TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/2 W191 2142422-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.03.2020
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Entscheidungsdatum

02.03.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs4b
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W191 2142422-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.11.2016, Zahl 1071907107-150603344, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.10.2019 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte nach seinem Aufgriff in 7540 Güssing am 02.06.2015 am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In seiner Erstbefragung am 03.06.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein einer Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Er stamme aus den Provinz Baghlan und Balkh, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und ledig. Er habe vier Jahre die Grundschule besucht. Seine Familie (Eltern, Ehefrau, Sohn, Brüder, Schwestern) lebe noch zu Hause.

Seine Heimat habe er vor drei Monaten verlassen und sei schlepperunterstützt über ihm nicht bekannte Länder bis nach Österreich gebracht worden.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er und sein Vater von den Taliban (Cousins väterlicher Seite) bedroht worden seien, weil der BF als Soldat tätig gewesen sei. Sein Bruder sei tätlich angegriffen worden, der BF habe fliehen können. Sein Vater habe daher beschlossen, dass der BF das Land verlassen solle.

1.3. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) am 15.09.2016, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, machte der BF Angaben zu seiner Person und zu seinen Lebensumständen.

Zu seinem Fluchtgrund befragt sagte der BF (Auszug aus der Niederschrift, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] LA [Leiter der Amtshandlung]: Nennen Sie nun unter Angaben von Details Ihre Flucht- und Asylgründe!

VP [Verfahrenspartei]: Ich war für das afghanische Militär tätig und immer wieder in verschiedenen Provinzen tätig. Bei meinem letzten Auftrag waren wir mit den Amerikanern zusammen vereint, in Mazar-e Sharif, Baghlan, im Dorf XXXX . Bei diesem Auftrag kam es zu einem Kampf mit den Taliban, es wurden ungefähr 20 Taliban von uns getötet. Und die drei Verletzten nahmen wir mit und überstellten sie an das Militär, es ist die Sicherheitsgruppe des Militärs. Nach einer gewissen Zeit bekam mein Vater einen Anruf. Man teilte meinem Vater mit, dass ich mit den Verrätern vereint gewesen sei und die Taliban getötet hätte und sie mich demnächst töten werden. Abgesehen von diesem Problem habe ich ein nächstes, es geht um meine Frau, wir haben ein gemeinsames Kind. Ich lernte meine Frau bei einer Hochzeit kennen, sie hat mir gleich gefallen, sie hat mir aber gesagt, dass sie bereits jemand anders versprochen wäre und die Hochzeit anstehe. Wir haben beschlossen, gemeinsam zu flüchten. Sie ist dann nach Mazar-e Sharif, ich bin aber bereits wegen dem anderen Problem vorher ausgereist. Meine Frau ist mit meinem Bruder in den Iran gereist, das Ganze hat mein Vater organisiert. Das ist alles.

LA: Wann war der Kampf?

VP: Eineinhalb Jahre vor meiner Ausreise.

LA: Wo haben Sie gelebt, als dieser Vorfall passiert ist?

VP: Ich habe mit meiner Frau in Mazar-e Sharif gelebt und mein Vater in Baghlan, XXXX .

LA: Wann haben Sie Ihre Frau kennengelernt und geheiratet?

VP: Vor zweieinhalb Jahren habe ich sie kennengelernt. Ein Jahr später haben wir geheiratet.

LA: Und bis zu Ihrer Ausreise haben Sie zusammengelebt?

VP: Ja.

LA: Was war nun der Grund, warum Sie ausgereist sind?

VP: Wegen dem Militärproblem und dem Problem mit meiner Frau.

LA: Was ist passiert, als Sie mit Ihrer Frau zusammengelebt haben?

VP: In der Zeit, als wir zusammengelebt haben, ist nichts passiert. Sie haben uns nicht ausfindig gemacht.

LA: Wann bekam Ihr Vater diesen Anruf mit der Drohung?

VP: Zehn Tage vor meiner Ausreise.

LA: Und in der Zwischenzeit ist nichts passiert?

VP: Einen Tag war mein Vater krank, ich wollte zu ihm fahren. Auf dem Weg dorthin standen bewaffnete Personen, zum Glück kam ein Militärfahrzeug, ich weiß aber nicht, ob die Personen wegen mir da waren. Ein Bruder im Dorf ist angeschossen [worden], ich kam dann zu der Überlegung, mein Bruder ist vermutlich von der Familie meiner Frau angeschossen worden, aber genau weiß ich es nicht.

LA: Haben Sie Ihren Bruder nicht nachgefragt?

VP: Mein Bruder hat diese Person nicht gekannt.

LA: Woher kommt Ihre Frau?

VP: Sie ist aus Baghlan, XXXX .

LA: Kennen Sie die Familie Ihrer Frau?

VP: Nein, ich weiß nicht, wer ihre Angehörigen sind.

LA: Wie konnten Sie überhaupt dann Ihre Frau heiraten?

VP: In Mazar-e Sharif hatten wir einen Mullah dabei, und er hat die Heirat für gültig erklärt.

LA: Ihre Frau kam einfach nach Mazar-e Sharif?

VP: Nein, ich habe sie aus der Stadt Baghlan abgeholt.

LA: Ihre Frau hat alleine in Baghlan auf Sie gewartet?

VP: Ich sagte ihr, sie soll beim Kreisverkehr auf mich warten, und von dort habe ich sie geholt.

LA: Erklären Sie mir, wie Ihre Frau alleine unterwegs sein konnte, wie es dort nicht ortsüblich ist!

VP: So ist es auch nicht, dass die Frauen dort im Haus gefangen sind, und wenn sie mich nicht erreicht hätte, hätte sie sich das Leben genommen.

LA: Wie alt ist Ihr Kind?

VP: Eineinhalb Jahre alt. Drei Tage vor meiner Ausreise.

LA: Wo wurde Ihr Kind geboren?

VP: In Mazar-e Sharif, zuhause.

LA: Sie sagten, Sie hätten andere ausgebildet, auf welchen Waffen?

VP: Infur, die Waffe M249, M240.

LA: Was meinen Sie damit, Pistolen, Gewehre?

VP: Pistole ist mit einer Hand, das ist eine Waffe, die man mit zwei Händen halten muss.

LA: Hätten Sie nicht woanders in Afghanistan wie etwa Kabul weiterleben können?

VP: Wenn ich in Afghanistan bleiben hätte können, hätte ich gleich in Mazar-e Sharif bleiben können. Das Leben war für mich dort nicht mehr sicher.

LA: Haben Sie Ihren Vater gefragt, wer genau ihn angerufen hat?

VP: Ja, es waren meine Cousins väterlicherseits, sie waren alle Talibananhänger.

LA: Was passierte nach diesem Anruf?

VP: Nach diesem Anruf passierte nichts, aber mein Vater hat zehn Tage gebraucht, um mich fortzuschicken.

LA: Was hätten Sie bei einer Rückkehr in Ihr Heimatland zu befürchten?

VP: Ich habe Angst vor den Cousins väterlicherseits und der Familie meiner Frau.

[...]

LA: Waren Sie vor Ihrer Ausreise noch jeden Tag auf der Arbeit?

VP: Ja, ich ging meiner Arbeit nach, denn das Haus befand sich in der Nähe der Arbeitsstelle.

LA: Von welcher Entfernung sprechen Sie?

VP: Ca. zwei bis drei Kilometer entfernt.

LA: Hat Ihre Arbeitsstelle eine bestimmte Bezeichnung?

VP: Special Force des Militärs.

LA: Haben Sie einen Nachweis über den Zutritt dazu?

VP: Ich habe es verlangt, aber der Dienstausweis wurde mir nicht zugeschickt. [...]"

Auf die Erläuterung der "aktuellen Länderfeststellungen" zu seinem "Heimatland" (anzunehmenderweise das damals aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA) verzichtete der BF und gab an, er kenne sein Heimatland.

Dem Verwaltungsakt liegen auf den Seiten 39 bis 55 - unchronologisch vor der Einvernahmeniederschrift eingeordnet - vom BF vorgelegte Belege zu seiner Identität und zu seinem Fluchtvorbringen (Tazkira - afghanisches Personaldokument, Bankkarte, mehrere Bestätigungen betreffend Militärausbildungen) ein.

1.4. Mit Bescheid vom 24.11.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 02.06.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Bezüglich des Fluchtvorbringens wurde im Wesentlichen knapp ausgeführt, dass sein Vorbringen fragwürdig erscheine, zumal nicht er selbst, sondern sein Vater bedroht worden sei, und es eher fraglich erscheine, dass er die Angehörigen seiner Frau nicht kennengelernt habe. Dass sein Bruder von der Familie seiner Frau angeschossen worden sei, beruhe auf einer Vermutung.

1.5. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 12.12.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und "der Verletzung von Verfahrensvorschriften" ein.

In der weitwendigen Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen das Vorbringen des BF im Verfahren zusammengefasst wiederholt und moniert, dass dem BF Verfolgung durch die Taliban wegen unterstellter feindlicher Gesinnung sowie von der Familie seiner Ehefrau wegen Ehrverletzung drohe.

Die Beschwerdebegründung enthält - für das gegenständlichen Verfahren nicht unmittelbar relevante - Ausführungen zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der damals geltenden Rechtsmittelfrist sowie weitere umfassende Rechtsausführungen. Aus diversen Berichten zu Afghanistan wurde zitiert. Die belangte Behörde habe ihre Pflicht zur Ermittlung des Sachverhaltes in grober Weise verletzt. Die Beweiswürdigung sei nicht zutreffend, der BF habe seine Asylgründe schlüssig, ausführlich und glaubhaft geschildert und belegt.

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

1.6. Das BVwG führte am 28.10.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF persönlich erschien.

Dabei gab der BF unter anderem an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"[...] RI [Richter]: Warum kommen Sie unvertreten?

BF: Ich habe den Gesprächstermin, den die ARGE Rechtsberatung mir gegeben hat, übersehen. Ich sah den Zettel erst heute.

[...]

RI: Was ist Ihre Muttersprache?

BF: Paschtu. Ich spreche darüber hinaus Dari und etwas Hindi und Urdu. Hindi habe ich durch Sehen von Bollywood-Filmen in Afghanistan gelernt.

RI: Bei der Erstbefragung und Einvernahme vor dem BFA wurden Sie in Dari befragt?

BF: Ja, es handelte sich um Dolmetscherinnen, die nicht Paschtu sprechen konnten und auch einige Militärbegriffe nicht richtig übersetzt haben.

RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?

D: Paschtu.

RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.

Zur heutigen Situation:

RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?

BF: Ja, wenngleich ich körperlich etwas schwach bin, weil ich heute Nacht nicht gut schlafen konnte.

RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?

BF: Nein.

[...]

Der BF hat bisher seine Tazkira (afghanisches Personaldokument) sowie Belege für seine Militärausbildung und seine Tätigkeit in der afghanischen Nationalarmee vorgelegt. Belege zu seiner Integration in Österreich hat er bisher keine vorlegt und legt auch heute keine vor.

BF: Ich habe in den ersten drei Monaten meines Aufenthaltes in Österreich einen Deutschkurs besucht. Ich habe versucht, eine Schule in Österreich zu besuchen. Auch die Caritas hat mir dabei geholfen. Aber da ich keinen Aufenthaltstitel hatte, wurde ich nicht genommen. Ich habe auch versucht, bei meiner Aufenthaltsgemeinde die Möglichkeit zu Erwerbstätigkeiten zu erhalten, ich bekam aber keine Arbeit.

[...]

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen Lebensumständen:

[...]

RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF: Ich bin verheiratet.

RI: Haben Sie Kinder?

BF: Ja, einen Sohn, er ist viereinhalb oder fünf Jahre alt.

RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: Ich habe in Afghanistan ca. vier Jahre lang eine Schule besucht, aber ich bin Analphabet, man kann mich nicht als einen gebildeten Menschen bezeichnen. Ich kann ein bisschen Schreiben und Lesen.

RI: Wo leben in Afghanistan Ihre Verwandten?

BF: Meine Verwandten leben in Baghlan und ein paar auch in Mazar-e Sharif. Diese bewegen sich, so habe ich vor kurzem erfahren, aufgrund der unsicheren Lage von Provinz zu Provinz. Zwei meiner verheirateten Schwestern leben in Baghlan, und zwei unverheiratete Schwestern leben zuhause in XXXX in XXXX , einem Distrikt in der Provinz Balkh, dieser Distrikt liegt an der Grenze zu Usbekistan. Meine Frau lebte bis vor ca. einem oder eineinhalb Monaten mit meinem Bruder im Iran, und nun wurden sie aus dem Iran nach Afghanistan ausgewiesen. Sie leben jetzt versteckt in der Gegend um Mazar-e Sharif. Keiner weiß, wo sie sich aufhalten. Mein Vater lebt in XXXX , aber derzeit befindet er sich in XXXX , dieser Ort liegt an der Grenze zu Tadschikistan, er arbeitet dort selbständig, er wägt LKW, die von Tadschikistan nach Afghanistan Waren transportieren.

RI: Wann haben Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen?

BF: Im Jahr 2015 ungefähr im dritten Monat, ich habe es vergessen.

Zur derzeitigen Situation in Österreich:

RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?

BF: Nein.

RI: Haben Sie Kontakt zu Österreichern? Haben Sie in Österreich wichtige Kontaktpersonen, und wie heißen diese?

BF: Ja, ich habe Bekanntschaften und Freundschaften, die ich bei Festen kennengelernt habe. Ich habe zu ihnen Kontakt, wir besuchen ca. dreimal im Jahr Feste. Unsere Vermieter arbeiten auch bei diesem Fest, sie haben einen eigenen Stand. Ich helfe ihnen manchmal aus.

RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.

RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?

BF: Ich verstehe ca. 30 bis 40 % von dem, was Sie sagen.

RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und relativ flüssig auf Deutsch beantwortet hat.

RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?

BF: Nein.

RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach?

BF: Ich spiele mit Freunden Fußball. Ich habe sogar die Menschen dort, die auf den Feldern gearbeitet haben, gefragt, ob ich ihnen helfen kann, und habe manchmal geholfen, etwa Steine klauben. Ich habe dabei vielen älteren Menschen geholfen.

RI: Wie ist Ihr Tagesablauf?

BF: In der Früh stehe ich auf, ich bete, und nach dem Gebet frühstücke ich. Ich treffe mich nachher mit einem Freund, oder ich lerne etwas Deutsch. Am Nachmittag gehen wir Fußball spielen, oder wir gehen eineinhalb Stunden lang spazieren. Dann am Abend bereite ich das Abendessen vor. Manchmal muss ich Fernschauen, damit ich Deutsch lernen kann. Ich bin gestern mit dem Zug nach Wien gefahren und habe bei einem befreundeten Asylwerber übernachtet. Er hat mich zur Verhandlung begleitet und sitzt draußen. Zur Verhandlung heute hätten mich mehrere Österreicher als Vertrauenspersonen begleiten wollen, aber da sie berufstätig sind, habe ich sie nicht darum gebeten.

RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?

BF: Nein.

RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?

BF: Ja, ich telefoniere mehrmals täglich mit meiner Frau und auch mit meinem Bruder, der mit ihr lebt. Mit meinem Vater habe ich schon seit langem keinen Kontakt mehr, ebenso auch mit meinen anderen Brüdern. Ich habe ihre Telefonnummer nicht. Ich habe die Nummer auswendig gelernt und dann vergessen und auch mein Handy verloren.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.

Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint? Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.

BF: Ja, ich habe die Wahrheit gesagt. Ich habe inzwischen von meinem Bataillon Daten zu meiner Militärausbildung nachträglich erhalten, die ich vorbringen möchte.

RI: Sie haben angegeben, dass Sie und Ihr Vater als Soldaten bedroht worden seien?

BF: Nein, mein Vater war kein Soldat und hatte auch nichts mit Politik zu tun.

RI: Unter welchen Umständen, wann und wo, ist Ihr Bruder verletzt worden?

BF: Mein Bruder wurde auf dem Weg von unserem Heimatdorf in der Nähe von XXXX auf dem Weg nach Pol-e Khumri an Schulter/Oberkörper angeschossen, mehr weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob er auf dem Hin- oder Rückweg war. Es ist jener Bruder, der mit meiner Frau lebt.

RI: Warum haben Sie Afghanistan Richtung Europa verlassen und nicht Ihr Bruder? Warum sind nicht Sie mit Ihrer Frau in den Iran gegangen, sondern Ihr Bruder?

BF: Nach der letzten Bedrohung durch die Taliban hat mein Vater sich gedacht, mich so schnell wie möglich aus dem Land wegzuschicken, sonst könnte ich getötet werden. Darüberhinaus hatte ich auch persönliche Probleme. Ich hatte Probleme mit der Familie meiner Ehefrau. Als mein Vater mich wegschickte, wurde er von der Familie meiner Ehefrau erwischt. Danach hat mein Vater meine Ehefrau und meinen Bruder in den Iran geschickt. Ich war schon vorher weggegangen.

RI: Sie haben bei Ihrer Einvernahme gesagt, dass Sie auf den Waffen M249 und M240 ausgebildet worden wären. Handelte es sich dabei um Pistolen oder Gewehre?

BF: Es handelte sich um Sturmgewehre PK, ein Model ist ein Handsturmgewehr und das andere ist ein Sturmgewehr, das auf Autotragflächen montiert wird.

RI: In welcher Form wurden Sie von den Taliban bedroht?

BF: In einem Einsatz sind wir von Mazar-e Sharif zusammen mit Amerikanern nach Baghlan mit einem Flugzeug geflogen. Unser Einsatzort war XXXX in der Provinz Baghlan. Nachdem wir dort gelandet waren, kam es zu einem Gefecht mit den Taliban. Von der Seite der Taliban wurden 20 Kämpfer getötet und drei verwundet. Unter den drei Verwundeten kannte ich einen, den Namen weiß ich, aber so genau kannte ich ihn nicht. Nachdem diese verwundete Person mir den Namen nannte, kann ich mich bis zum heutigen Tag an seinen Namen erinnern. Er hieß XXXX . Nach dem Einsatz brachten wir diese Verwundeten in eine Moschee des Dorfes. Wir haben diese drei Verwundeten aus dem Kampfgebiet weggebracht. Es war aber auch nicht sehr weit weg, die Kämpfe haben nicht weit von dort stattgefunden. Bevor wir zu unserem Lager zurückkehrten, unser Lager befand sich in Mazar-e Sharif, haben wir diese drei Verwundeten der NSD übergeben. Etwa zehn Tage nach diesem Einsatz wurde mein Vater von seinen eigenen Neffen angerufen, und sie sagten ihm, dass ich für die Ungläubigen arbeite und ich hätte ihre Leute verwundet und getötet. Ich sei ein Abtrünniger. Nach diesem Anruf beschloss mein Vater, mich Richtung Europa zu schicken.

RI: Warum kennen Sie die Familie Ihrer Frau nicht?

BF: Als ich meine Frau kennenlernte, hatte ich nicht sehr viele Informationen über ihre Familie. Mit der Zeit hatte ich dann etwas mehr Informationen über ihre Familie. Jetzt kenne ich sie. Ich habe von meiner Frau erfahren, wie die Eltern von ihr sind, das heißt, wer sie sind und was sie machen. Es gibt nicht sehr viele Details über die Eltern bzw. über die Familie meiner Ehefrau. Sie erzählte mir, dass ihr Vater ein Kommandant der Sicherheitsdirektion der Provinz Baghlan gewesen sei. Er sei ein Warlord (Kriegsherr).

RI: Vermuten Sie, dass dieser Vater den Angriff auf Ihren Bruder veranlasst hat?

BF: Zu Beginn habe ich mir nicht gedacht, dass er das sei, aber nachher schon.

RI: Sie wollten vorher Daten zu Ihrer Militärausbildung angeben, dies können Sie jetzt tun.

BF: Am 08.08.1389 (umgerechnet 30.10.2010) war mein Antritt beim Militärdienst, und mein Abschluss der militärischen Ausbildung war am 16.10.1389 (umgerechnet 06.01.2011) bei der Nationalarmee.

RI ersucht D, die im Verwaltungsakt auf den Seiten 39 bis 47 und 51 bis 55 einliegenden Farbkopien (8 Seiten) - der BF kann die Originale in der Verhandlung vorlegen - zu übersetzen. Laut D handelt es sich dabei bei ersteren um eine Bestätigung über eine Militärausbildung in Zusammenarbeit mit kanadischen Einheiten (vom 15.12.2011) sowie um eine Ausbildungsbestätigung der Kommandoschule des Verteidigungsministeriums vom 02.11.1389 (umgerechnet 22.01.2011) bis 08.01.1390 (umgerechnet 28.03.2011). Bei zweiteren handelt es sich um eine Ausbildungsbestätigung der Kommandoschule des Verteidigungsministeriums vom 06.02.1390 (umgerechnet 28.04.2011) bis 06.05.1390 (umgerechnet 28.07.2011) sowie um eine Ausbildungsbestätigung der Brigade-Spezialeinheit vom 06.09.1391 (umgerechnet 26.11.2012) bis 20.10.1391 (umgerechnet 09.01.2013).

Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.

Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.

Dem BF werden Kopien der vorliegenden Berichte und Feststellungen ausgefolgt.

Ihm wird geraten, mit dieser Verhandlungsschrift seinen Rechtsberater aufzusuchen.

Dem BF wird eine Frist von drei Monaten zur Nachbringung von weiteren Belegen zur Glaubhaftmachung seines Vorbringens (z.B. Heiratsurkunde - Ehe, Geburt eines Sohnes, Verletzung des Bruders, Kampf mit den Taliban - Tötung und Verletzung von mehreren Personen, Angabe genauer Daten von Personen, Orten und Zeiten, beglaubigte Zeugenaussagen etc.) eingeräumt.

Ermittlungsermächtigung:

RI: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?

BF: Ja, aber wenn man außerhalb meiner Militärdienststellen Recherchen durchführen würde, könnte das mit Gefahren für mich und meiner Familie verbunden seien.

RI befragt BF, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.

RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht. [...]"

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BFA wurden die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat dazu keine Stellungnahme abgegeben.

1.7. Mit Eingabe seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 28.01.2020 legte der BF ergänzende Belege für sein Vorbringen vor:

Bestätigung seines Militärvorgesetzten in Baghlan bezüglich der Angaben des BF zu seinen Tätigkeiten und seiner Bedrohung durch die Taliban; Geburtsbestätigung seines Sohnes XXXX im Krankenhaus XXXX am 13.10.1393, umgerechnet 03.01.2015; Foto seines Bruders mit Schusswunde). Die Beschaffung einer Heiratsurkunde scheitere darin, dass die Ehegattin des BF über keine Tazkira verfüge und diese ohne die Zustimmung ihres Vaters oder ihres - abwesenden - Ehegatten - nicht ausgestellt werden könne (belegt mit einer ACCORD-Anfragebeantwortung).

Den vom erkennenden Gericht amtlich veranlassten Übersetzungen zufolge entsprechen die Inhalte dieser mit Kopf, Zahl und Datum versehenen Schriftstücke den vom BF angegebenen Inhalten.

Auch diese Eingabe wurde dem BFA übermittelt. Es hat auch dazu keine Stellungnahme abgegeben.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 03.06.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 15.09.2016, die vom BF vorgelegten Beweismittel zu seiner Identität (Tazkira, Bankkarte) und zu seinem Fluchtvorbringen (Militärausbildungsbestätigungen) sowie die Beschwerde vom 12.12.2016

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Seiten 84 bis 150 im Verwaltungsakt)

* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 28.10.2019 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege (Geburtsbestätigung seines Sohnes, Bestätigung seines Vorgesetzten über die Tätigkeit des BF und seine Bedrohung durch die Taliban, Foto seines Bruders mit Schusswunde)

* Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

- Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in den Provinzen Baghlan und Balkh (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 04.06.2019)

- Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly (in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009)

- gutachterliche Stellungnahme der Ländersachverständigen Mag. Zerka Malyar (vom 27.07.2009 vor dem Asylgerichtshof, zitiert vom BVwG im Erkenntnis vom 21.01.2016, Zahl W174 1436214-1) zu "Blutrache und Ehrenmord" in Afghanistan

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht darüber hinaus auch Dari und etwas Hindi und Urdu.

3.1.2. Der BF stammt aus den Provinzen Baghlan und Balkh, Afghanistan, hat vier Jahre die Grundschule besucht und war beim Militär tätig.

Der BF ist seit 2015 verheiratet. Seine Familie (mit seiner Ehefrau und seinem Sohn), für die sein Bruder sorgt, war eine Zeitlang im Iran aufhältig und wurde von dort wieder nach Afghanistan abgeschoben, wo sie im Verborgenen lebt. Der BF hat Kontakt zu seiner Familie.

3.1.3. Der BF verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache. Er hat in Österreich Bekannt- und Freundschaften geschlossen und betreibt regelmäßig Sport.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF hat glaubhaft gemacht, dass er im Kampf für die Nationalarmee bei einem Einsatz gemeinsam mit "den Amerikanern" an einem Gefecht bei XXXX (Provinz Baghlan) teilgenommen hat, bei dem ca. 20 Taliban-Kämpfer getötet und drei verwundet worden sind. Er hat weiters glaubhaft gemacht, dass ca. zehn Tage später, nachdem sie die drei Verwundeten den behörden übergeben hatten, sein Vater von seinen eigenen Neffen angerufen worden ist, die ihm vorgeworfen haben, dass der BF für die Ungläubigen arbeite und Taliban verwundet und getötet hätte; er sei ein Abtrünniger.

Der BF hat weiters glaubhaft gemacht, dass er Probleme mit der Familie seiner Ehefrau hat, deren Vater - ein Warlord - seine Tochter bereits einem anderen Mann versprochen hatte. Der BF ist daher mit seiner Ehefrau geflohen und hat an einem verborgenen Ort gelebt und im Jahr 2015 ihren gemeinsamen Sohn zur Welt gebracht.

3.2.2. Der BF befürchtet, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seines militärischen Einsatzes gegenüber den Taliban in exponierter Stellung (Angehöriger der Nationalarmee, Teilnahme an einem Gefecht, bei dem ca. 20 Taliban-Kämpfer getötet wurden) wegen unterstellter politischer bzw. religiöser Gesinnung von den Taliban getötet zu werden.

Er fürchtet weiters, von der Familie seiner Ehefrau mangels Zustimmung zur Eheschließung verfolgt zu werden und vermutet, dass der Überfall auf seinen Bruder, bei dem dieser angeschossen worden ist, von dieser Familie durchgeführt worden ist.

3.2.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Es konnte vom BF glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus den oben angeführten asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.2.4. Dem BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung, zumal er landesweit aufgefunden werden könnte und die staatlichen Einrichtungen seines Herkunftsstaates nicht hinreichend imstande wären, ihn vor dieser Verfolgung zu schützen.

3.2.5. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist.

3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 13.11.2019", Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

3. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

[...]

Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

[...]

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

[...]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen i

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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