TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/15 W238 2170120-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.10.2018
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

15.10.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
FPG §59 Abs4

Spruch

W238 2170120-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Claudia MARIK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, p.A. Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.08.2017, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.09.2018 zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkte I. bis III. des

angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, § 8 Abs. 1 AsylG 2005, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, § 57 AsylG 2005 sowie §§ 46, 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9 FPG als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass er zu lauten hat:

"Gemäß § 55 Abs. 2 iVm § 59 Abs. 4 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Ihrer Enthaftung."

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 13.03.2016 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 14.03.2016 gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sowie Angehöriger der paschtunischen Volksgruppe mit sunnitisch-islamischem Glauben sei. Er sei am XXXX in Peshawar, Pakistan geboren worden, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Er habe sechs bis sieben Jahre die Schule besucht. Er sei ledig und kinderlos. Seine Familie würde - bis auf den in Jalalabad aufhältigen Bruder XXXX - in Pakistan leben. Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass er in Pakistan ein Mädchen kennengelernt habe, welches bereits mit einem anderen Mann verlobt gewesen sei. Die Familie des Mädchens habe deshalb seine Familie angegriffen. Dabei seien zwei Personen aus seiner Familie getötet und eine Person verletzt worden. Gegen ihn solle nun ebenfalls Vergeltung geübt werden.

2. Aufgrund von Zweifeln an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) entsprechende Untersuchungen veranlasst. Aus einem Röntgenbefund vom 24.03.2016 geht hervor, dass beim Beschwerdeführer sämtliche Epiphysenfugen an den Phalangen und den Metacarpalia geschlossen seien, am Radius zeige sich eine zarte Epiphysennarbe, das Ergebnis laute GP 31, Schmeling 4. Daraufhin wurde eine Altersfeststellungsuntersuchung durchgeführt. Aus dem darauf basierenden medizinischen Sachverständigengutachten vom 24.06.2016 geht ein Mindestalter zum Zeitpunkt der Untersuchung (21.05.2016) von 19 Jahren hervor. Das fiktive Geburtsdatum laute XXXX . Von diesem Geburtsdatum ging das BFA in weiterer Folge aus.

3. Anlässlich der am 11.08.2017 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu durchgeführten Einvernahme vor dem BFA, Regionaldirektion Wien, wiederholte bzw. präzisierte der Beschwerdeführer seine Angaben zu Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache, Schulbildung (fünf Jahre) sowie Geburtsort (Pakistan, Peshawar, Dorf XXXX ). Erstmals gab er an, dass er verheiratet sei. Seine Frau lebe in Mardan, Pakistan. Seine Eltern und zwei Geschwister würden in Peshawar, Pakistan leben. Eine Schwester sowie zwei Onkel väterlicherseits würden in Nangarhar, Afghanistan leben. Sein Bruder XXXX sei im Juni 2017 ermordet worden. Den Aufenthaltsort eines weiteren Bruders kenne er nicht. In Pakistan habe er in der Landwirtschaft seines Vaters gearbeitet.

Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer zusammenfassend an, dass er sich im Jahr 2014 in eine Frau verliebt habe, die er im April 2015 gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet habe. In weiterer Folge sei es zu einer Schießerei gekommen, bei der einer seiner Cousins getötet und ein weiterer Cousin verletzt worden sei. Daraufhin habe sein Bruder den Bruder seiner Frau erschossen. Im Rahmen einer Versammlung der Familien im Oktober 2015 sei beschlossen worden, dass der Beschwerdeführer und seine Frau getötet werden müssten. Der Beschwerdeführer habe Pakistan mit Hilfe seines Vaters alleine verlassen. Seine Frau sei bei ihrer Tante in Mardan geblieben. Nach der Ausreise des Beschwerdeführers habe die Familie seiner Frau seinen Bruder getötet. Der Vater seiner Frau betreibe ein Stoffgeschäft in Mardan, verfüge aber auch in Afghanistan über viel Einfluss. Zudem würde er in Afghanistan aufgrund eines 20 Jahre zurückliegenden Konflikts, welcher Anlass für die Ausreise seiner Eltern aus Afghanistan gewesen sei, von Feinden seines Großvaters verfolgt werden.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 18.08.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 13.03.2016 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde traf Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates, zur Situation im Falle seiner Rückkehr sowie zur Lage in Afghanistan.

Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die Identität des Beschwerdeführers mangels Vorlage eines unbedenklichen Identitätsdokuments nicht feststehe. Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit, Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Familienstand, Schulbildung und Tätigkeit in der Landwirtschaft würden sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers ergeben. Weiters ging die Behörde davon aus, dass der Beschwerdeführer gesund sei.

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe wurden vom BFA hingegen für nicht glaubhaft befunden. Diesbezüglich wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer ausweichend auf die Frage reagiert habe, wie eine Eheschließung gegen den Willen der Eltern seiner Frau möglich gewesen sei. Zu der Schießerei, bei der ein Cousin getötet worden sein soll, habe er keine Details angeben können. Im Gegensatz zu den Angaben bei der Erstbefragung, wonach bereits zu diesem Zeitpunkt zwei seiner Familienangehörigen getötet worden seien, habe er bei der Einvernahme vor dem BFA behauptet, sein Bruder sei kurz vor der Einvernahme getötet worden. Auf Nachfrage, warum seine Frau unbehelligt in Pakistan leben könne, habe der Beschwerdeführer in nicht glaubhafter Weise angegeben, dass ihre Eltern zwar wüssten, wo seine Frau wohne, diese aber unter dem Schutz ihrer Tante stehe. Zu den angeblichen Feinden seines Großvaters habe der Beschwerdeführer keine substantiierten Angaben machen können.

Der Beschwerdeführer sei gesund und arbeitsfähig. Er könne sich in Nangarhar oder in Kabul niederlassen und sich dort mit Unterstützung seiner Onkel eine Existenz aufbauen, zumal der Beschwerdeführer über Schulbildung und Erfahrung in der Landwirtschaft verfüge. Es sei nicht wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde.

Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Privatleben in Österreich wurden vom BFA für glaubhaft erachtet. Der Beschwerdeführer halte sich erst kurz im Bundesgebiet auf und verfüge über keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich. Seine Familie lebe in Pakistan und in Afghanistan. Der Beschwerdeführer spreche wenig Deutsch und nehme nicht am sozialen Leben in Österreich teil. Eine ausgeprägte Integration in Österreich liege jedoch nicht vor.

Im Anschluss unterzog die belangte Behörde den von ihr festgestellten Sachverhalt unter Bezugnahme auf die einzelnen Spruchpunkte des Bescheides einer rechtlichen Beurteilung.

5. Gegen diesen Bescheid des BFA richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde, mit welcher der Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts und wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten wurde. Vorgebracht wurde, dass der Beschwerdeführer die Ehre der Familie seiner Frau verletzt habe, indem er sie gegen deren Willen geheiratet habe. Damit habe er seiner Frau zudem geholfen, sich einer drohenden Zwangsverheiratung zu entziehen, wodurch er gegen strafgesetzliche Normen Afghanistans und gegen die Scharia verstoßen habe. Ihm drohe in Afghanistan nicht nur Verfolgung seitens der Familie seiner Frau, sondern auch seitens der afghanischen Regierung und regierungsfeindlicher Kräfte aus religiösen Gründen bzw. aufgrund einer ihm unterstellten unislamischen Gesinnung. Eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan sei ausgeschlossen, zumal er dort nie gelebt habe, über keine familiäre Unterstützung verfüge und die prekäre Sicherheitslage im ganzen Land ein Überleben unmöglich mache. Die dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegten Länderberichte würden in keinem Zusammenhang zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers stehen. Insbesondere würden detaillierte Berichte zu außerehelichen Beziehungen (Zina) und zur Lage von Paaren, die von zu Hause weggelaufen seien, fehlen. Weiters wurde auf mehrere Risikoprofile verwiesen, denen der Beschwerdeführer unterfalle (Vermutung des Verstoßes gegen die Scharia, Vermutung des Verstoßes gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte, Beteiligung an Blutfehden). Auch sei die Beweiswürdigung des BFA nicht nachvollziehbar. Es liege im Hinblick auf die allgemeine Lage in Afghanistan und die persönlichen Umstände des Beschwerdeführers keine innerstaatliche Fluchtalternative vor. Zudem bemühe sich der Beschwerdeführer um seine Integration in Österreich.

Der Beschwerdeführer beantragte, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung anberaumen, den angefochtenen Bescheid aufheben und ihm den Status eines Asylberechtigten zuerkennen. In eventu wurde beantragt, den Bescheid aufzuheben und dem Beschwerdeführer den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen oder die Sache zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen.

6. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt langten am 08.09.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Am 07.06.2018 wurde seitens des BFA ein rechtskräftiges Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 22.05.2018 vorgelegt, mit dem der Beschwerdeführer wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften als Beteiligter nach § 27 Abs. 2a SMG, §§ 12 dritter Fall, 15 StGB sowie nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster Fall und zweiter Fall und Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt nachgesehen auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt wurde.

Am 13.08.2018 wurde seitens des BFA eine Meldung über eine weitere Straftat vorgelegt (Verdacht des Verbrechens nach § 27 Abs. 2a SMG). In diesem Zusammenhang wurde der Beschwerdeführer am 13.08.2018 in Untersuchungshaft genommen. Gegen den Beschwerdeführer wurde wegen § 12 3. Fall StGB, § 27 Abs. 2a 2. Fall SMG Anklage erhoben.

Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 24.08.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 AsylG 2005 der Verlust des Aufenthaltsrechtes im Bundesgebiet mitgeteilt.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 11.09.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster Fall und zweiter Fall sowie nach § 27 Abs. 2a 2. Fall SMG, § 27 Abs. 3 SMG, § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Die bedingte Nachsicht der mit Urteil vom 22.05.2018 verhängten Strafe wurde widerrufen.

8. Am 24.09.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der aus der Haft vorgeführte Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter teilnahmen und der eine Dolmetscherin für die Sprache Paschtu beigezogen wurde. Die (ordnungsgemäß geladene) belangte Behörde verzichtete bereits anlässlich der Beschwerdevorlage auf die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung. Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wurde dem BFA im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.

Der Beschwerdeführer wurde vom erkennenden Gericht eingehend zu seiner Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu seinen Fluchtgründen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt.

Im Zuge der Verhandlung wurden vom erkennenden Gericht auch die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren eingebracht. Dem Beschwerdeführer wurden gemeinsam mit der Ladung Länderberichte zur Situation in Afghanistan übermittelt. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers legte dazu am Tag der Verhandlung eine schriftliche Stellungnahme vor. Weitere Erkenntnisquellen wurden dem Beschwerdeführer während der Verhandlung vorgehalten. Der Beschwerdeführer erstattete dazu keine gesonderte Stellungnahme.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage der Niederschrift über die Erstbefragung des Beschwerdeführers, der Niederschrift über seine weitere Einvernahme durch die belangte Behörde, des Beschwerdevorbringens, der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie der Länderberichte zur Lage in Afghanistan, der dazu erstatteten Stellungnahme des Beschwerdeführers und der von ihm vorgelegten Unterlagen werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1. Zu Person, Fluchtgründen, Rückkehrmöglichkeit und (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, führt den Namen XXXX , ist Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu. Er spricht auch etwas Farsi, Urdu und Englisch (zu seinen Deutschkenntnissen s. unten).

Die Eltern des Beschwerdeführers reisten vor über 20 Jahren aus Afghanistan aus und ließen sich in Pakistan nieder. Der Vater des Beschwerdeführers stammt ursprünglich aus der Provinz Nangarhar, seine Mutter stammt ursprünglich aus der Provinz Kandahar.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Pakistan, Peshawar, Dorf XXXX geboren, wo er bis zu seiner Ausreise lebte. Lediglich zwei Monate im Alter von vier Jahren verbrachte der Beschwerdeführer in Afghanistan, Nangarhar, Dorf XXXX .

Der Beschwerdeführer ist seit April 2015 mit XXXX traditionell verheiratet. Er hat keine Kinder.

Im Dezember 2015 reiste der Beschwerdeführer alleine aus Pakistan aus und machte sich auf den Weg nach Europa.

Der Beschwerdeführer stellte am 13.03.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.2. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz zusammengefasst damit, dass er seine jetzige Frau in Pakistan gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet habe, woraufhin sich ein gewalttätiger Konflikt zwischen den Familien entwickelt habe, der mehrere Todesopfer gefordert habe. Schließlich sei im Rahmen einer Versammlung (Jirga) beschlossen worden, dass der Beschwerdeführer und seine Frau getötet werden sollten. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte der Beschwerdeführer die Rache der Familie seiner Frau, da diese auch in Afghanistan über Einfluss verfüge. Zudem würde er in Afghanistan aufgrund eines 20 Jahre zurückliegenden Konflikts von Feinden seines Großvaters nach einer versuchten Zwangsrekrutierung seines Vaters durch Taliban sowie im Zusammenhang mit Grundstücksstreitigkeiten von zwei Onkeln väterlicherseits verfolgt werden.

Zu den geltend gemachten Fluchtgründen wird vom erkennenden Gericht Folgendes festgehalten:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat einer individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung - etwa durch die Familie seiner Frau, Feinde seines verstorbenen Großvaters (Taliban), seine in Nangarhar lebenden Onkel oder sonstige Privatpersonen - ausgesetzt war oder dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan einer solchen ausgesetzt wäre.

Insbesondere konnte weder festgestellt werden, dass die Schwiegereltern des Beschwerdeführers die Heirat ablehnten oder dass seiner Frau eine Zwangsverheiratung drohte, noch dass es in diesem Zusammenhang zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen seiner Familie und seiner Schwiegerfamilie kam.

Eine Verfolgung des Beschwerdeführers durch seine in Nangarhar lebenden Onkel aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten oder durch Feinde seines Großvaters (Taliban) aufgrund einer versuchten Zwangsrekrutierung seines Vaters vor ca. 20 Jahren ist ebenfalls nicht zu befürchten.

Der Beschwerdeführer hätte im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine Verfolgung durch den Staat oder durch regierungsfeindliche Gruppierungen - etwa wegen Verstoßes gegen strafgesetzliche Normen bzw. gegen die Scharia oder eines unterstellten unislamischen Verhaltens - zu befürchten, zumal auch die behaupteten Probleme im Zusammenhang mit seiner Eheschließung dieser Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt werden konnten.

Die Familie des Beschwerdeführers war und ist weder in Afghanistan noch in Pakistan gegen sie gerichteten Verfolgungshandlungen ausgesetzt.

Weiters konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit (Paschtune), seiner Religion (sunnitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert und hatte auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer (asylrelevanten) Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.1.3. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen. Er gab in der mündlichen Verhandlung erstmals an, aufgrund seines früheren Drogenkonsums (Marihuana) unter Nackenschmerzen und Schlafproblemen sowie unter Hautjuckreiz zu leiden. Er nehme dagegen (nicht näher bezeichnete) Medikamente ein. Medizinische Beweismittel wurden nicht vorgelegt. Auch zum Zeitpunkt dieser Entscheidung liegt kein Nachweis der Inanspruchnahme einer Therapie und/oder einer medikamentösen Behandlung (in Haft) vor.

Es kann - unter Zugrundelegung der Angaben des Beschwerdeführers - nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer an schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leidet. Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers steht seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht entgegen.

Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig.

Er besuchte in Pakistan sechs Jahre die Schule. Er kann lesen und schreiben. Nach der Schule besuchte der Beschwerdeführer zehn Monate Englischkurse, ein Jahr einen IT-Kurs, vier Monate einen MS-Office-Kurs sowie einen Kurs als Schriftführer (Tippen, 10-Fingersystem).

Der Beschwerdeführer arbeitete in Pakistan in der Landwirtschaft seines Vaters sowie als Maler und sorgte mit seinem Einkommen für sich, seine Eltern und vier Brüder.

Die Eltern des Beschwerdeführers leben in Pakistan, Peshawar, Dorf XXXX . Sein Vater arbeitet in der Landwirtschaft. Seine Mutter ist Hausfrau. Der Vater des Beschwerdeführers besitzt in Pakistan landwirtschaftliche Grundstücke im Ausmaß von ca. 20 Jirib. Der Familie geht es wirtschaftlich gut.

Zwei Brüder des Beschwerdeführers ( XXXX und XXXX ) leben ebenfalls im Heimatdorf des Beschwerdeführers und helfen in der Landwirtschaft.

Ein Bruder des Beschwerdeführers ( XXXX ) lebt abwechselnd in Saudi-Arabien und im Heimatdorf.

Eine Schwester ( XXXX ) ist verheiratet und lebt an der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan.

Der älteste Bruder des Beschwerdeführers ( XXXX ) lebt mit seiner Schwiegerfamilie in Kandahar, Afghanistan. Dort leben auch zwei Onkel väterlicherseits, zwei Onkel mütterlicherseits und drei Tanten mütterlicherseits des Beschwerdeführers. In Nangarhar, Afghanistan leben zwei weitere Onkel väterlicherseits.

Die Frau des Beschwerdeführers lebt in Pakistan, Mardan.

Der Beschwerdeführer hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Frau und seiner Familie in Pakistan.

Eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die ursprünglichen Herkunftsprovinzen seiner Eltern Nangarhar und Kandahar scheidet aus, weil ihm dort aufgrund der vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Dem Beschwerdeführer ist es jedoch möglich und zumutbar, sich stattdessen in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat niederzulassen. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Paschtu) vertraut und wuchs in einem afghanischen Familienverband auf. Der Beschwerdeführer hat zwar nie in Mazar-e Sharif oder Herat gelebt und verfügt dort auch über keine familiären Anknüpfungspunkte. Angesichts seiner Ausbildung, seiner Arbeitsfähigkeit und seiner Berufserfahrung könnte er sich dennoch in Mazar-e Sharif oder Herat eine Existenz aufbauen und diese - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Der Beschwerdeführer absolvierte nach einer sechsjährigen Schulausbildung Englischkurse, einen IT-Kurs, einen MS-Office-Kurs sowie einen Kurs als Schriftführer. Neben seiner Muttersprache verfügt er über (zumindest rudimentäre) Sprachkenntnisse in Farsi, Urdu, Englisch und Deutsch. In der Vergangenheit konnte er durch seine Tätigkeit in der Landwirtschaft und als Maler nicht nur sich selbst, sondern auch seine Eltern und Brüder erhalten. Dem Beschwerdeführer ist der Aufbau einer Existenzgrundlage in Mazar-e Sharif oder Herat möglich. Er ist in der Lage, in Mazar-e Sharif oder Herat eine einfache Unterkunft zu finden. Er hat zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Im Ergebnis ist aufgrund der Ausbildung, der Arbeitsfähigkeit und der Berufserfahrung des Beschwerdeführers von seiner Selbsterhaltungsfähigkeit auszugehen.

1.1.4. Der Beschwerdeführer ist verheiratet und hat keine Kinder. Seine Familie hält sich in Pakistan und teilweise in Afghanistan auf. Er hat keine Familienangehörigen oder Verwandte im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer verfügt über freundschaftliche Kontakte zu österreichischen Privatpersonen. Seine Bindung zu Afghanistan ist trotz seiner kurzen Aufenthaltsdauer im Herkunftsstaat (zwei Monate im vierten Lebensjahr) - insbesondere unter dem Aspekt seiner Sozialisierung in einem afghanischen Familienverband, des langjährigen Aufenthalts in einem muslimisch geprägten Land, seiner Muttersprache Paschtu und der daraus abgeleiteten Verbundenheit mit der afghanischen Kultur sowie des Aufenthalts seines ältesten Bruders und mehrerer Onkel und Tanten in Afghanistan - deutlich intensiver als jene zu Österreich. Der Beschwerdeführer möchte offensichtlich sein künftiges Leben in Österreich gestalten und hält sich seit seiner Asylantragstellung am 13.03.2016 im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer befindet sich derzeit in Strafhaft. Zuvor wurde er im Rahmen der Grundversorgung versorgt. Er ist in Österreich nicht legal beschäftigt. Dass der Beschwerdeführer, wie von ihm erstmals in der Verhandlung vorgebracht, vier bis fünf Monate entgeltlich Zeitungen verteilt hat, konnte mangels eines entsprechenden Nachweises nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer hat seinen eigenen - nicht durch Unterlagen belegten - Angaben zufolge einen Deutschkurs besucht, jedoch noch keine Deutschprüfung erfolgreich absolviert. Zum Zeitpunkt der Verhandlung verfügte er nur über rudimentäre Deutschkenntnisse.

Der Beschwerdeführer weist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung zwei rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen auf: Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 22.05.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften als Beteiligter nach § 27 Abs. 2a SMG, §§ 12 dritter Fall, 15 StGB sowie nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster Fall und zweiter Fall und Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt nachgesehen auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 11.09.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster Fall und zweiter Fall sowie nach § 27 Abs. 2a 2. Fall SMG, § 27 Abs. 3 SMG, § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Die bedingte Nachsicht der mit Urteil vom 22.05.2018 verhängten Strafe wurde widerrufen.

1.2. Zur Lage in Afghanistan

Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:

* Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 inkl. letzte Kurzinformation vom 11.09.2018;

* UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender (englische Fassung) vom 30.08.2018 und (deutsche Fassung) vom 19.04.2016;

1.2.1 Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 11.09.2018 (Grafiken nicht darstellbar):

"...

1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 11.9.2018, Angriffe des Islamischen Staates (IS/ISKP) in Kabul, Anschläge in Nangarhar und Aktivitäten der Taliban in den Provinzen Sar-i Pul und Jawzjan (relevant für Abschnitt 3 / Sicherheitslage)

Anschläge in Nangarhar 11.9.2018

Am 11.9.2018 kamen nach einem Selbstmordanschlag während einer Demostration im Distrikt Mohamad Dara der Provinz Nangarhar mindestens acht Menschen ums Leben und weitere 35 wurden verletzt (Tolonews 11.9.2018; vgl. TWP 11.9.2018, RFE/RL 11.9.2018). Kurz zuvor wurde am Vormittag des 11.9.2018 ein Anschlag mit zwei Bomben vor der Mädchenschule ‚Malika Omaira' in Jalalabad verübt, bei dem ein Schüler einer nahegelegenen Jungenschule ums Leben kam und weitere vier Schüler verletzt wurden, statt (RFE/RL 11.9.2018; AFP 11.9.2018). Davor gab es vor der Mädchenschule "Biba Hawa" im naheligenden Distrikt Behsud eine weitere Explosion, die keine Opfer forderte, weil die Schülerinnen noch nicht zum Unterricht erschienen waren (AFP 11.9.2018).

Weder die Taliban noch der IS/ISKP bekannten sich zu den Anschlägen, obwohl beide Gruppierungen in der Provinz Nangarhar aktiv sind (AFP 11.9.2018; vgl. RFE/RL 11.9.2018, TWP 11.9.2018).

Kämpfe in den Provinzen Sar-e Pul und Jawzjan 11.9.2018

Am Montag, dem 10.9.2018, eroberten die Taliban die Hauptstadt des Kham Aab Distrikts in der Provinz Jawzjan nachdem es zu schweren Zusammenstößen zwischen den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften gekommen war (Tolonews 10.9.2018a; Tolonews 10.9.2018b). Sowohl die afghanischen Streitkräfte als auch die Taliban erlitten Verluste (Khaama Press 10.9.2018a).

Am Sonntag, dem 9.9.2018, starteten die Taliban eine Offensive zur Eroberung der Hauptstadt der Provinz Sar-i Pul, wo nach wie vor u.a. mit Einsatz der Luftwaffe gekämpft wird (Tolonews 10.9.2018b; vgl. FAZ 10.9.2018). Quellen zufolge haben die Taliban das Gebiet Balghali im Zentrum der Provinzhauptstadt eingenommen und unter ihre Kontrolle gebracht (FAZ 10.9.2018). Sar-i-Pul-Stadt gehört zu den zehn Provinzhauptstädten, die Quellen zufolge das höchste Risiko tragen, von den Taliban eingenommen zu werden. Dazu zählen auch Farah-Stadt, Faizabad in Badakhshan, Ghazni-Stadt, Tarinkot in Uruzgan, Kunduz-Stadt, Maimana in Faryab und Pul-i-Khumri in Baghlan (LWJ 10.9.2018; vgl. LWJ 30.8.2018). Weiteren Quellen zufolge sind auch die Städte Lashkar Gar in Helmand und Gardez in Paktia von einer Kontrollübernahme durch die Taliban bedroht (LWJ 10.9.2018).

IS-Angriff während Massoud-Festzug in Kabul 9.9.2018

Bei einem Selbstmordanschlag im Kabuler Stadtteil Taimani kamen am 9.9.2018 mindestens sieben Menschen ums Leben und ungefähr 24 weitere wurden verletzt. Der Anschlag, zu dem sich der Islamische Staat (IS/ISKP) bekannte, fand während eines Festzugs zu Ehren des verstorbenen Mudschahedin-Kämpfers Ahmad Shah Massoud statt (AJ 10.9.2018; vgl. Khaama Press 10.9.2018b).

IS-Angriff auf Sportverein in Kabul 5.9.2018

Am Mittwoch, dem 5.9.2018, kamen bei einem Doppelanschlag auf einen Wrestling-Klub im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi mindestens 20 Personen ums Leben und ungefähr 70 weitere wurden verletzt (AJ 6.9.2018; vgl. CNN 6.9.2018, TG 5.9.2018). Zuerst sprengte sich innerhalb des Sportvereins ein Attentäter in die Luft, kurz darauf explodierte eine Autobombe in der sich vor dem Klub versammelnden Menge (SO 5.9.2018) Der Islamische Staat (IS/ISKP) bekannte sich zum Anschlag (RFE/RL 5.9.2018).

KI vom 22.08.2018, Angriffe des Islamischen Staates (IS/ISKP) in Kabul und Paktia und Aktivitäten der Taliban in Ghazni, Baghlan, Faryab und Kunduz zwischen 22.7.2018 und 20.8.2018; (relevant für Abschnitt 3 / Sicherheitslage)

Entführung auf der Takhar-Kunduz-Autobahn 20.8.2018

Am 20.8.2018 entführten die Taliban 170 Passagiere dreier Busse, die über die Takhar-Kunduz-Autobahn auf der Reise nach Kabul waren (Tolonews 20.8.2018; vgl. IFQ 20.8.2018). Quellen zufolge wurden die Entführten in das Dorf Nikpe der Provinz Kunduz gebracht, wo es zu Kämpfen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen kam. Es wurden insgesamt 149 Personen freigelassen, während sich die restlichen 21 weiterhin in der Gewalt der Taliban befinden (IFQ 20.8.2018). Grund für die Entführung war die Suche nach Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte bzw. Beamten (IFQ 20.8.2018; vgl. BBC 20.8.2018). Die Entführung erfolgte nach dem von Präsident Ashraf Ghani angekündigten Waffenstillstand, der vom 20.8.2018 bis 19.11.2018 gehen sollte und jedoch von den Taliban zurückgewiesen wurde (Reuters 20.8.2018; vgl. Tolonews 19.8.2018).

IS-Angriff auf die Mawoud Akademie in Kabul 15.8.2018

Ein Selbstmordattentäter sprengte sich am Nachmittag des 15.8.2018 in einem privaten Bildungszentrum im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi, dessen Bewohner mehrheitlich Schiiten sind, in die Luft (NZZ 16.8.2018; vgl. BBC 15.8.2018, Repubblica 15.8.2018). Die Detonation hatte 34 Tote und 56 Verletzte zur Folge (Reuters 16.8.2018a; vgl. NZZ 16.8.2018, Repubblica 15.8.2018). Die Mehrheit der Opfer waren Studentinnen und Studenten, die sich an der Mawoud Akademie für die Universitätsaufnahmeprüfungen vorbereiteten (Reuters 16.8.2018b; vgl. RFE/RL 17.8.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Vorfall (RFE/RL 17.8.2018; vgl. Reuters 16.8.2018b).

Kämpfe in den Provinzen Ghazni, Baghlan und Faryab

Am Donnerstag, dem 9.8.2018, starteten die Taliban eine Offensive zur Eroberung der Hauptstadt Ghaznis, einer strategisch bedeutenden Provinz, die sich auf der Achse Kabul-Kandahar befindet (Repubblica 13.8.2018; vgl. ANSA 13.8.2018, CBS 14.8.2018). Nach fünftägigen Zusammenstößen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen konnten letztere zurückgedrängt werden (AB 15.8.2018; vgl. Xinhua 15.8.2018). Während der Kämpfe kamen ca. 100 Mitglieder der Sicherheitskräfte ums Leben und eine unbekannte Anzahl Zivilisten und Taliban (DS 13.8.2018; vgl. ANSA 13.8.2018).

Am 15.8.2018 verübten die Taliban einen Angriff auf einen Militärposten in der nördlichen Provinz Baghlan, wobei ca. 40 Sicherheitskräfte getötet wurden (AJ 15.8.2018; vgl. Repubblica 15.8.2018, BZ 15.8.2018).

Auch im Distrikt Ghormach der Provinz Faryab wurde gekämpft: Die Taliban griffen zwischen 12.8.2018 und 13.8.2018 einen Stützpunkt des afghanischen Militärs, bekannt als Camp Chinaya, an und töteten ca. 17 Mitglieder der Sicherheitskräfte (ANSA 14.8.2018; vgl. CBS 14.8.2018, Tolonews 12.8.2018). Quellen zufolge kapitulierten die Sicherheitskräfte nach dreitägigen Kämpfen und ergaben sich den Aufständischen (CBS 14.8.2018; vgl. ANSA 14.8.2018).

IS-Angriff auf schiitische Moschee in Gardez-Stadt in Paktia 3.8.2018

Am Freitag, dem 3.8.2018, kamen bei einem Selbstmordanschlag innerhalb der schiitischen Moschee Khawaja Hassan in Gardez-Stadt in der Provinz Paktia, 39 Personen ums Leben und weitere 80 wurden verletzt (SI 4.8.2018; vgl. Reuters 3.8.2018, FAZ 3.8.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Anschlag (SI 4.8.2018).

IS-Angriff vor dem Flughafen in Kabul 22.7.2018

Am Sonntag, dem 22.7.2018, fand ein Selbstmordanschlag vor dem Haupteingangstor des Kabuler Flughafens statt. Der Attentäter sprengte sich in die Luft, kurz nachdem der afghanische Vizepräsident Rashid Dostum von einem einjährigen Aufenthalt in der Türkei nach Afghanistan zurückgekehrt und mit seinem Konvoi vom Flughafen abgefahren war (AJ 23.7.2018; vgl. Reuters 23.7.2018). Es kamen ca. 23 Personen ums Leben und 107 wurden verletzt (ZO 15.8.2018; vgl. France24). Der Islamische Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich (AJ 23.7.2018; vgl. Reuters 23.7.2018).

2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, 'Kammer des Volkes', genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch 'Ältestenrat' oder 'Senat' genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus 'Partei' umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für 'vergangene politische und militärische' Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle 'Coalition for the Salvation of Afghanistan', auch 'Ankara Coalition' genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. 'Sicherheitslage').

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine 'Amnestie'. In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

3. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als 'Post-Konflikt-Land' galt, wieder als 'Konfliktland' ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin 'high-profile'-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).

Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).

Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018), von denen zur Veranschaulichung hier auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben werden sollen (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste enthält öffentlichkeitswirksame (high-profile) Vorfälle sowie Angriffe bzw. Anschläge auf hochrangige Ziele und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).

• Selbstmordanschlag vor dem Ministerium für ländliche Rehabilitation und Entwicklung (MRRD) in Kabul: Am 11.6.2018 wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Eingangstor des MRRD zwölf Menschen getötet und 30 weitere verletzt. Quellen zufolge waren Frauen, Kinder und Mitarbeiter des Ministeriums unter den Opfern (AJ 11.6.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (Reuters 11.6.2018; Gandhara 11.6.2018).

• Angriff auf das afghanische Innenministerium (MoI) in Kabul: Am 30.5.2018 griffen bewaffnete Männer den Sitz des MoI in Kabul an, nachdem vor dem Eingangstor des Gebäudes ein mit Sprengstoff geladenes Fahrzeug explodiert war. Bei dem Vorfall kam ein Polizist ums Leben. Die Angreifer konnten nach einem zweistündigen Gefecht von den Sicherheitskräften getötet werden. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (CNN 30.5.2018; vgl. Gandhara 30.5.2018)

• Angriff auf Polizeistützpunkte in Ghazni: Bei Taliban-Anschlägen auf verschiedene Polizeistützpunkte in der afghanischen Provinz Ghazni am 21.5.2018 kamen mindestens 14 Polizisten ums Leben (AJ 22.5.2018).

• Angriff auf Regierungsbüro in Jalalabad: Nach einem Angriff auf die Finanzbehörde der Provinz Nangarhar in Jalalabad kamen am 13.5.2018 mindestens zehn Personen, darunter auch Zivilisten, ums Leben und 40 weitere wurden verletzt (Pajhwok 13.5.2018; vgl. Tolonews 13.5.2018). Die Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (AJ 13.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich der Islamische Staat (IS) zum Angriff (AJ 13.5.2018).

• Angriff auf Polizeireviere in Kabul: Am 9.5.2018 griffen bewaffnete Männer jeweils ein Polizeirevier in Dasht-e-Barchi und Shar-i-Naw an und verursachten den Tod von zwei Polizisten und verwundeten sechs Zivilisten. Auch wurden Quellen zufolge zwei Attentäter von den Sicherheitskräften getötet (Pajhwok 9.5.2018). Der IS bekannte sich zum Angriff (Pajhwok 9.5.2018; vgl. Tolonews 9.5.2018).

• Selbstmordangriff in Kandahar: Bei einem Selbstmordanschlag auf einen Konvoi der NATO-Truppen in Haji Abdullah Khan im Distrikt Daman der Provinz Kandahar sind am 30.4.2018 elf Kinder ums Leben gekommen und 16 weitere Menschen verletzt worden; unter den Verletzten befanden sich u.a. rumänische Soldaten (Tolonews 30.4.2018b; vgl. APN 30.4.2018b, Focus 30.4.2018, IM 30.4.2018). Weder der IS noch die Taliban reklamierten den Anschlag für sich (Spiegel 30.4.2018; vgl. Tolonews 30.4.2018b).

• Doppelanschlag in Kabul: Am 30.4.2018 fand im Bezirk Shash Derak in der Hauptstadt Kabul ein Doppelanschlag statt, bei dem Selbstmordattentäter zwei Explosionen verübten (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Die erste Detonation erfolg

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten