TE Vfgh Erkenntnis 2020/12/11 G264/2019 (G264/2019-16)

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.12.2020
beobachten
merken

Index

14/02 Gerichtsorganisation

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
ASGG §89 Abs4
GSVG §76 Abs3 Z1
ASVG §196, §354
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verstoß einer Bestimmung des ASGG gegen das Rechtsstaatsprinzip mangels Möglichkeit des Arbeits- und Sozialgerichtes, die Höhe der Rückersatzpflicht von empfangenen Versicherungsleistungen zu mindern

Spruch

I. 1. Die Wortfolgen "nach §65 Abs1 Z2 oder" sowie "Rückersatz- oder", der Wortteil "Rück(" und das Zeichen ")" in §89 Abs4 des Bundesgesetzes vom 7. März 1985 über die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit (Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz – ASGG), BGBl Nr 104/1985, werden als verfassungswidrig aufgehoben.

2. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2021 in Kraft.

3. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

4. Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

II. Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Gestützt auf Art140 Abs1 Z1 litd B-VG begehrt der Antragsteller, "§89 Abs4 ASGG als verfassungswidrig auf[zu]heben, in eventu den 2. Satz, in eventu dessen 2. Halbsatz[.] In eventu nur oder auch den §76 GSVG"; "[für] den Fall, dass der VfGH bei seiner Prüfung zur Ansicht gelangt, dass auch andere für das Gericht oder seine Entscheidung präjudizielle Bestimmungen verfassungswidrig sind, wolle er von Amts wegen auch diese aufheben, ähnlich wie es der jahrzehntelangen Judikatur entspricht, dass in Verfahren über Bescheidbeschwerden auch verfassungswidrige präjudizielle Bestimmungen von Amts wegen geprüft werden."

II. Rechtslage

1. Die §§76 und 194 des Bundesgesetzes vom 11. Oktober 1978 über die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz – GSVG), BGBl 560/1978 idF BGBl I 62/2010 (§76) bzw idF BGBl I 2/2015 (§194), lauten (die mit Eventualantrag angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):

"Rückforderung zu Unrecht erbrachter Leistungen

§76. (1) Der Versicherungsträger hat zu Unrecht erbrachte Geldleistungen sowie den Aufwand für zu Unrecht erbrachte Sachleistungen zurückzufordern, wenn der Leistungsempfänger bzw Zahlungsempfänger (§75) den Bezug (die Erbringung) durch bewußt unwahre Angaben, bewußte Verschweigung maßgebender Tatsachen oder Verletzung der Meldevorschriften und der Auskunftspflicht (§§18 bis 20 und 22) herbeigeführt hat oder wenn der Leistungsempfänger bzw Zahlungsempfänger (§75) erkennen mußte, daß die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte. Geldleistungen sind ferner zurückzufordern, wenn und soweit sich wegen eines nachträglich festgestellten Anspruches auf Weiterleistung der Geld- und Sachbezüge herausstellt, daß sie zu Unrecht erbracht wurden.

(2) Das Recht auf Rückforderung nach Abs1

a) besteht nicht, wenn der Versicherungsträger zum Zeitpunkt, in dem er erkennen mußte, daß die Leistung zu Unrecht erbracht worden ist, die für eine bescheidmäßige Feststellung erforderlichen Maßnahmen innerhalb einer angemessenen Frist unterlassen hat;

b) verjährt binnen drei Jahren nach dem Zeitpunkt, in dem dem Versicherungsträger bekannt geworden ist, daß die Leistung zu Unrecht erbracht worden ist.

(3) Der Versicherungsträger kann bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände, insbesondere in Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Empfängers

1. auf die Rückforderung gemäß Abs1 zur Gänze oder zum Teil verzichten;

2. die Erstattung des zu Unrecht gezahlten Betrages in Teilbeträgen zulassen.

(4) Zur Eintreibung der Forderung des Versicherungsträgers auf Grund der Rückforderungsbescheide ist dem Versicherungsträger die Einbringung im Verwaltungswege gewährt (§3 Abs3 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes 1991).

(5) Das Recht auf Rückforderung nach Abs1 besteht im Falle des Todes des Anspruchsberechtigten gegenüber allen Personen, die zum Bezug der noch nicht erbrachten Leistungen berechtigt sind, soweit sie eine der im §77 Abs1 bezeichneten Leistungen bezogen haben.

[…]

ABSCHNITT V

Verfahren

§194. Hinsichtlich des Verfahrens zur Durchführung dieses Bundesgesetzes gelten die Bestimmungen des Siebenten Teiles des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes mit der Maßgabe, daß

1. zur Gewährung der Rechts- und Verwaltungshilfe im Sinne des §360 Abs1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes, insbesonders in Beitragsangelegenheiten auch die Kammern, die als gesetzliche berufliche Vertretungen der gemäß den §§2 und 3 Versicherten in Betracht kommen, verpflichtet sind; die Kammern sind insbesondere verpflichtet, dem Versicherungsträger auch unaufgefordert alle zur Durchführung der Versicherung erforderlichen Mitteilungen über ihre Mitglieder zu machen. Beginn und Ende der Kammermitgliedschaft eines jeden Mitgliedes sind dem Versicherungsträger unverzüglich bekanntzugeben;

2. die §§361, 362 Abs1, 2 und 4, 366 und 367 ASVG weiterhin in der am 31. Dezember 2013 geltenden Fassung anzuwenden sind, wobei

a) an Stelle eines Antrages auf eine Pension aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit der Antrag auf eine Pension aus den Versicherungsfällen der Erwerbsunfähigkeit oder auf Feststellung der Erwerbsunfähigkeit nach §133a vorrangig als Antrag auf Leistungen der Rehabilitation gilt;

b) an Stelle der im §361 Abs2 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes angeführten Kostenersätze und Pflegekostenzuschüsse die Kostenersätze gemäß §85 Abs2 litb und c sowie die Pflegekostenzuschüsse gemäß §98a zu treten haben und diese Kostenersätze von den gemäß §77 bezugsberechtigten Personen beantragt werden können;

3. als Leistungssache im Sinne des §354 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (Sozialrechtssache im Sinne des §65 Z4 des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes) auch die Feststellung von Versicherungs- und Schwerarbeitszeiten (§117a) und die Feststellung der Erwerbsunfähigkeit (§133a) außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens auf Antrag des Versicherten gilt.

4. daß bezüglich der Feststellung der Pflichtversicherung und der Beitragspflicht für Pflichtversicherte gemäß §2 Abs1 Z4 ein Bescheid gemäß §410 Abs1 Z7 ASVG innerhalb von sechs Monaten ab Antragstellung, spätestens jedoch sechs Monate nach Rechtskraft des maßgeblichen Einkommensteuerbescheides zu erlassen ist;

5. §414 Abs2 und 3 ASVG nicht anzuwenden ist."

2. Die §§354 und 367 des Bundesgesetzes vom 9. September 1955 über die Allgemeine Sozialversicherung (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz – ASVG.), BGBl 189/1955 idF BGBl I 100/2018 (§354) bzw idF BGBl I 111/2010 (§367 in der am 31.12.2013 geltenden Fassung), laute(te)n:

"Leistungssachen

§354. Leistungssachen sind die Angelegenheiten, in denen es sich handelt um

1. die Feststellung des Bestandes, des Umfanges oder des Ruhens eines Anspruches auf eine Versicherungsleistung einschließlich einer Feststellung nach §367 Abs1, soweit nicht hiebei die Versicherungszugehörigkeit (§§13 bis 15), die Versicherungszuständigkeit (§§26 bis 29a), die Leistungszugehörigkeit (§245) oder die Leistungszuständigkeit (§246) in Frage steht;

2. Feststellung der Verpflichtung zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung,

3. Streitigkeiten über Ersatzansprüche der Träger der Sozialhilfe gemäß Abschnitt II des Fünften Teiles;

4. Feststellung von Versicherungs- und Schwerarbeitszeiten außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens auf Antrag des Versicherten (§247),

4a. die Feststellung der Invalidität (§§255a, 280a) oder der Berufsunfähigkeit (§273a),

5. die Feststellung der Kontoerstgutschrift sowie einer Ergänzungsgutschrift oder eines Nachtragsabzuges (§15 APG),

6. die Feststellung des Rechtsanspruches auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nach §253e (§270a, §276e).

[…]

Bescheide der Versicherungsträger in Leistungssachen

§367. (1) Über den Antrag auf Zuerkennung einer Leistung aus der Krankenversicherung oder auf Gewährung von Unfallheilbehandlung, von Familien-, Tag-, Versehrten- und Übergangsgeld oder von Körperersatzstücken, orthopädischen Behelfen und anderen Hilfsmitteln aus der Unfallversicherung, ferner bei amtswegiger Feststellung der angeführten Leistungen der Unfallversicherung sowie über den Antrag auf Gewährung von Übergangsgeld oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation aus der Pensionsversicherung ist ein Bescheid zu erlassen, wenn

1. der Versicherungsträger von sich aus ohne Einwilligung des Erkrankten (Versehrten) Anstaltspflege oder Wiederaufnahme der Heilbehandlung verfügt oder wenn,

2. die beantragte Leistung ganz oder teilweise abgelehnt wird und der Anspruchswerber ausdrücklich einen Bescheid verlangt.

Über den Antrag auf Zuerkennung oder über die amtswegige Feststellung einer sonstigen Leistung aus der Unfallversicherung, ausgenommen eine Leistung nach §173 Z1 litc sowie die Feststellung, daß eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls beziehungsweise einer Berufskrankheit ist, auch wenn nach Eintritt einer Gesundheitsstörung eine Leistung aus der Unfallversicherung nicht anfällt, ferner über den Antrag auf eine Leistung gemäß §222 Abs1 und 2 aus der Pensionsversicherung, ausgenommen eine Leistung nach §222 Abs1 Z2 lita, sowie auf Feststellung von Versicherungs- und Schwerarbeitszeiten außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens (§247) ist jedenfalls ein Bescheid zu erlassen. Über einen Antrag auf Leistung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist, sofern die Wartezeit (§236) erfüllt ist, über das Vorliegen der Invalidität, Berufsunfähigkeit oder Dienstunfähigkeit im Bescheid gesondert zu entscheiden.

(2) Abs1 ist entsprechend anzuwenden bei Entziehung, Versagung, Neufeststellung, Widerruf, Abfindung, Abfertigung oder Feststellung des Ruhens eines Leistungsanspruches, ferner bei Geltendmachung des Anspruches auf Rückersatz einer unrechtmäßig bezogenen Leistung, bei Aufrechnung auf eine Geldleistung oder Zurückhaltung der Ausgleichszulage.

(3) Abweichend von den Bestimmungen der Abs1 und 2 sind Bescheide über die Auswirkung

a) von Renten- oder Pensionsanpassungen gemäß den Bestimmungen des Abschnittes VIa des Ersten Teiles,

b) von Vervielfachungen fester Beträge mit der jeweiligen Aufwertungszahl beziehungsweise mit dem jeweiligen Anpassungsfaktor

nur zu erlassen, wenn der Berechtigte dies bis zum Ablauf des Kalenderjahres verlangt, für das die Anpassung (Vervielfachung) vorgenommen wurde."

3. Die §§65, 71 und 89 des Bundesgesetzes vom 7. März 1985 über die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit (Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz – ASGG), BGBl 104/1985 idF BGBl I 35/2012 (§65) bzw idF BGBl 624/1994 (§71 und §89), lauten (die mit dem Hauptantrag angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):

"Gegenstand der Sozialrechtssachen

§65. (1) Sozialrechtssachen sind Rechtsstreitigkeiten über

1. den Bestand, den Umfang oder das Ruhen eines Anspruchs auf Versicherungs- oder Pflegegeldleistungen, soweit hiebei nicht die Versicherungszugehörigkeit, die Versicherungszuständigkeit, die Leistungszugehörigkeit oder die Leistungszuständigkeit in Frage stehen (§354 Z1 ASVG, §194 GSVG, §182 BSVG, §65 NVG 1972, §129 B-KUVG, §84 StVG beziehungsweise §§4 Abs2, 43 und 44 BPGG);

2. die Pflicht zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung oder eines zu Unrecht empfangenen Pflegegeldes (§354 Z2 ASVG, §194 GSVG, §182 BSVG, §65 NVG 1972, §129 B-KUVG, §84 StVG beziehungsweise §11 Abs3 zweiter Halbsatz und Abs4 BPGG sowie Z6 bis 8 und §§89 und 91);

3. Ersatzansprüche der Träger der Sozialhilfe (§354 Z3 ASVG, §194 GSVG, §182 BSVG, §65 NVG 1972, §129 B-KUVG, §§13 und 14 BPGG);

4. den Bestand von Versicherungszeiten der Pensionsversicherung (§§247, 247a ASVG, §§117a, 117b GSVG, §§108a, 108b BSVG, §§46a, 46b NVG 1972), soweit diese Rechtsstreitigkeiten nicht Teil einer Rechtsstreitigkeit nach Z1 sind (§354 Z4 ASVG, §194 GSVG, §182 BSVG, §65 NVG 1972, §129 B-KUVG), sowie über Bestand und Umfang einer Kontoerstgutschrift sowie einer Ergänzungsgutschrift (§15 APG);

5. die Kostenersatzpflicht eines Versicherungsträgers beziehungsweise eines Versicherten in einem Verfahren in Leistungssachen (§359 Abs2, 4 und 5 ASVG, §194 GSVG, §182 BSVG, §65 NVG 1972, §129 B-KUVG, §84 StVG, §30 BPGG, Z6 bis 8);

6. Ansprüche auf Sonderunterstützung nach dem Sonderunterstützungsgesetz, BGBl Nr 642/1973;

7. Ansprüche auf Insolvenz-Entgelt oder einen Vorschuß auf dieses nach dem Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz, BGBl Nr 324/1977;

8. Ansprüche auf Sonderruhegeld nach dem Nachtschwerarbeitsgesetz (NSchG), BGBl Nr 473/1992, auf Kinderbetreuungsgeld und auf Zuschuss zum Kinderbetreuungsgeld nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetz, BGBl I Nr 103/2001.

(2) Unter den Abs1 fallen auch Klagen auf Feststellung. Als Feststellung eines Rechtsverhältnisses oder Rechts gilt auch diejenige, daß eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeits(Dienst)unfalls oder einer Berufskrankheit ist (§367 Abs1 ASVG).

[...]

Wirkungen der Klage

§71. (1) Wird in einer Leistungssache nach §65 Abs1 Z1, 2 oder 4 bis 8 die Klage rechtzeitig erhoben, so tritt der Bescheid des Versicherungsträgers im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft; Bescheide, die durch den außer Kraft getretenen Bescheid abgeändert worden sind, werden insoweit aber nicht wieder wirksam.

(2) Nach der Einbringung der Klage in einer Sozialrechtssache nach §65 Abs1 Z1, 6 oder 8 ist die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, als vom Versicherungsträger unwiderruflich anerkannt anzusehen; der Versicherungsträger hat gegenüber dem Kläger – trotz des Außerkrafttretens des Bescheides – seine als unwiderruflich anerkannt anzusehende Leistungsverpflichtung bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens vorläufig weiter zu erfüllen. Als unwiderruflich anerkannt sind auch das Vorliegen eines Arbeits(Dienst)unfalls oder einer Berufskrankheit anzusehen, soweit dies dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht.

(3) Erläßt der Versicherungsträger wegen einer Änderung der Verhältnisse während des Verfahrens einen neuen Bescheid, so gilt insoweit der Abs2 erster Satz nicht.

(4) In Rechtsstreitigkeiten über die Wiederaufnahme der Heilbehandlung Unfallverletzter hat der Versicherungsträger die dem außer Kraft getretenen Bescheid entsprechende Heilbehandlung vorläufig nicht zu erbringen.

(5) Tritt durch die Klage ein Bescheid, mit dem der Versicherungsträger wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse die Leistung neu festgestellt hat, außer Kraft, so ist in dem über die Klage eingeleiteten Verfahren die Rechtskraft einer den selben Anspruch betreffenden früher gefällten gerichtlichen Entscheidung nicht zu berücksichtigen.

[…]

Urteile

§89. (1) Urteile in Rechtsstreitigkeiten nach §65 Abs1 Z1 und 6 bis 8 können auch Leistungen auferlegen, die erst nach Erlassung des Urteils fällig werden.

(2) Ergibt sich in einer Rechtsstreitigkeit nach §65 Abs1 Z1, 6 oder 8, in der das Klagebegehren auf eine Geldleistung gerichtet und dem Grunde und der Höhe nach bestritten ist, daß das Klagebegehren in einer zahlenmäßig noch nicht bestimmten Höhe gerechtfertigt ist, so kann das Gericht die Rechtsstreitigkeit dadurch erledigen, daß es das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkennt und dem Versicherungsträger aufträgt, dem Kläger bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung zu erbringen; deren Ausmaß hat das Gericht unter sinngemäßer Anwendung des §273 Abs1 ZPO festzusetzen; bei Fehlen eines solchen Auftrags ist insoweit das Urteil jederzeit auf Antrag oder von Amts wegen zu ergänzen. Wird danach die dem Kläger zustehende Leistung rechtskräftig in einer geringeren Höhe festgesetzt, als die vorläufig festgesetzte, so gilt für seine Pflicht zur Rückzahlung des Mehrbetrages der §91 Abs2 bis 5 sinngemäß.

(3) Wird in einer Rechtsstreitigkeit nach §65 Abs1 Z1 der Klage stattgegeben, so hat das Gericht für die vom Beklagten zu erbringenden Leistungen aus der Krankenversicherung eine kürzere als die im §409 ZPO angeordnete Leistungsfrist nach Billigkeit zu bestimmen.

(4) Wird in einer Rechtsstreitigkeit nach §65 Abs1 Z2 oder über die Kostenersatzpflicht des Versicherten nach §65 Abs1 Z5 die Klage abgewiesen, weil eine Rückersatz- oder Kostenersatzpflicht des Klägers besteht, so ist ihm unter einem der Rück(Kosten)ersatz an den Beklagten aufzuerlegen. Hiebei ist die Leistungsfrist unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers nach Billigkeit zu bestimmen; insoweit kann das Gericht die Zahlung auch in Raten anordnen."

III. Anlassverfahren, Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Der Antragsteller bezieht seit 1. Juli 2010 eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer und ist seit 4. März 1976 Inhaber einer Gewerbeberechtigung für das Schuhmacherhandwerk, eingeschränkt auf das Instandsetzen von Schuhen. Er meldete diese Tätigkeit im Juli 2010 dem Sozialversicherungsträger und war (vorläufig) von der Pflichtversicherung in der Pensions- und Krankenversicherung gemäß §4 Abs1 Z7 GSVG ausgenommen. Die Einkünfte des Antragstellers aus Gewerbebetrieb für das Jahr 2011 in Höhe von € 5.475,01 überschritten die für dieses Jahr geltende Geringfügigkeitsgrenze (€ 4.488,24).

2. Mit Bescheid vom 16. November 2015 sprach die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft den Wegfall der Pension für das Jahr 2011 aus und forderte den Überbezug in Höhe von € 12.596,64 zurück.

3. In seiner daraufhin beim Arbeits- und Sozialgericht Wien erhobenen Klage brachte der nunmehrige Antragsteller unter anderem vor, dass das durch §76 Abs3 GSVG dem Versicherungsträger eingeräumte Ermessen mit der Klageerhebung auf das Gericht übergegangen sei. Er habe die Geringfügigkeitsgrenze bloß marginal überschritten. Unter Berücksichtigung der ihm im Jahr 2014 nachträglich vorgeschriebenen Pensions- und Krankenversicherungsbeiträge für das Jahr 2011 in Höhe von rund € 2.000,– sei die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschritten worden.

4. Mit – im dritten Rechtsgang ergangenem – Urteil vom 1. Juli 2019 stellte das Arbeits- und Sozialgericht Wien fest, dass der Antragsteller verpflichtet sei, den Überbezug an Pensionszahlungen aus dem Jahr 2011 in näher bezeichneter Höhe an die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft zurückzuzahlen und die Aufrechnung zu dulden. Begründend führte das Arbeits- und Sozialgericht Wien aus, dass die Einwände des Antragstellers gegen seine Rückzahlungspflicht nicht stichhaltig seien und dass ein Übergang der Ermessensregelung nach §76 Abs3 GSVG auf das Gericht nicht in Betracht komme, "da dieser Spielraum expressis verbis nur dem Versicherungsträger eingeräumt wurde".

5. Gegen dieses Urteil erhob der Antragsteller Berufung und stellte aus Anlass dieses Rechtsmittels unter einem den vorliegenden Gesetzesprüfungsantrag. Darin legt der Antragsteller seine Bedenken wie folgt dar:

Der Oberste Gerichtshof judiziere seit Jahrzehnten, dass eine gänzliche oder teilweise Nachsicht der Rückzahlungspflicht durch das Gericht nicht möglich sei (Hinweis auf OGH 11.6.1991, 10 ObS 158/91; 5.12.2000, 10 ObS 267/00p). Während nämlich die Möglichkeit der Ratengewährung nach §76 Abs3 Z2 GSVG durch §89 Abs4 ASGG ausdrücklich auch den Sozialgerichten eingeräumt sei, habe es der Gesetzgeber des ASGG unterlassen, den Gerichten die Kompetenz für eine gänzliche oder teilweise Nachsicht der Rückzahlungspflicht zu übertragen, weshalb davon ausgegangen werden müsse, dass ihnen eine solche Kompetenz nicht zustehe. Darin liege erstens ein Verstoß gegen den Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung. Die dargestellte Rechtslage bewirke nämlich, dass die Arbeits- und Sozialgerichte die Bestimmung des GSVG über den Verzicht auf die Rückforderung nicht vollziehen dürften, sondern an die Nichtausübung des Ermessens durch den Versicherungsträger gebunden seien. Zweitens verstoße die Rechtslage gegen das Rechtsstaatsprinzip, wonach alle Akte staatlicher Organe im Gesetz und letztlich in der Verfassung begründet sein müssten und ein System von Rechtsschutzeinrichtungen Gewähr dafür bieten müsse, dass nur solche Akte Bestand haben können, die in Übereinstimmung mit der übergeordneten Rechtsordnung stünden. Auch Ermessensfehler – insbesondere bei der Rückforderung von Leistungen – müssten von der übergeordneten Instanz überprüft werden können (Hinweis auf OGH 18.2.2003, 10 ObS 258/02t). Gegen die Verweigerung des Verzichts auf die Rückforderung von Leistungen bestehe dieser Rechtsschutz aber verfassungswidrigerweise nicht. Im Sinne von VfSlg 11.196/1986 und 12.683/1991 müsse es umso mehr verfassungswidrig sein, wenn ein Rechtsschutzsuchender nicht nur vorläufig, sondern endgültig mit einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung belastet werde. Verzichte ein Versicherungsträger auf einen Teil des rückforderbaren Betrages, trete mit der Klage beim Arbeits- und Sozialgericht auch dieser Verzicht außer Kraft, ohne dass das Gericht seinerseits verzichten könne. Dementsprechend habe ja der Gesetzgeber in §89 Abs4 ASGG auch den Gerichten die Möglichkeit zur Gewährung der Ratenzahlung eingeräumt (Hinweis auf RV 7 BlgNR 16. GP, 59). Sofern keine verfassungskonforme Auslegung oder Analogie möglich sei, sei §89 Abs4 (zweiter Satz) ASGG verfassungswidrig. Bei Aufhebung dieser Bestimmung hätten auch die Gerichte im Rahmen ihrer sukzessiven Kompetenz dieselben Bestimmungen wie der Versicherungsträger, also auch §76 Abs3 GSVG, anzuwenden. Sollte man diese Auffassung nicht teilen, läge der Sitz der Verfassungswidrigkeit in §76 Abs3 GSVG, der nur dem Sozialversicherungsträger das Recht zum Verzicht einräume.

6. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie der Zulässigkeit des Antrages wie folgt entgegentritt, ohne inhaltlich auf die geltend gemachten Bedenken einzugehen:

"3. Die Bedenken des Antragstellers betreffen die Kognitionsbefugnis der Arbeits- und Sozialgerichte. Selbst falls es zutreffen sollte, dass die Kognitionsbefugnis der Arbeits- und Sozialgerichte in irgendeiner Form eingeschränkt wäre, ergibt sich eine solche Einschränkung keinesfalls aus den Bestimmungen des GSVG, da diese keine Regelungen über das arbeits- und sozialgerichtliche Verfahren enthalten. Eine Einschränkung der Kognitionsbefugnis der Arbeits- und Sozialgerichte ergibt sich auch nicht etwa daraus, dass gemäß §76 Abs3 GSVG (lediglich) 'der Versicherungsträger' auf eine Rückforderung verzichten kann, denn die Vorschriften des GSVG richten sich ihrem Wortsinn nach an 'den Versicherungsträger' und nie auch an 'das Arbeits- und Sozialgericht' — und dessen ungeachtet kann das Arbeits- und Sozialgericht die Bestimmungen des GSVG anwenden: Der Prozessgegenstand des Verfahrens vor dem Arbeits- und Sozialgericht wird durch die Klage abgegrenzt; das Arbeits- und Sozialgericht entscheidet über einen Rechtsstreit zwischen Kläger (hier: Versichertem) und Beklagtem (hier: SVA), wobei maßgeblich für die Entscheidung des Arbeits- und Sozialgerichts ist, ob der Kläger gegenüber dem Beklagten auf Grund der Bestimmungen des Sozialversicherungsrechts einen Anspruch hat.

Sollte es eine Regelung geben, die die Kognitionsbefugnis der Arbeits- und Sozialgerichte einschränkt und zwar dahingehend, dass ein Verhalten eines Versicherungsträgers, das sich in einer (individuellen) Rechtsnorm manifestiert, der gerichtlichen Kontrolle entzogen ist, könnte diese allenfalls (und ausschließlich) in §89 Abs4 ASGG enthalten sein.

Die Bundesregierung geht daher zunächst davon aus, dass der Antrag, soweit er sich gegen §76 GSVG richtet, unzulässig ist.

4. Nach Ansicht der Bundesregierung ist aber auch der Antrag in Bezug auf §89 Abs4 ASGG unzulässig.

Die Entscheidungsbefugnis des Arbeits- und Sozialgerichts wird einerseits durch den Inhalt des Bescheides und andererseits durch das Klagebegehren beschränkt (vgl Frauenberger/Pfeiler, in Tomandl, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts, 30. Erg.-Lfg., 772/16). Was nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger war, kann daher auch nicht Gegenstand der Klage beim Arbeits- und Sozialgericht sein.

Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG ist Voraussetzung eines Parteiantrags auf Normenkontrolle, dass eine Person 'wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes' in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet. §89 Abs4 ASGG, dem der Antragsteller eine Einschränkung der Kognitionsbefugnis der Arbeits- und Sozialgerichte zuschreibt, ist jedoch nicht in der Weise vom Arbeits- und Sozialgericht angewendet worden, der die vom Antragsteller behauptete Verfassungswidrigkeit innewohnt: Gegenstand der Klage war nicht, dass der Versicherungsträger zu Unrecht nicht von seinem Ermessen Gebrauch gemacht hat, auf seinen Rückforderungsanspruch gemäß §76 Abs3 Z1 GSVG zu verzichten, da der Versicherungsträger darüber bescheidmäßig nicht abgesprochen hat. Selbst unter der Annahme, dass §89 Abs4 ASGG eine Anordnung enthielte, wonach die Kognitionsbefugnis der Arbeits- und Sozialgerichte eingeschränkt sei, würde diese im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung gelangt sein.

Zwar könnte der gegenständliche Parteiantrag dahingehend zu verstehen sein, dass es verfassungsrechtlich geboten wäre, dass das Gericht — aus eigenem — aussprechen können müsse, dass der Versicherungsträger auf seinen Rückforderungsanspruch zu verzichten habe, obwohl dies nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens war (wie dies etwa bei der Möglichkeit der Anordnung einer Ratenzahlung der Fall ist, die das Gericht gemäß §89 Abs4 ASGG auch dann anordnen kann, wenn die Ratenzahlung nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens war; vgl OGH 05.12.2000, 10 ObS 267/00p); ein entsprechendes Bedenken wird vom Antragsteller jedoch nicht geltend gemacht (und könnte auch nur schwerlich erfolgreich geltend gemacht werden, da keine Bestimmung des Verfassungsrechts es gebietet, Gerichten eine [originäre] Kompetenz einzuräumen, über Sachen zu entscheiden, die nicht Streitgegenstand sind).

5. Aus diesen Gründen ist die Bundesregierung der Auffassung, dass der Antrag zu Gänze unzulässig ist.

Vor diesem Hintergrund erübrigt es sich nach Ansicht der Bundesregierung, auf die Erörterung der im Antrag dargelegten Bedenken einzugehen."

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels. Nach §62a Abs1 erster Satz VfGG kann eine Person, die als Partei in einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben.

1.2. Der vorliegende Antrag wurde aus Anlass der Berufung gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 1. Juli 2019 gestellt. Mit diesem Urteil wurde die Rechtssache in erster Instanz durch ein ordentliches Gericht entschieden (Art140 Abs1 Z1 litd B-VG).

1.3. Als Kläger ist der Antragsteller Partei des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht, womit er zur Antragstellung gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG berechtigt ist.

1.4. Dem Erfordernis der Einbringung aus Anlass eines Rechtsmittels hat der Antragsteller jedenfalls dadurch Rechnung getragen, dass er den vorliegenden Antrag und das Rechtsmittel gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 1. Juli 2019 am selben Tag erhoben und eingebracht hat (vgl VfSlg 20.074/2016).

Im Übrigen ist nichts hervorgekommen, wonach das erhobene Rechtsmittel nicht rechtzeitig und zulässig wäre.

1.5. Ein auf Art140 Abs1 Z1 litd B-VG gestützter Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes oder von bestimmten Stellen eines solchen kann gemäß §62 Abs2 VfGG nur dann gestellt werden, wenn das Gesetz vom Gericht in der anhängigen Rechtssache unmittelbar anzuwenden bzw die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes eine Vorfrage für die Entscheidung der beim Gericht anhängigen Rechtssache ist oder nach Ansicht des Antragstellers wäre. Eine Antragstellung gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG setzt daher voraus, dass die angefochtene Bestimmung eine Voraussetzung der Entscheidung des ordentlichen Gerichtes im Anlassfall bildet (VfSlg 20.029/2015; vgl VfSlg 20.010/2015).

1.5.1. Das Erstgericht hat jene Vorschriften, deren Verfassungswidrigkeit der Antragsteller behauptet, angewendet. Die angefochtenen Bestimmungen sind somit als präjudiziell anzusehen:

1.5.1.1. Die Bundesregierung wendet zwar gegen die Zulässigkeit des Antrages ein, dass der Sozialversicherungsträger nicht bescheidmäßig über die Möglichkeit eines Verzichtes nach §76 Abs3 Z1 GSVG abgesprochen habe, weshalb diese Frage daher auch nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien sei, weshalb §89 Abs4 ASGG, selbst wenn er eine Anordnung enthielte, wonach die Kognitionsbefugnis der Arbeits- und Sozialgerichte eingeschränkt sei, im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung gelangt wäre.

1.5.1.2. Damit ist die Bundesregierung jedoch nicht im Recht, weil die bescheidmäßig erfolgte Anordnung zur Rückzahlung empfangener Versicherungsleistungen durch den Versicherungsträger bereits implizit auch den Abspruch enthält, dass die Voraussetzungen eines Rückforderungsverzichts, der dem Sozialversicherungsträger ins pflichtgemäße Ermessen gestellt ist, nicht vorliegen bzw dass das eingeräumte Ermessen nicht zu Gunsten des Versicherten gehandhabt werde. Auch die Klage des Antragstellers wendet sich gegen die auferlegte Pflicht zur Rückzahlung insgesamt (und macht auch Verzichtbarkeit im konkreten Fall geltend), weshalb es nicht zutrifft, dass die Frage der Verzichtbarkeit auf den Rückforderungsanspruch von vornherein nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien sein könnte.

1.6. Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.

Dieser Grundposition folgend hat der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011; VfGH 14.3.2017, G311/2016). Der Antragsteller hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Antragstellers teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014; VfGH 10.3.2015, G201/2014).

Unzulässig ist der Antrag etwa dann, wenn der im Falle der Aufhebung im begehrten Umfang verbleibende Rest einer Gesetzesstelle als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar wäre (VfSlg 16.279/2001, 19.413/2011; VfGH 19.6.2015, G211/2014; 7.10.2015, G444/2015; VfSlg 20.082/2016), der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Verfassungswidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde (vgl zB VfSlg 18.891/2009, 19.933/2014), oder durch die Aufhebung bloßer Teile einer Gesetzesvorschrift dieser ein völlig veränderter, dem Gesetzgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde (VfSlg 18.839/2009, 19.841/2014, 19.972/2015, 20.102/2016).

Unter dem Aspekt einer nicht trennbaren Einheit in Prüfung zu ziehender Vorschriften ergibt sich ferner, dass ein Prozesshindernis auch dann vorliegt, wenn es auf Grund der Bindung an den gestellten Antrag zu einer in der Weise isolierten Aufhebung einer Bestimmung käme, dass Schwierigkeiten bezüglich der Anwendbarkeit der im Rechtsbestand verbleibenden Vorschriften entstünden, und zwar in der Weise, dass der Wegfall der angefochtenen (Teile einer) Bestimmung den verbleibenden Rest unverständlich oder auch unanwendbar werden ließe. Letzteres liegt dann vor, wenn nicht mehr mit Bestimmtheit beurteilt werden könnte, ob ein der verbliebenen Vorschrift zu unterstellender Fall vorliegt (VfSlg 16.869/2003 mwN).

Eine zu weite Fassung des Antrages macht diesen nicht in jedem Fall unzulässig. Zunächst ist ein Antrag nicht zu weit gefasst, soweit der Antragsteller solche Normen anficht, die präjudiziell sind und mit präjudiziellen Bestimmungen in untrennbarem Zusammenhang stehen; dabei darf aber nach §62 Abs1 VfGG nicht offen bleiben, welche Gesetzesvorschrift oder welcher Teil einer Vorschrift nach Auffassung des Antragstellers aus welchem Grund aufgehoben werden soll (siehe mwN VfGH 2.3.2015, G140/2014 ua; vgl auch VfGH 10.12.2015, G639/2015; 15.10.2016, G103/2016 ua). Ist ein solcher Antrag in der Sache begründet, hebt der Verfassungsgerichtshof aber nur einen Teil der angefochtenen Bestimmungen als verfassungswidrig auf, so führt dies — wenn die sonstigen Prozessvoraussetzungen vorliegen — im Übrigen zur teilweisen Abweisung des Antrages (VfSlg 19.746/2013; VfGH 5.3.2014, G79/2013 ua).

Umfasst der Antrag auch Bestimmungen, die nicht präjudiziell sind (insofern ist der Antrag zu weit gefasst), die mit den präjudiziellen (und nach Auffassung des Antragstellers den Sitz der Verfassungswidrigkeit bildenden) Bestimmungen aber vor dem Hintergrund der Bedenken in einem Regelungszusammenhang stehen, so ist zu differenzieren: Sind diese Bestimmungen von den den Sitz der verfassungsrechtlichen Bedenken des Antragstellers bildenden präjudiziellen Bestimmungen offensichtlich trennbar, so führt dies zur teilweisen Zurückweisung des Antrages. Umfasst der Antrag auch Bestimmungen, die mit den präjudiziellen, den Sitz der verfassungsrechtlichen Bedenken des Antragstellers bildenden Bestimmungen in einem so konkreten Regelungszusammenhang stehen, dass es nicht von vornherein auszuschließen ist, dass ihre Aufhebung im Fall des Zutreffens der Bedenken erforderlich sein könnte (sind diese Bestimmungen also nicht offensichtlich trennbar), so ist der Antrag insgesamt zulässig (VfSlg 20.111/2016). Dies gilt nach dem vorhin Gesagten aber keinesfalls dann, wenn Bestimmungen mitangefochten werden (etwa alle eines ganzen Gesetzes), gegen die gar keine konkreten Bedenken vorgebracht werden und zu denen auch kein konkreter Regelungszusammenhang dargelegt wird (VfSlg 19.894/2014; VfGH 29.9.2015, G324/2015; 15.10.2016, G183/2016 ua).

Der Verfassungsgerichtshof entscheidet daher – vor dem Hintergrund der Bedenken und der Erforderlichkeit, die den Sitz der Bedenken bildenden Be-stimmungen (bei geringstmöglichem Eingriff in den Gehalt der Rechtsordnung) zu ermitteln – über die Frage, ob gegebenenfalls auch Bestimmungen aufzuheben sind, die nicht präjudiziell sind, aber mit präjudiziellen Bestimmungen in einem untrennbaren Zusammenhang stehen (vgl zB VfSlg 19.939/2014, 20.086/2016), nicht im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit des Antrages, sondern im Einzelnen erst dann, wenn der Verfassungsgerichtshof, erweist sich der Antrag als begründet, den Umfang der aufzuhebenden Bestimmungen abzugrenzen hat.

1.7. Mit seinem Hauptantrag wendet sich der Antragsteller gegen §89 Abs4 ASGG. Dieser Bestimmung ist nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes die Anordnung immanent, dass den Arbeits- und Sozialgerichten die Anwendung der Verzichtsregelung des §76 Abs3 Z1 GSVG verwehrt sei. Der Verfassungsgerichtshof hat daher dieses Verständnis des §89 Abs4 ASGG zugrunde zu legen. Der Hauptantrag auf Aufhebung des §89 Abs4 ASGG erweist sich demnach – zumal auch keine anderen Prozesshindernisse hervorgekommen sind – als zulässig, sodass es sich erübrigt, auf die Eventualanträge einzugehen.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).

2.2. Der Antrag ist begründet:

2.2.1. Der Antragsteller bringt (neben einem behaupteten Verstoß gegen den Grundsatz der Trennung der Justiz von der Verwaltung) auf das Wesentliche zusammengefasst vor, es verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip, wenn Ermessensfehler bei der Rückforderung von Leistungen nicht überprüft werden könnten. Dazu komme, dass, wenn ein Versicherungsträger auf einen Teil des rückforderbaren Betrages verzichte, mit der Klage beim Arbeits- und Sozialgericht auch dieser Verzicht außer Kraft trete, ohne dass das Gericht seinerseits verzichten könne.

2.2.2. Die Bundesregierung bezweifelt in ihrer Äußerung, dass §89 Abs4 ASGG eine Anordnung enthalte, wonach die Kognitionsbefugnis der Arbeits- und Sozialgerichte in der vorgebrachten Weise eingeschränkt sei.

2.2.3. Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

2.2.3.1. Gemäß §76 Abs1 GSVG "hat" der Versicherungsträger zu Unrecht erbrachte Geldleistungen unter näher bestimmten Voraussetzungen zurückzufordern. Gemäß §76 Abs3 GSVG "kann" der Versicherungsträger bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände auf die Rückforderung zur Gänze oder zum Teil verzichten oder die Erstattung des zu Unrecht bezahlten Betrages in Teilbeträgen zulassen. Die Rückforderung zu Unrecht erbrachter Leistungen erfolgt mit Bescheid des Versicherungsträgers (§194 GSVG iVm §367 Abs2 ASVG). Ein Bescheid, mit dem zu Unrecht erbrachte Leistungen zurückgefordert werden, impliziert auch den Abspruch, dass im Umfang der Rückforderung vom eingeräumten Ermessen auf Verzicht nach §76 Abs3 Z1 GSVG nicht Gebrauch gemacht wird, sei es, weil die Ermessensvoraussetzungen nicht vorliegen, sei es, weil das Ermessen zu Lasten des Versicherten ausgeübt wird (insofern unterscheidet sich die hier maßgebliche Rechtslage erheblich von jener, die der Verfassungsgerichtshof zu VfSlg 19.963/2015 zu beurteilen hatte).

2.2.3.2. Gemäß §194 GSVG iVm §354 Z2 ASVG zählt die Feststellung der Verpflichtung zum Rückersatz einer zu Unrecht erlangten Versicherungsleistung zu den Leistungssachen (vgl VfSlg 19.812/2013). Nach §65 Abs1 Z2 ASGG sind Rechtsstreitigkeiten über die Pflicht zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung (§354 Z2 ASVG, §194 GSVG) Sozialrechtssachen. Vom Versicherten darf Klage – innerhalb von vier Wochen – nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger hierüber bereits mit Bescheid entschieden hat (§69 ASGG). Wird in einer Leistungssache nach §65 Abs1 Z2 ASGG die Klage rechtzeitig erhoben, so tritt der Bescheid des Versicherungsträgers im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft (§71 Abs1 ASGG). Gemäß §89 Abs4 ASGG hat das Gericht, wenn in einer Rechtsstreitigkeit nach §65 Abs1 Z2 ASGG die Klage abgewiesen wird, weil eine Rückersatzpflicht des Klägers besteht, diesem unter einem den Rückersatz an den Beklagten aufzuerlegen; dabei ist die Leistungsfrist unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers nach Billigkeit zu bestimmen; insoweit kann das Gericht auch die Zahlung in Raten anordnen.

2.2.3.3. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes in Arbeits- und Sozialrechtssachen (siehe zu §76 Abs3 GSVG OGH 11.6.1991, 10 ObS 158/91 und OGH 23.6.1998, 10 ObS 210/98z; zu §107 Abs3 ASVG etwa OGH 10.11.1992, 10 ObS 146/92; 24.4.2001, 10 ObS 100/01f; 14.9.2004, 10 ObS 126/04h, und OGH 23.3.2010, 10 ObS 27/10h; ferner etwa OGH 21.4.2009, 10 ObS 52/09h) ist den Arbeits- und Sozialgerichten durch die Bestimmung des §89 Abs4 ASGG nur die Möglichkeit der Ratengewährung (nach §107 Abs3 Z2 ASVG, §76 Abs3 Z2 GSVG etc.) eingeräumt, während es der Gesetzgeber unterlassen hat, den Gerichten auch die Kompetenz für eine gänzliche oder teilweise Nachsicht der Rückzahlungspflicht nach §107 Abs3 Z1 ASVG, nach §76 Abs3 Z1 GSVG etc. zu übertragen.

2.2.4. Die rechtsstaatlichen Bedenken des Antragstellers sind aus folgenden Gründen berechtigt:

2.2.4.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zum rechtsstaatlichen Prinzip gipfelt dessen Sinn darin, dass alle Akte staatlicher Organe im Gesetz und mittelbar letzten Endes in der Verfassung begründet sein müssen und ein System von Rechtsschutzeinrichtungen Gewähr dafür bietet, dass nur solche Akte in ihrer rechtlichen Existenz als dauernd gesichert erscheinen, die in Übereinstimmung mit den sie bedingenden Akten höherer Stufe erlassen wurden (vgl etwa VfSlg 11.196/1986, 12.409/1990). Letzten Endes verlangt das Rechtsstaatsprinzip damit, dass dem Staat zurechenbare Akte in rechtsstaatlicher Weise überprüfbar sind (vgl etwa VfSlg 18.747/2009, 19.009/2010).

2.2.4.2. Diesen Anforderungen trägt insbesondere Art130 Abs1 Z1 B-VG Rechnung, indem er gegen Bescheide von Verwaltungsbehörden die Beschwerde an die Verwaltungsgerichte eröffnet, sofern keine Ausnahme nach Art130 Abs5 B-VG vorliegt, etwa weil eine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte vorgesehen ist. Zur Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte zählen auch Angelegenheiten, die der einfache Gesetzgeber der sukzessiven Kompetenz der ordentlichen Gerichte überantwortet.

Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten