RS Vfgh 2014/3/11 B390/2012

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Veröffentlicht am 11.03.2014
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66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
ASVG §341, §342, §343, §345a
ABGB §879

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Abweisung des Antrags einer Ärztekammer auf Feststellung der Unanwendbarkeit einer Vorschrift der Zusatzvereinbarung zum Gesamtvertrag betreffend die Befristung von Einzelverträgen; abschließende Regelung der Gründe für die Beendigung eines Einzelvertrages im ASVG; Befristung eines Vertragsverhältnisses kein gesetzlicher Endigungsgrund; Verkennung des Verhältnisses des Gesamtvertrages zur maßgeblichen Bestimmung des ASVG in einer der Willkür gleichzuhaltenden Weise

Rechtssatz

Im vorliegenden Fall begehrte die Ärztekammer für NÖ als Partei des Gesamtvertrages die Feststellung, dass eine bestimmte Vorschrift der "Vereinbarungen zum Gesamtvertrag" unanwendbar ist. Da diese Vereinbarungen von den Parteien des Gesamtvertrages (am gleichen Tag wie dieser selbst) abgeschlossen worden sind, liegt unstreitig eine gesamtvertragliche Regelung iSd §341 Abs1 ASVG vor. Die Bundesschiedskommission hat folglich zu Recht ihre Zuständigkeit für den vorliegenden Fall bejaht (s §345a Abs3 ASVG).

Beim Gesamtvertrag handelt es sich - ähnlich dem arbeitsrechtlichen Kollektivvertrag - um einen zwischen dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger und der jeweils örtlich zuständigen Ärztekammer abgeschlossenen privatrechtlichen Normenvertrag, der, soweit er Rechte und Pflichten der Ärzte und der Sozialversicherungsträger als Partner des Einzelvertrags regelt, auf Letzteren unmittelbar einwirkt (§341 Abs3 ASVG). Der Gesamtvertrag beruht daher nicht auf der Privatautonomie der vertragschließenden Parteien, sondern auf gesetzlicher Ermächtigung; er kann daher nur in Angelegenheiten, die das Gesetz bestimmt, abgeschlossen werden, und er ist insoweit, als sein zulässiger Regelungsgegenstand durch Gesetz und Verordnung inhaltlich determiniert ist, an diese Vorgaben gebunden (VfSlg 15697/1999). Eine Gesetz oder Verordnung widersprechende Bestimmung eines Gesamtvertrages wäre nach §879 ABGB nichtig (VfSlg 19251/2010).

Die beschwerdeführende Partei und die belangte Behörde vertreten übereinstimmend die - denkmögliche - Auffassung, dass die strittige Bestimmung "Die Einzelverträge sind grundsätzlich mit einem Jahr zu befristen" eine Befristung beim erstmaligen Abschluss von Einzelverträgen auf ein Jahr generell zulässt, und gehen davon aus, dass sie auch in der Praxis von der beteiligten Gebietskrankenkasse in dieser Weise gehandhabt wird. Gegenstand des Verfahrens ist sohin die Frage, ob eine Bestimmung dieses Inhalts zulässigerweise durch Gesamtvertrag vereinbart werden kann.

Der VfGH hält an seiner Auffassung (s VfSlg 19248/2010) fest, dass die keines Kündigungsausspruches bedürfenden Endigungsgründe in §343 Abs2 ASVG abschließend geregelt sind, weil diese Sichtweise sowohl durch eine systematische als auch durch eine historische Interpretation dieser Norm gestützt wird.

§342 Abs1 Z2 ASVG legt unmissverständlich fest, dass eine gesamtvertragliche Regelung, die Modalitäten der Auflösung eines Einzelvertrages betrifft, an den Rahmen der nachfolgenden Bestimmungen, näherhin des §343 ASVG, gebunden ist. §343 ASVG kennt den Endigungsgrund der Befristung eines Vertragsverhältnisses jedoch nicht, sieht man davon ab, dass ein Einzelvertrag gemäß §343 Abs2 Z7 ASVG bei Erreichen der Altersgrenze mit Ablauf des jeweiligen Kalendervierteljahres endet. Die Festlegung einer Altersgrenze längstens mit der Vollendung des 70. Lebensjahres schreibt das Gesetz für den Gesamtvertrag ausdrücklich vor (§342 Abs1 Z10 ASVG). Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die Endigung des Einzelvertrages durch Zeitablauf auch in anderen Fällen zulassen wollte; dies schon im Hinblick auf das Gewicht des Kündigungsschutzes, der unbefristeten Einzelverträgen gemäß §343 Abs4 ASVG zukommt. Dies gilt nicht nur für die Befristung von Einzelverträgen im Allgemeinen, sondern auch für eine Befristung zum Zwecke einer Probezeit.

Die Regelungsbefugnis der Gesamtvertragsparteien iSd §342 Abs1 Z2 ASVG (über Abschluss und Lösung der Einzelverträge) erweist sich bei einer solchen Deutung des §343 ASVG keineswegs als inhaltsleer. Sie ermächtigt die Gesamtvertragspartner vielmehr dazu, in den dort angeführten Angelegenheiten im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben konkretisierende Regelungen hinsichtlich der näheren Modalitäten zu treffen.

Im Hinblick auf die Erläuterungen zur Stammfassung des ASVG (vgl RV 599 BlgNR 7. GP, 102), dass die Kündigung eines Einzelvertrages gemäß §343 Abs4 ASVG beiden Vertragspartnern unter Einhaltung einer Frist von drei Monaten zum Quartalsende offensteht und Partner eines Vertrages schon nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen jedenfalls berechtigt sind, einen einmal geschlossenen Vertrag einvernehmlich auch wieder aufzulösen, muss die Zulässigkeit einer einvernehmlichen Auflösung - im Gegensatz zur Zulässigkeit der Befristung - nicht ausdrücklich im Gesetz vorgesehen werden. Aus der Annahme einer abschließenden Regelung der Endigungsgründe in §343 ASVG folgt daher - entgegen der Auffassung der belangten Behörde - keineswegs, dass auch die einvernehmliche Auflösung eines Einzelvertrages nicht zulässig wäre.

Soweit die belangte Behörde die Frage, ob der betreffende Satz in den Ausführungsbestimmungen zum Gesamtvertrag als gültige Rechtsnorm anzuwenden ist, ohne Bedachtnahme auf die und ohne nähere Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des VfGH bzw den Gesetzesmaterialien unter Berufung auf die ihr Ergebnis vermeintlich stützende Interessenlage zum "Schutz der Versicherten" bejaht hat, hat sie das Verhältnis des Gesamtvertrages zu §343 ASVG in einer der Willkür gleichzuhaltenden Weise verkannt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Sozialversicherung, Ärzte, Ärztekammer, Auslegung eines Gesetzes, Behördenzuständigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:B390.2012

Zuletzt aktualisiert am

29.07.2015
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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