TE Bvwg Erkenntnis 2019/8/29 I421 2151546-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.08.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

29.08.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AVG §68 Abs1
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 2
EMRK Art. 3
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch

I421 2151546-2/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Martin STEINLECHNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Nigeria, vertreten durch den Verein LegalFocus, Lazarettgasse 28/3, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 01.08.2019, Zl. 790400203 - 190711944/BMI-EAST_WEST, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, als dass die Spruchpunkte IV., V., und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben werden.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Nigeria, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen am 02.04.2009 nach Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 28.04.2010, Zl. A5 412.463-1/2010 rechtskräftig als unbegründet abgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria ausgewiesen wurde.

In seinem ersten Asylverfahren gab der Beschwerdeführer zusammenfassend an, dass er Nigeria verlassen habe, da man ihn beschuldigt habe, an dem Mord seines Chefs, einen Top-Politiker, beteiligt gewesen zu sein. Er habe mit dem Mord allerdings nichts zu tun gehabt, sondern sei lediglich als Wachmann für seinen Boss tätig gewesen.

2. Der Beschwerdeführer kam seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach. Am 31.03.2011 wurde seitens der Bezirkshauptmannschaft Melk ein fremdenpolizeilicher Festnahmeauftrag gegen den Beschwerdeführer erlassen. Nachdem dieser im Zuge wiederholter polizeilicher Kontrollen an seiner Meldeadresse nicht angetroffen werden konnte, wurde am 12.04.2011 die amtliche Abmeldung des Beschwerdeführers veranlasst.

3. Am 24.09.2012 wurde der Beschwerdeführer im Zuge einer polizeilichen Kontrolle im öffentlichen Raum angetroffen. Der Beschwerdeführer versuchte sich dieser Kontrolle durch Flucht zu entziehen, konnte jedoch in weiterer Folge von den Beamten aufgegriffen und auf Grundlage der Bestimmung des § 39 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) festgenommen werden.

4. Mit Bescheid der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 24.09.2012 wurde über den Beschwerdeführer die Schubhaft verhängt und in weiterer Folge die Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes für den Beschwerdeführer bei der nigerianischen Vertretungsbehörde in Wien beantragt.

5. Mit Bescheid der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 04.10.2012, Zl. 1025299/FP/12 wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem auf zwei Jahre befristeten Einreiseverbot für den gesamten Schengen-Raum erlassen. Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 04.10.2012 zugestellt und einer Berufung gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gegen diesen Bescheid wurde das Rechtsmittel der Berufung an den Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Niederösterreich erhoben.

6. Am 08.10.2012 wurde der Beschwerdeführer aufgrund von Haftunfähigkeit aus der Schubhaft entlassen.

7. Der gegen den Bescheid der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 04.10.2012, Zl. 1025299/FP/12 erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Niederösterreich vom 20.12.2012, Zl. Senat-AB-12-0262 mit der Maßgabe teilweise stattgegeben, dass das Einreiseverbot mit achtzehn Monaten festgesetzt und die Wortfolge "für den gesamten Schengen-Raum" behoben wurde. Im Übrigen wurde die Berufung als unbegründet abgewiesen. Der Berufungsentscheidungsbescheid wurde dem Beschwerdeführer am 04.01.2013 zugestellt und erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

8. Am 15.07.2015 brachte der Beschwerdeführer beim Magistrat der Stadt St. Pölten einen Antrag auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot-Karte plus" ein und legte im Zuge des Verfahrens einen am 29.09.2015 von der nigerianischen Vertretungsbehörde in Wien ausgestellten Reisepass vor.

9. Am 10.11.2015 wurde dem Beschwerdeführer seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) die Information zur Ausreiseverpflichtung nach § 58 Fremdenpolizeigesetz 2005 zugestellt und ihm eine Frist von zwei Wochen für eine freiwillige Ausreise gewährt. Nachdem der Beschwerdeführer der belangten Behörde keine Bestätigung über seine erfolgte Ausreise in Vorlage gebracht hatte, wurde am 16.06.2016 gegen ihn ein Festnahmeauftrag nach § 34 Abs. 3 Z 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) erlassen. Nachdem der Beschwerdeführer an der von ihm genannten Kontaktadresse nicht angetroffen werden konnte, konnte der Festnahmeauftrag nicht vollzogen werden.

10. Mit Schreiben an die belangte Behörde vom 30.06.2016 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Aufhebung des gegen ihn mit Bescheid der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 04.10.2012, Zl. 1025299/FP/12 verhängten Einreiseverbotes. Begründend führte er aus, dass sich die Umstände, welche zur Erlassung des Einreiseverbotes geführt haben, geändert hätten. Die Identität des Beschwerdeführers stehe nunmehr aufgrund seines im Original vorgelegten nigerianischen Reisepasses fest, zudem sei er aufrecht gemeldet und somit jederzeit behördlich greifbar (entgegen diesem Vorbringen ist der Beschwerdeführer seit dem 17.08.2016 nicht mehr aufrecht im Bundesgebiet gemeldet). Seinen Lebensunterhalt würde er aktuell durch Unterstützungsleistungen der katholischen Kirche sowie naher Freunde bestreiten, zudem habe er ein Deutsch-Zertifikat auf B1-Niveau erwerben können und eine Beschäftigungszusage einer Firma für Garten- und Landschaftspflege sowie Schneeräumung.

11. Am 18.10.2016 zog der Beschwerdeführer seinen beim Magistrat der Stadt St. Pölten gestellten Antrag auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot-Karte plus" vom 15.07.2015 wieder zurück.

12. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 22.02.2017, Zl. 790400203 - 160926625 wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 05.08.2015 auf Aufhebung des gegen ihn mit Bescheid der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 04.10.2012, Zl. 1025299/FP/12 erlassenen Einreiseverbots gemäß § 60 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF abgewiesen (Spruchpunkt I.). Zudem habe er gemäß § 78 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl. Nr. 51/1991 (AVG) idgF Bundesverwaltungsabgaben in der Höhe von Euro 6,50 zu entrichten. Die Zahlungsfrist betrage vier Wochen (Spruchpunkt II.).

13. Mit Schriftsatz vom 24.03.2017 erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und begründete diese mit einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes durch die belangte Behörde.

14. Am 12.07.2019 fand in Anwesenheit des Beschwerdeführers eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, statt, anlässlich welcher das im Anschluss am 22.07.2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis mündlich verkündet wurde. Dabei wurde die Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet abgewiesen.

15. Am 12.07.2019 wurde der Beschwerdeführer von der Polizei aufgrund eines Festnahmeauftrags gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 BFA-VG festgenommen und wird seitdem angehalten.

16. Am selben Tag stellte der Beschwerdeführer aus der Schubhaft seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz.

17. Anlässlich der am 13.07.2019 erfolgten Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, Österreich nach der ersten Entscheidung verlassen zu haben. Er habe sich von Oktober 2017 bis zum 07.07.2019 in Tschechien aufgehalten. Er würde einen neuerlichen Asylantrag stellen, da das Bundesverwaltungsgericht sein Einreiseverbot nicht aufheben habe wollen. Er berufe sich auf seine bereits im Vorverfahren genannten Fluchtgründe und möchte lediglich ergänzen, dass er homosexuell sei, er habe das zunächst nicht angegeben, weil er nicht gewusst habe, dass dies in Österreich akzeptiert werde. Anfügen wolle er noch, keineswegs zurückreisen zu können, da in Nigeria keine Schwulen oder Lesben akzeptiert werden würden. In Nigeria würden solche Personen getötet werden.

18. Am 22.07.2019 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 mitgeteilt, dass beabsichtigt werde seinen Antrag auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache zurückzuweisen und den faktischen Abschiebeschutz aufzuheben.

19. Am 22.07.2019 wurde der Beschwerdeführer durch die belangte Behörde niederschriftlich einvernommen. Er gab an, dass er sich an seine im Vorverfahren angeführten Fluchtgründe erinnern könne und ergänzte, dass er bereits in Nigeria homosexuell gewesen sei, aber dort seine Neigung nicht ausleben habe können. Als er nach Österreich gekommen sei, sei er frei gewesen, da hier die Menschenrechte beachtet werden und diese ihn schützen können. Im Vorverfahren habe er seine Homosexualität nicht angegeben, da er nicht gewusst habe, ob das akzeptiert werden würde. Erst 2010 habe er davon erfahren, dass Homosexualität in Österreich nicht verfolgt werde, habe aber dann aus Angst vor der Schubhaft nicht sofort einen neuerlichen Asylantrag gestellt.

20. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 01.08.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) bzw. des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG) wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Nigeria gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1a FPG wurde festgehalten, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkte VI.). Weiters wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG ein Einreisverbot befristet auf drei Jahre verhängt (Spruchpunkt VII.). Begründen wurde angeführt, dass der Beschwerdeführer seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz aus Gründen gestellt habe, die er bereits im ersten Asylverfahren bekannt gegeben habe und, welche bereits durch die österreichischen Asylbehörden geprüft worden seien bzw. aus Gründen, welche ihm im Erstverfahren zwar bekannt gewesen seien, welche er jedoch vorsätzlich und wissentlich nicht vorgebracht habe.

21. Mit Schreiben vom 19.08.2019 erhob der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 01.08.2019 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge nach mündlicher Verhandlung und Durchführung der beantragten Beweise feststellen (sic!), dass die Spruchpunkte Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich Asyl und subsidiären Schutz, Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Erlassung einer Rückkehrentscheidung, Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Nigeria, Erlassung eines dreijährigen Einreiseverbots, unrichtig und nicht zulässig sind, die Sache zur nochmaligen Bearbeitung an das BVA zurückverweisen, feststellen, dass ein neuer asylrelevanter Sachverhalt vorliegt und Asyl, in eventu subsidiären Schutz gewähren und feststellen, dass die Ausweisung auf Dauer unzulässig ist.

22. Am 22.08.2019 legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der (spätestens) am 02.04.2009 in das Bundesgebiet eingereiste Beschwerdeführer ist volljährig, Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum christlichen Glauben. Er gehört der Volksgruppe der I(g)bo an. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest.

Der Beschwerdeführer war seit April 2011 lediglich für den Zeitraum 26.06.2015 bis 17.08.2016 ordnungsgemäß in Österreich gemeldet, ansonsten war er untergetaucht.

Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ist daher auch erwerbsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht vorbestraft.

1.2. Zum Vorverfahren und zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Sein erster Antrag auf internationalen Schutz vom 02.04.2009 wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 28.04.2010, Zl. A5 412.463-1/2010 rechtskräftig als unbegründet abgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria ausgewiesen wurde.

Mit Bescheid der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 04.10.2012, Zl. 1025299/FP/12 wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem auf zwei Jahre befristeten Einreiseverbot für den gesamten Schengen-Raum erlassen.

Der gegen den Bescheid der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 04.10.2012, Zl. 1025299/FP/12 erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Niederösterreich vom 20.12.2012, Zl. Senat-AB-12-0262 mit der Maßgabe teilweise stattgegeben, dass das Einreiseverbot mit achtzehn Monaten festgesetzt und die Wortfolge "für den gesamten Schengen-Raum" behoben wurde. Im Übrigen wurde die Berufung als unbegründet abgewiesen.

Mit Schreiben an die belangte Behörde vom 30.06.2016 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Aufhebung des gegen ihn mit Bescheid der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 04.10.2012, Zl. 1025299/FP/12 verhängten Einreiseverbotes.

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 22.02.2017, Zl. 790400203 - 160926625 wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 05.08.2015 auf Aufhebung des gegen ihn mit Bescheid der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 04.10.2012, Zahl 1025299/FP/12 erlassenen Einreiseverbots gemäß § 60 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF abgewiesen.

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, am 12.07.2019, Zl. I417 2151546-1/9E als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerdeführer kam in weiterer Folge seiner Ausreisverpflichtung nicht nach, weswegen gegen ihn eine aufrechte, mit einem 18monatigen Einreiseverbot verbundene durchsetzbare Rückkehrentscheidung besteht.

Der Beschwerdeführer stellte am 12.07.2019 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.08.2019 negativ entschieden wurde.

Der Beschwerdeführer brachte im gegenständlichen Asylverfahren keine entscheidungsrelevanten neuen Fluchtgründe vor. Die Situation in Nigeria hat sich nicht entscheidungswesentlich verändert. Auch die Rechtslage blieb, soweit entscheidungsrelevant, unverändert.

1.3. Zur allgemeinen Situation in Nigeria:

Auf Basis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Nigeria vom 12.04.2019 werden folgende Feststellungen getroffen:

1. Politische Lage:

Nigeria ist in 36 Bundesstaaten (ÖB 10.2018; vgl. AA 10.12.2018; AA 9.2018a; GIZ 4.2019a) und einen Bundeshauptstadtbezirk sowie 774 Local Government Areas (LGA/Bezirke) untergliedert. Die Bundesstaaten werden von direkt gewählten Gouverneuren regiert (AA 12.10.2018; vgl. AA 9.2018a; GIZ 4.2019a). Sie verfügen auch über direkt gewählte Parlamente (AA 9.2018a).

Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die am System der USA orientierte Verfassung enthält alle Attribute eines demokratischen Rechtsstaates (inkl. Grundrechtskatalog, Gewaltenteilung). Dem starken Präsidenten - zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte - und dem Vizepräsidenten stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber (AA 10.12.2018; vgl. AA 9.2018a). Die Verfassungswirklichkeit wird von der Exekutive in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und von den direkt gewählten Gouverneuren dominiert. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität, häufig auch mit undemokratischen, gewaltsamen Mitteln geführt. Die Justiz ist der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 10.12.2018).

Die Parteienzugehörigkeit orientiert sich meist an Führungspersonen, ethnischer Zugehörigkeit und vor allem strategischen Gesichtspunkten. Parteien werden primär als Zweckbündnisse zur Erlangung von Macht angesehen. Politische Führungskräfte wechseln die Partei, wenn sie andernorts bessere Erfolgschancen sehen. Entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 10.12.2018).

Bei den Präsidentschaftswahlen am 23.2.2019 wurde Amtsinhaber Muhammadu Buhari im Amt bestätigt (GIZ 4.2019a). Er erhielt 15,1 Millionen Stimmen und siegte in 19 Bundesstaaten, vor allem im Norden und Südwesten der Landes. Sein Herausforderer, Atiku Abubakar, erhielt 11,3 Millionen Stimmen und gewann in 17 Bundesstaaten im Südosten, im Middle-Belt sowie in der Hauptstadt Abuja (GIZ 4.2019a; vgl. BBC 26.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag mit 36 Prozent deutlich niedriger als 2015. Überschattet wurden die Wahlen von gewaltsamen Zwischenfällen mit mindestens 53 Toten (GIZ 4.2019a).

Die Opposition sprach von Wahlmanipulation. Am 18.3.2019 focht Abubakar das Ergebnis aufgrund von Unregelmäßigkeiten vor dem Obersten Gerichtshof an. Das Verfahren muss gemäß der gesetzlichen Vorgaben innerhalb von 180 Tagen bis spätestens Mitte September abgeschlossen werden. Die Aussichten, dass die Beschwerde Erfolg hat, sind gering. So hatte Präsident Buhari nach den Wahlen von 2003, 2007 und 2011 als Oppositionskandidat ebenfalls vergleichbare Beschwerden eingelegt und diese verloren (GIZ 4.2019a).

Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 4.2019a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 15 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 12.4.2019).

Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen - wenn auch weitgehend informellen - Einfluss. Sie gelten als Kommunikationszentrum und moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein (AA 9.2018a).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

-

AA - Auswärtiges Amt (9.2018a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844 , Zugriff 7.11.2018

-

BBC News (26.2.2019): Nigeria Presidential Elections Results 2019, https://www.bbc.co.uk/news/resources/idt-f0b25208-4a1d-4068-a204-940cbe88d1d3, Zugriff 12.4.2019

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (4.2019a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html, Zugriff 11.4.2019

-

ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

-Stears News (12.4.2019): Governorship Election Results, https://nigeriaelections.stearsng.com/governor/2019, Zugriff 12.4.2019

2. Sicherheitslage:

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 10.12.2018). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt; sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 10.12.2018; vgl. EASO 11.2018a) und eskalierende Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten, (EASO 11.2018a; vgl. AA 10.12.2018), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a). Die 2017 deutlich angespannte Lage im Südosten des Landes ("Biafra") hat sich mit dem Eingriff des Militärs und der mutmaßlichen Flucht des Anführers der stärksten separatistischen Gruppe IPOB derzeit wieder beruhigt (AA 10.12.2018).

In den nordöstlichen Bundesstaaten Adamawa, Borno, Gombe und Yobe kommt es häufig zu Selbstmordanschlägen (BMEIA 12.4.2019). Außenministerien warnen vor Reisen dorthin sowie in den Bundesstaat Bauchi (BMEIA 12.4.2019; vgl. AA 12.4.2019; UKFCO 12.4.2019). Vom deutschen Auswärtige Amt wird darüber hinaus von nicht notwendigen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias abgeraten (AA 12.4.2019).

Zu Entführungen und Raubüberfällen kommt es im Nigerdelta und einigen nördlichen Bundesstaaten. Betroffen sind: Abia, Akwa Ibom, Anambra, Bauchi, Bayelsa, Cross River, Delta, Ebonyi, Enugu, Imo, Jigawa, Kaduna, Kano, Katsina, Kogi, Nasarawa, Plateau, Rivers und Zamfara. Für die erwähnten nordöstlichen und nördlichen Bundesstaaten sowie jenen im Nigerdelta gelegenen gilt seitens des österreichischen Außenministeriums eine partielle Reisewarnung; Hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3) in den übrigen Landesteilen (BMEIA 12.4.2019).

Das deutsche Auswärtige Amt rät von Reisen in die Bundesstaaten Kaduna (insbesondere Süd-Kaduna), Plateau, Nasarawa, Benue, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo (insbesondere die Hauptstadt Owerri), Abia, Anambra, Ebonyi, Edo, Enugu, Delta, Kogi, den südlichen Teil von Cross Rivers, Ogun und Akwa Ibom ab (AA 12.4.2019). Das britische Außenministerium warnt (neben den oben erwähnten nördlichen Staaten) vor Reisen in die am Fluss gelegenen Regionen der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom and Cross River im Nigerdelta. Abgeraten wird außerdem von allen nicht notwendigen Reisen in die Bundesstaaten Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia, im 20km Grenzstreifen zum Niger in den Bundesstaaten Sokoto und Kebbi, nicht am Fluss gelegene Gebiete von Delta, Bayelsa und Rivers (UKFCO 29.11.2018).

In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Meist dauern diese Auseinandersetzungen nur wenige Tage und sind auf einzelne Orte bzw. einzelne Stadtteile begrenzt. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, das Sokoto (Nordteil) und Plateau (Südteil) sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen (AA 12.4.2019).

In der Zeitspanne April 2018 bis April 2019 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch

Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.333), Zamfara (1.116), Kaduna (662), Benue (412), Adamawa (402), Plateau (391). Folgende

Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Jigawa (2), Gombe (2), Kebbi (3) und Osun (8) (CFR 2019).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

-

AA - Auswärtiges Amt (12.4.2019): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_6 , Zugriff 12.4.2019

-

BMEIA - Österreichisches Außenministerium (12.4.2019):

Reiseinformationen - Nigeria,

https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/nigeria/, Zugriff 12.4.2019

-

CFR - Council on Foreign Relations (2019): Nigeria Security Tracker,

https://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 12.4.2019

-

EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_COI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 12.4.2019

-

UKFCO - United Kingdom Foreign and Commonwealth Office (12.4.2019): Foreign Travel Advice - Nigeria - summary, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 12.4.2019

3. Rechtsschutz / Justizwesen:

Die Verfassung unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten (AA 10.12.2018). Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen (AA 10.12.2018; vgl. ÖB 10.2018). Daneben bestehen noch für jede der 774 LGAs eigene Bezirksgerichte (District Courts) (ÖB 10.2018). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen) (AA 10.12.2018). Für Militärangehörige gibt es eigene Militärgerichte (USDOS 13.3.2019).

Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (AA 10.12.2018). Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 betreffend das anzuwendende Rechtssystem ("Common Law" oder "Customary Law") durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben "Scharia-Gerichte" neben "Common Law"- und "Customary Courts" geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt-konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben auch Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet (ÖB 10.2018).

Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 10.12.2018; vgl. FH 1.2019; ÖB 10.2018; USDOS 13.3.2019). In der Realität ist die Justiz allerdings der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 10.12.2018; vgl. USDOS 13.3.2019; FH 1.2019). Vor allem auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen (USDOS 13.3.2019). Die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung sowie mangelnde Ausbildung behindern die Funktionsfähigkeit des Justizapparats und machen ihn chronisch korruptionsanfällig (AA 10.12.2018; vgl. FH 1.2019; USDOS 13.3.2019; ÖB 10.2018). Die Gehälter im Justizbereich sind niedrig, und es mangelt an Infrastruktur (ÖB 10.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Zusätzlich widersprechen sich die Rechtssysteme mitunter (ÖB 10.2018). Trotz allem hat die Justiz in der Praxis ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht (FH 1.2019).

Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o. ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken oder sich einen Rechtsbeistand leisten können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte auf Grund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich (AA 10.12.2018). Gesetzlich vorgesehen sind prozessuale Rechte wie die Unschuldsvermutung, zeitnahe Information über die Anklagepunkte, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, das Recht auf einen Anwalt, das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, Zeugen zu befragen und das Recht auf Berufung. Diese Rechte werden jedoch nicht immer gewährleistet (USDOS 13.3.2019). Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 10.12.2018).

Der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen. Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 10.12.2018). Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet (AA 10.12.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Entgegen gesetzlicher Vorgaben ist die Untersuchungshaft nicht selten länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts. Außerdem bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 10.12.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

-

FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/nigeria, Zugriff 20.3.2019

-

ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

-

USDOS - U.S. Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document/2004182.html, Zugriff 20.3.2019

3.1. Scharia:

Mit der Wiedereinführung des Scharia-Strafrechts auf landesgesetzlicher Ebene in den zwölf mehrheitlich muslimisch bewohnten nördlichen Bundesstaaten erhielten erstinstanzliche Scharia-Gerichte auch strafrechtliche Befugnisse (z.B. Verhängung von Körperstrafen bis hin zu Todesurteilen wie Steinigung); dies gilt allerdings grundsätzlich nur für Muslime (AA 10.12.2018). Scharia- bzw. gewohnheitsrechtliche Gerichte können nur angerufen werden, wenn beide Parteien einwilligen (ÖB 10.2018). Während Muslime sich den Scharia-Gerichten unterwerfen müssen, steht es Christen, die in den zwölf Bundesstaaten leben, frei, sich einem Scharia- oder staatlichen Gerichtsverfahren zu unterwerfen. Oft werden Scharia-Gerichte gewählt, da diese schneller zu einem Urteil kommen als die Gerichte des staatlichen Justizsystems (AA 9.2018a).

Den rigorosen Strafandrohungen der Scharia stehen ebenso rigorose Beweisanforderungen gegenüber, so dass bei prozedural einwandfreien Scharia-Verfahren ein für eine Verurteilung ausreichender Zeugenbeweis oft nicht zu führen ist. In der Vergangenheit ist es aufgrund der Komplexität des auch für viele Richter zunächst noch neuen islamischen Beweisrechts insbesondere in der Eingangsinstanz oft zu unbefriedigenden und mit Rechtsfehlern behafteten Urteilen gekommen. Allerdings erregten Ermittlungen und Anklagen wegen so genannter Hudud-Straftatbestände (z.B. außerehelicher Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Straßenraub, Alkoholgenuss) in den letzten Jahren weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit als noch in den ersten Jahren nach der Wiedereinführung des islamischen Strafrechts (AA 10.12.2018). Durch eine bessere Ausbildung der Richterschaft und Entpolitisierung des strafrechtlichen Aspekts der Scharia sind spektakuläre Fälle in den letzten Jahren nicht mehr zu verzeichnen (AA 9.2018a).

Die Scharia-Berufungsgerichte wandeln konsistent Steinigungs- und Amputationsurteile in andere Strafen um. Es gab keine Berichte über durchgeführte Prügelstrafen im Jahr 2018 (USDOS 13.3.2019). Der Scharia-Instanzenzug endet auf der Ebene eines Landesberufungsgerichts, gegen dessen Urteile Rechtsmittel vor dem (säkularen) Bundesberufungsgericht in Abuja zulässig sind (AA 10.12.2018). Urteile von Scharia-Gerichten können somit auch im formalen Rechtssystem angefochten werden, die Umwandlung der Steinigungs- und Amputationsurteile erfolgt allerdings aus prozessualen und Beweisgründen, ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Verfassung wird bis dato nicht hinterfragt (USDOS 13.3.2019).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

-

AA - Auswärtiges Amt (9.2018a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844 , Zugriff 7.11.2018

-

ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

-

USDOS - U.S. Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document/2004182.html, Zugriff 20.3.2019

4. Sicherheitsbehörden:

Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der rund 360.000 Mann starken (Bundes-) Polizei (National Police Force - NPF), die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht (AA 10.12.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Zusätzlich zu der üblichen polizeilichen Verantwortung zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in den Bundesstaaten und im Federal Capital Territory (FCT) unterstehen dem Generalinspekteur die Strafverfolgungsbehörden im ganzen Land, die in Grenzschutz, Terrorismusbekämpfung und Marineangelegenheiten (Navigation) involviert sind (USDOS 13.3.2019). Etwa 100.000 Polizisten sollen bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen als Sicherheitskräfte tätig sein (AA 10.12.2018).

Neben der Polizei werden im Inneren auch Militär, Staatsschutz sowie paramilitärische Einheiten (sogenannte Rapid Response Squads) eingesetzt (AA 10.12.2018). Das Department of State Service (DSS), das via nationalem Sicherheitsberater dem Präsidenten unterstellt ist, ist ebenfalls für die innere Sicherheit zuständig. Polizei, DSS und Militär sind zivilen Autoritäten unterstellt, sie operieren jedoch zeitweise außerhalb ziviler Kontrolle (USDOS 13.3.2019). Die National Drug Law Enforcement Agency (NDLEA) ist für alle Straftaten in Zusammenhang mit Drogen zuständig. Der NDLEA, in deren Zuständigkeit Dekret 33 fällt, wird Professionalität konstatiert (ÖB 10.2018).

Die NPF und die Mobile Police (MOPOL) zeichnen sich hingegen durch geringe Professionalität, mangelnde Disziplin, häufige Willkür und geringen Diensteifer aus (ÖB 10.2018). Die Polizei ist durch niedrige Besoldung sowie schlechte Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet. Die staatlichen Ordnungskräfte sind personell, technisch und finanziell nicht in der Lage, die Gewaltkriminalität umfassend zu kontrollieren bzw. einzudämmen. Zudem sind nach allgemeiner Auffassung die Sicherheitskräfte teilweise selbst für die Kriminalität verantwortlich (AA 10.12.2018). Da die Polizei oft nicht in der Lage ist, durch gesellschaftliche Konflikte verursachte Gewalt zu unterbinden, verlässt sich die Regierung in vielen Fällen auf die Unterstützung durch die Armee (USDOS 13.3.2019). Jedoch sind im Allgemeinen die nigerianischen Behörden gewillt und fähig, Schutz vor nichtstaatlichen Akteuren zu bieten (UKHO 8.2016a).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

-

ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

-

UKHO - United Kingdom Home Office (8.2016a): Country Information and Guidance Nigeria: Women fearing gender-based harm or violence, https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/595734/CIG_-_Nigeria_-_Women.pdf, Zugriff 13.11.2018

-

USDOS - U.S. Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document/2004182.html, Zugriff 20.3.2019

5. Folter und unmenschliche Behandlung:

Durch Verfassung und Gesetze sind Folter und andere unmenschliche Behandlungen verboten. Seit Dezember 2017 sind gemäß Anti-Folter-Gesetz Strafen vorgesehen. Gesetzlich ist die Verwendung von unter Folter erlangten Geständnissen in Prozessen nicht erlaubt. Die Behörden respektieren diese Regelung jedoch nicht (USDOS 13.3.2019).

Die nigerianischen Sicherheitskräfte sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu begehen: Allen glaubwürdigen Hinweisen zufolge gehören Folter, willkürliche Verhaftungen und extralegale Tötungen nach wie vor zum Handlungsrepertoire staatlicher Sicherheitsorgane (AA 10.12.2018; vgl. AI 22.2.2018; USDOS 13.3.2019), unter denen insbesondere die ärmeren Bevölkerungsschichten zu leiden haben (AA 10.12.2018). Neben der Polizei wird auch dem Militär vorgeworfen, extralegale Tötungen, Folter und andere Misshandlungen anzuwenden, unter anderem bei Operationen gegen Aufständische im Nordosten und gegen separatistische Bewegungen im Südosten (FH 1.2019). Als Reaktion auf Angriffe der Boko Haram und ISIS-WA begehen die Sicherheitskräfte außergerichtliche Hinrichtungen und wenden Folter, sexuelle Ausbeutung und Misshandlung, willkürliche Haft, Misshandlung von Gefangenen an. Es kommt auch zu Plünderungen und Zerstörung von Eigentum (USDOS 19.9.2018). Die Sicherheitskräfte bleiben bei Vergehen weitgehend straffrei (USDOS 13.3.2019). Das Vertrauen in den Sicherheitsapparat ist durch immer wieder gemeldete Fälle von widerrechtlichen Tötungen, Folter und unmenschlicher Behandlung in Polizeihaft unterentwickelt (ÖB 10.2018).

Extralegale Tötungen seitens der Sicherheitskräfte sind nach wie vor festzustellen, deren Zahl ist aber tendenziell rückläufig. 2012 waren es ca. 5.000 Fälle. Trotzdem gibt es immer noch eine hohe Zahl an extralegalen Tötungen durch die Polizei, manche NGOs schätzen die aktuelle Zahl sogar höher als jene aus 2012 (AA 10.12.2018). Die Special Anti-Robbery Squad (SARS) geht brutal gegen Verdächtige vor. Häufig kommt es zu Folter, erzwungenen Geständnissen oder Tötungen unter dem Vorwand, dass Häftlinge fliehen wollten (AA 10.12.2018; vgl. GIZ 4.2019a; USDOS 13.3.2019). Die nationale Menschenrechtskommission untersucht derzeit diese Polizeieinheit. Sie wurde bereits einer Umstrukturierung unterzogen, deren Auswirkungen noch nicht eingeschätzt werden können. Dabei handeln die Täter in der Gewissheit weitgehender Straflosigkeit, da es nur in den seltensten Fällen zu unabhängigen Untersuchungen, geschweige denn zu disziplinar- oder gar strafrechtlichen Konsequenzen kommt. Wenn Polizisten beschuldigt werden, an extralegalen Tötungen beteiligt zu sein, werden sie durch ihre Vorgesetzten gedeckt und oft bewusst in andere Regionen versetzt, um eine Klärung der Vorwürfe zu verhindern. Hauptbetroffene sind in der Regel Personen, die eines Gewaltverbrechens verdächtig sind; diese werden nach dem Ablegen eines (häufig durch Folter erlangten) Geständnisses oft noch im Polizeigewahrsam exekutiert (AA 10.12.2018). Berichten zufolge führten Folter und andere Misshandlungen in einigen Fällen zum Tod in Gewahrsam (AI 22.2.2018). Immer wieder kommt es auch vor, dass Sicherheitskräfte an von ihnen errichteten Straßensperren unvermittelt das Feuer eröffnen, etwa wenn sich jemand weigert, ein gefordertes Schmiergeld zu zahlen (AA 10.12.2018).

Es gibt Berichte über Verschwindenlassen (AI 22.2.2018). Gesicherte Erkenntnisse über systematisches Verschwindenlassen unliebsamer Personen durch staatliche Organe liegen nicht vor. Nigerianische Menschenrechtsgruppen werfen regelmäßig insbesondere der Polizei das Verschwindenlassen von Untersuchungshäftlingen und anderen in Polizeigewahrsam befindlichen Personen vor. Es wird von Fällen von Verschwindenlassen angeblicher Boko Haram-Mitglieder im Norden des Landes berichtet, dafür wird u.a. die Joint Task Force verantwortlich gemacht. Überhaupt gehen Polizei und Militär bei der Bekämpfung von Boko Haram häufig mit unverhältnismäßiger Härte vor (AA 10.12.2018).

Die Polizei versucht mittels Misshandlungen von Zivilisten von diesen Geld zu erpressen (USDOS 13.3.2019). Es kommt also trotz Folterverbots in der Verfassung oft zu teilweise schweren Misshandlungen von (willkürlich) Inhaftierten, Untersuchungshäftlingen, Gefängnisinsassen und anderen Personen im Gewahrsam der Sicherheitsorgane. Die Gründe für dieses Verhalten liegen zum einen in der nur schwach ausgeprägten Menschenrechtskultur der Sicherheitskräfte, zum anderen in der mangelhaften Ausrüstung, Ausbildung und Ausstattung insbesondere der Polizei, was sie in vielen Fällen zu dem illegalen Mittel der gewaltsamen Erpressung von Geständnissen als einzigem erfolgversprechenden Weg der "Beweisführung" greifen lässt. Die große Zahl glaubhafter und übereinstimmender Berichte über die Anwendung von Folter in Gefängnissen und Polizeistationen im ganzen Land, die von forensischen Befunden gestützt und von der Polizei teilweise zugegeben werden, bestätigen den Eindruck, die Anwendung von Folter sei ein integraler Bestandteil der Arbeit der Sicherheitsorgane (AA 10.12.2018).

Verfassung und Gesetze verbieten willkürliche Verhaftungen, dennoch praktizieren Polizei und Sicherheitskräfte diese Praktiken. Beim Kampf gegen Boko Haram wurden im Nordosten Nigerias seit 2013 tausende Personen willkürlich inhaftiert. Sie befinden sich in nicht überwachten militärischen Haftanstalten (USDOS 13.3.2019). Zahlreiche Kinder und Jugendliche wurden - ohne Anklageschrift oder Verurteilung - inhaftiert (AA 10.12.2018). Die Armee inhaftierte Hunderte von Frauen rechtswidrig und ohne Anklage, u. a. weil man annahm, sie seien mit Mitgliedern von Boko Haram verwandt. Unter den Inhaftierten waren auch Frauen und Mädchen, die angaben, Opfer von Boko Haram geworden zu sein (AI 22.2.2018).

Frauen und Kinder gerieten in den vergangenen zwei Jahren zunehmend ins Visier von Boko Haram. Die Regierung des nordöstlichen Bundesstaats Borno schätzt die Zahl der von Boko Haram entführten Frauen und Mädchen auf insgesamt 3.000. Im Oktober 2016 und Mai 2017 sind über hundert der 2014 aus Chibok entführten Mädchen freigelassen worden. Im März 2018 wurden 110 Mädchen aus einer Schule in Dapchi entführt, die meisten kamen kurz darauf wieder frei. Boko Haram setzt außerdem Kinder gezielt als Lastenträger, in Kampfhandlungen und insbesondere Mädchen für Selbstmordattentate ein. Mädchen werden zudem häufig sexuell missbraucht und an Mitglieder der Boko Haram zwangsverheiratet (AA 10.12.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

-

AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425079.html, Zugriff 8.11.2018

-

FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/nigeria, Zugriff 20.3.2019

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (4.2019a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.gi

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten