antragstellende Gericht gegen die Wortfolgen "sowie Rückstellungen für Jubiläumsgelder" in §9 Abs2 EStG 1988 idF BGBl I 28/1999 und ", wenn die Rückstellungen nicht Abfertigungen, Pensionen oder Jubiläumsgelder betreffen" in §9 Abs1 Z3 EStG 1988 idF BGBl I 71/2003 sowie gegen die Bestimmung des §14 Abs12 EStG 1988 idF BGBl I 28/1999. Die Eventualanträge erweisen sich als zulässig:

Dem antragstellenden Gericht ist nicht entgegenzutreten, wenn es denkmöglich davon ausgeht, dass bei Aufhebung der Wortfolgen "sowie Rückstellungen für Jubiläumsgelder" in §9 Abs2 EStG 1988 und des §14 Abs12 EStG 1988 die Bewertung von Jubiläumsgeldrückstellungen mit dem in §9 Abs5 EStG 1988 geregelten Abzinsungssatzvorzunehmen wäre.

2. In der Sache

2.1. Die Bedenken des antragstellenden Gerichts richten sich gegen die unterschiedlichen Abzinsungsfaktoren von 3,5% für die Bildung von langfristigen Rückstellungen nach §9 Abs5 EStG 1988 und 6% für die Bildung von Jubiläumsgeldrückstellungen nach §14 Abs12 iVm §14 Abs6 Z6 EStG 1988.

2.2. Die Bedenken des antragstellenden Gerichts treffen nicht zu: Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 27. November 2020, G173-174/2020 ausgesprochen, dass der Gleichheitssatz nicht gebietet, den gemäß §14 Abs12 iVm §14 Abs6 Z6 EStG 1988 geltenden Abzinsungssatz für Jubiläumsgeldrückstellungen an jenen für die Abzinsung sonstiger langfristiger Rückstellungen anzupassen.

V. Ergebnis

1. Die ob der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolgen "sowie Rückstellungen für Jubiläumsgelder" in §9 Abs2 EStG 1988 idF BGBl I 28/1999 und ", wenn die Rückstellungen nicht Abfertigungen, Pensionen oder Jubiläumsgelder betreffen" in §9 Abs1 Z3 EStG 1988 idF BGBl I 71/2003 sowie §14 Abs12 EStG 1988 idF BGBl I 28/1999 erhobenen Bedenken treffen nicht zu. Die Anträge sind daher insoweit abzuweisen.

Im Übrigen sind die Anträge als unzulässig zurückzuweisen.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Rückstellungen (Einkommensteuer), Rechtspolitik, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Gerichtsantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:G8.2020

Zuletzt aktualisiert am

26.01.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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