TE AsylGH Erkenntnis 2013/05/06 D13 428025-1/2012

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Veröffentlicht am 06.05.2013
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Spruch

D13 428025-1/2012/3E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Dajani als Vorsitzenden und den Richter Mag. Auttrit als Beisitzer über die Beschwerde der XXXX, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.07.2012, FZ. 12 02.399-BAT, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe, reiste am 23.02.2012 gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn, XXXX (Zl. D13 428105-1/2012) illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 28.02.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz (in weiterer Folge auch als Asylantrag bezeichnet).

 

Hierzu wurde die Beschwerdeführerin am 28.02.2012 von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt, wobei sie hinsichtlich ihrer Fluchtgründe angab, dass ihre Tochter XXXX eine der Terroristinnen des Gasangriffes auf ein Moskauer Theater am 23.10.2002 gewesen sei, im Zuge dessen viele Menschen ums Leben gekommen seien. Die Tochter sei auch getötet worden. Seither sei die Familie von den Behörden nicht mehr in Ruhe gelassen worden. Die Beschwerdeführerin habe ihren Sohn, XXXX, von zu Hause weggeschickt. Er lebe jetzt in Österreich. Das Haus der Familie sei von den Behörden in Brand gesetzt worden, daher haben sie ständig bei fremden Leuten wohnen müssen. 2006 habe die Polizei den Ehemann der Beschwerdeführerin abgeholt. Seither habe sie ihn nicht mehr gesehen. Sie habe alles beim Europäischen Gerichtshof angezeigt. Im April 2011 habe es eine Verhandlung in Straßburg gegeben, wobei die tschetschenische Polizei schuldig gesprochen worden sei. Seither haben die Beschwerdeführerin und ihr Sohn gar keine Ruhe mehr und befürchten, ebenfalls umgebracht zu werden.

 

Die Beschwerdeführerin wurde am 25.04.2012 vom Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen, im Beisein einer geeigneten Dolmetscherin für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen und wiederholte im Wesentlichen ihr bisheriges Fluchtvorbringen. Nachdem ihre Tochter an der Geiselnahme in einem Moskauer Theater im Oktober 2002 beteiligt gewesen und getötet worden sei, seien der Ehemann der Beschwerdeführerin und der Sohn XXXX verfolgt worden. Im Jahr 2000 sei der Ehemann mit Kämpfern unterwegs gewesen. Dies sei ihm aber bis zum Vorfall im Theater nicht vorgeworfen worden. Er sei im Juni 2003 amnestiert worden. Im Juni 2006 sei er aber zu den Behörden geladen worden und seither verschwunden. Die Beschwerdeführerin habe sich an MEMORIAL gewandt und diese haben ihr geraten, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu werden. Ungefähr sechs Monate nach dem Verschwinden ihres Mannes habe sie Klage beim EGMR eingereicht. 2011 habe es eine Gerichtsverhandlung und ein Urteil zugunsten der Beschwerdeführerin gegeben. Seither seien die Beschwerdeführerin und ihr jüngerer Sohn bedroht worden. Die Beschwerdeführerin legte Schriftstücke von der Staatsanwaltschaft GROSNY bezüglich der Entführung ihres Ehemannes sowie Schriftstücke vom EGMR von XXXX vor. Die Klage vor dem EGMR habe nur das Verschwinden ihres Mannes zum Inhalt gehabt.

 

Mit Bescheid vom 04.07.2012, Zahl: 12 02.399-BAT, wies das Bundesasylamt den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab und erkannte der Beschwerdeführerin den Status der Asylberechtigten nicht zu (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte das Bundesasylamt der Beschwerdeführerin den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs.1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. nicht zu (Spruchpunkt II.) und wies die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 leg. cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation aus (Spruchpunkt III.).

 

Im Verfahrensgang wurden die Einvernahmen des Sohnes der Beschwerdeführerin, XXXX (AIS-Zl. 12 02.400-BAT) wiedergegeben. Feststellungen wurden ebenfalls zu "XXXX" getroffen und beweiswürdigend wurde kurz zusammengefasst Folgendes ausgeführt: Dem Vorbringen habe nicht glaubhaft entnommen werden können, dass er tatsächlich aus den genannten Gründen die Heimat verlassen habe. Die Angaben zur Verfolgungssituation seien aufgrund grundlegender Ungereimtheiten nicht glaubhaft. Er habe angegeben, dass seine Schwester beim Attentat auf das Theater in Moskau im Jahr 2002 beteiligt gewesen sei. Seither haben sie mit den russischen Behörden Probleme gehabt. Auch sein Vater sei 2006 verschwunden. Diesbezüglich habe die Mutter Klage beim EGMR eingereicht und seither haben sich die Probleme verstärkt. Die Polizei sei immer wieder zu ihnen nach Hause gekommen und habe versucht den Beschwerdeführer mitzunehmen. Die Mutter habe die Mitnahmen jedoch durch Schreien und Weinen verhindert. Dieses Vorbringen sei keinesfalls glaubwürdig und könne nur als Konstrukt gewertet werden, welches mit tatsächlichen Ereignissen nicht vereinbar sei. Es sei nicht glaubwürdig, dass der Beschwerdeführer Probleme mit den Behörden bekommen habe, da er zum Zeitpunkt des Attentates im Jahr 2002 erst 11 Jahre alt gewesen sei, die Schwester damals ums Leben gekommen sei und kein weiterer Kontakt zu terroristischen Kreisen erkennbar sei. Einvernahmen unmittelbar nach diesem Vorfall mögen noch im Bereich des realen liegen, zehn Jahre danach jedoch eine Verschlechterung der Lage vorzubringen, sei in den Bereich einer Mär anzusiedeln. Der Beschwerdeführer habe angegeben, dass die Verwandten seiner Mutter gesagt haben, er solle gemeinsam mit seiner Mutter ausreisen, da es für sie gefährlich werden könne. Tatsächlich sei aber seinen Ausführungen keine Bedrohungssituation zu entnehmen. Dass die Bedrohungssituation intensiver als noch vor ein paar Jahren gewesen sei, habe er nicht darlegen können. Aber auch der Umstand, dass der Vater "verschwunden" sei, könne mit der Teilnahme der Schwester am Attentat nicht in Einklang gebracht werden. Dass der Vater aufgrund der Vorlage der Schriftstücke durch die Mutter in Russland offensichtlich ein Problem gehabt habe und danach nicht mehr heimgekommen sei, sei offenkundig. Weshalb gerade der Beschwerdeführer dadurch insbesondere betroffen wäre, sei weder ihm noch seiner Mutter zu entlocken gewesen.

 

Für das Beschwerdeverfahren vor dem Asylgerichtshof wurde der Beschwerdeführerin mit Verfahrensanordnung vom 05.07.2012 gemäß § 63 Abs. 2 AVG die ARGE-Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe amtswegig zur Seite gestellt.

 

Mit Schriftsatz vom 18.07.2012 wurde fristgerecht Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhoben. Die Beschwerdeführerin monierte, dass die Länderfeststellungen unvollständig seien. Zwar sei festgestellt worden, dass Familienmitglieder und Unterstützer von Widerstandskämpfern verfolgt werden, jedoch habe es die Behörde unterlassen, sich genauer mit der dadurch drohenden Verfolgung bzw. der Verfolgung aufgrund des EGMR-Verfahrens auseinanderzusetzen. Die Beschwerdeführerin werde in der Russischen Föderation aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familienangehörigen von Widerstandskämpfern verfolgt. Die Beschwerdeführerin zitierte diverse Länderberichte, welche ihr Vorbringen bestätigen würden. Den Berichten sei auch zu entnehmen, dass Personen, die ein Verfahren gegen Russland beim EGMR einleiten, vermehrt unter Druck gesetzt werden. Sie müssen mit Schikanen und Einschüchterungsversuchen rechnen. Ein Bericht des Europarates aus April 2008 zeige, dass Kläger nach Abschluss ihrer Verhandlungen in Straßburg weiterhin unter Druck gesetzt worden seien, möglicherweise um die Vollstreckung der Gerichtsurteile zu verhindern. Weiters sei die Beweiswürdigung unschlüssig und die Sachverhaltsermittlung mangelhaft. Die Beschwerdeführerin wiederholte ihr bisheriges Vorbringen und führte aus, Russland sei im Verfahren wegen des Verschwindens ihres Mannes wegen der Verletzung von Art. 2, 5 und 13 EMRK bezüglich der Entführung und Tötung des Mannes und gemäß Art. 3 EMRK bezüglich der langen Ungewissheit für die Beschwerdeführerin verurteilt worden. Der EGMR habe die Schilderungen der Beschwerdeführerin zu den Geschehnissen im Jahr 2006 in Zusammenschau mit den Unterlagen für glaubwürdig gesehen und ihre Ausführungen zum entscheidungsrelevanten Sachverhalt erhoben. Die Beschwerdeführerin habe detailliert zu Protokoll gegeben, dass sie nach der Verurteilung Russlands durch den EGMR drei Mal aufgesucht und lediglich beim letzten Mal auch versucht worden sei, den Sohn mitzunehmen. Wenn die Behörde Zweifel daran habe, dass die Sicherheitskräfte von der Mitnahme abgelassen haben, hätten sie die Beschwerdeführerin näher befragen müssen. Es entspreche nicht den Tatsachen, dass die Beschwerdeführerin - wie von der belangten Behörde behauptet - seit dem Attentat im Jahr 2002 ohne größere Probleme leben habe können, schließlich sei ihr Mann im Jahr 2006 entführt worden und sei seither vermisst. Der EGMR habe Russland deswegen rechtskräftig wegen Verletzung von Art. 2 EMRK verurteilt. Die Behauptung der Behörde, dass seit dem Attentat nicht geschehen sei, zeige, dass sie sich mit dem Urteil des EGMR in keiner Weise auseinandergesetzt habe. Wenn die Behörde in diesem Zusammenhang trotz EGMR Verurteilung behaupte, dass das Verschwinden des Mannes nicht mit der Teilnahme der Tochter am Attentat, folglich auch nicht mit der Verbindung zu den Rebellen, in Einklang zu bringen sei, bedeute dies ein grob fahrlässiges Verkennen des maßgeblichen Sachverhaltes, da schon die Ausführungen der Beschwerdeführerin im Verfahren vor dem EGMR, welche zum entscheidungsrelevanten Sachverhalt erhoben worden seien, einen Kausalzusammenhang zwischen der Teilnahme der Tochter am Attentat, der Rebellentätigkeit des Mannes und dem Verschwinden des Mannes herstelle.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1.1. Gemäß § 23 Abs. 1 AsylGHG idF BGBl. I Nr. 147/2008 sind - soweit sich aus dem AsylG 2005 nichts anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

1.2. Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde (hier: der Asylgerichtshof), so der ihr (hier: ihm) vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen.

 

Gemäß § 66 Abs. 3 AVG kann die Berufungsbehörde (hier: der Asylgerichtshof) jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist.

 

1.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315, zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat ausgeführt:

 

"Im Berufungsverfahren vor der belangten Behörde ist gemäß § 23 AsylG und Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG (unter anderem) § 66 AVG anzuwenden. Nach § 66 Abs. 1 AVG in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998 hat die Berufungsbehörde notwendige Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durch eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde durchführen zu lassen oder selbst vorzunehmen. Außer dem in § 66 Abs. 2 AVG erwähnten Fall hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, gemäß § 66 Abs. 4 AVG immer in der Sache selbst zu entscheiden.

(...)

 

Die Berufungsbehörde darf eine kassatorische Entscheidung nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann treffen, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint. Die Berufungsbehörde hat dabei zunächst in rechtlicher Gebundenheit zu beurteilen, ob angesichts der Ergänzungsbedürftigkeit des ihr vorliegenden Sachverhaltes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als ¿unvermeidlich erscheint'. Für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG ist es aber unerheblich, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine Vernehmung erforderlich ist (vgl. etwa das Erkenntnis vom 14. März 2001, Zl. 2000/08/0200; zum Begriff ¿mündliche Verhandlung' iSd § 66 Abs. 2 AVG siehe auch die Nachweise im Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0084).

 

Der Gesetzgeber hat in Asylsachen ein zweiinstanzliches Verfahren (mit nachgeordneter Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts) eingerichtet, wobei der belangten Behörde die Rolle einer ¿obersten Berufungsbehörde' zukommt (Art. 129c Abs. 1 B-VG). In diesem Verfahren hat bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Asylantrag relevanten Sachverhalt zu ermitteln und es ist gemäß § 27 Abs. 1 AsylG grundsätzlich verpflichtet, den Asylwerber dazu persönlich zu vernehmen. Diese Anordnungen des Gesetzgebers würden aber unterlaufen, wenn es wegen des Unterbleibens eines Ermittlungsverfahrens in erster Instanz zu einer Verlagerung nahezu des gesamten Verfahrens vor die Berufungsbehörde käme und die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen damit zur bloßen Formsache würde. Es ist nicht im Sinne des Gesetzes, wenn die Berufungsbehörde, statt ihre (umfassende) Kontrollbefugnis wahrnehmen zu können, jene Behörde ist, die erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und einer Beurteilung unterzieht.

 

Dieser Gesichtspunkt ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichthofes - freilich immer unter ausreichender Bedachtnahme auf das Interesse der Partei an einer raschen Erledigung des Asylverfahrens - bei der Ermessensausübung nach § 66 Abs. 2 und 3 AVG auch einzubeziehen. Unter dem Blickwinkel einer Kostenersparnis für die Partei ist dabei vor allem auch zu beachten, dass die Vernehmung vor dem Bundesasylamt dezentral durch die Außenstellen in den Bundesländern erfolgt, während der Unabhängige Bundesasylsenat - anders als bei den unabhängigen Verwaltungssenaten in den Ländern, für die Vergleichbares auf Landesebene gilt - als zentrale Bundesbehörde in Wien eingerichtet ist (vgl. auch dazu das bereits erwähnte Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0084)."

 

Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 17.10.2006, Zl. 2005/20/0459, zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat ausgeführt: "Einem zurückweisenden Bescheid iSd § 66 Abs. 2 AVG muss (demnach) auch entnommen werden können, welche Mängel bei der Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes im Verfahren vor der Unterbehörde unterlaufen und im Wege der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung zu beheben sind (vgl. zum Ganzen das Erkenntnis vom 20.4.2006, Zl. 2003/01/0285)."

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 17.3.2009, Zl. 2008/19/0042, zur Ermessensübung iSd § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat erneut auf das Erkenntnis vom 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315, verwiesen und dazu ausgeführt:

 

"Hat die Rechtsmittelbehörde festgestellt, dass die von § 66 Abs. 2 AVG geforderten Voraussetzungen zutreffen, so liegt es gemäß § 66 Abs. 2 iVm Abs. 3 AVG in ihrem Ermessen, entweder von der Ermächtigung zur Zurückverweisung Gebrauch zu machen und eine kassatorische Entscheidung zu treffen oder die mündliche Verhandlung selbst durchzuführen und in der Sache zu entscheiden (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 66 Rz 19 mit Hinweisen auf die hg. Judikatur). (...)

 

Die Ermessungsentscheidung unterliegt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nur einer eingeschränkten Überprüfung. So liegt im Bereich des verwaltungsbehördlichen Ermessens Rechtswidrigkeit nur dann vor, wenn die Behörde von diesem Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht hat (vgl. dazu etwa Mayer, B-VG, 4. Aufl., Art. 130 II.1.). Dabei obliegt es der Behörde in der Begründung ihres Bescheides die für die Ermessensausübung maßgebenden Umstände und Erwägungen insoweit aufzuzeigen, als dies für die Rechtsverfolgung durch die Parteien des Verwaltungsverfahrens und für die Nachprüfbarkeit des Ermessensaktes in Richtung auf seine Übereinstimmung mit dem Sinn des Gesetzes erforderlich ist (vgl. etwa das hg. Erkenntnis des verstärkten Senates vom 25.3.1980, 3273/78, VwSlg. 10.077A/1980)."

 

Der Verfassungsgesetzgeber hat nunmehr den Unabhängigen Bundesasylsenat durch den Asylgerichtshof als nachprüfendes gerichtsförmiges Kontrollorgan mit umfassender Kontrollbefugnis ersetzt. Bereits aufgrund der genannten Bestimmungen des B-VG und der in ihnen erkennbar vom Verfassungsgesetzgeber vorgesehenen Kontinuität ergibt sich, dass der Asylgerichtshof die Funktion des Unabhängigen Bundesasylsenates vollständig übernimmt. Die oben genannten Kriterien, die der Verwaltungsgerichtshof für die Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG im Asylverfahren aufgestellt hat, müssen sohin auch für das vor dem Asylgerichtshof zu führende Verfahren gelten, welcher als Nachfolger des Unabhängigen Bundesasylsenat über Bescheide der Verwaltungsbehörden in Asylsachen erkennt und somit eine überprüfende Funktion wahrnimmt. Auch für das Verfahren vor dem Asylgerichtshof bleibt sohin festzuhalten, dass die Funktion des Asylgerichtshofes als Kontrollorgan ausgehöhlt würde und die Einrichtung des nunmehr vorgesehenen Verfahrenszuges an den Asylgerichtshof zur Formsache würde, wenn das notwendige Ermittlungsverfahren vollständig vor den Asylgerichthof verlagert würde, weil es das Bundesasylamt ablehnt, auf das Vorbringen des Asylwerbers sachgerecht einzugehen.

 

2. Dem Bundesasylamt ist anzulasten, dass es sich in der Begründung des angefochtenen Bescheides nicht ordnungsgemäß mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin auseinandergesetzt hat, und zwar aus folgenden Gründen:

 

2.1. Zunächst ist einmal - abgesehen von der nicht ordnungsgemäßen Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin - zu bemängeln, dass dem Bundesasylamt bei der Bescheiderlassung schwerwiegende Fehler unterlaufen sind. So stimmt der Bescheidadressat (Spruch) nicht mit dem Verfahrensgang, den Feststellungen und den Ausführungen in der Beweiswürdigung überein. Konkret bedeutet dies, dass die Beschwerdeführerin zwar einen an sie adressierten Bescheid erhalten hat, der Inhalt des Bescheides bezieht sich aber auf das Vorbringen des Sohnes der Beschwerdeführerin, XXXX (AIS- Zl. 12 02.400-BAT). Umgekehrt gilt das Gleiche für den Bescheid des Sohnes der Beschwerdeführerin.

 

Im fortgesetzten Verfahren ist die belangte Behörde daher angehalten, besondere Sorgfalt walten zu lassen und darauf zu achten, dass Spruch und Verfahrensgang denselben Asylwerber betreffen.

 

2.2. Dem Bundesasylamt muss auch insbesondere vorgeworfen werden, dass es sich mit dem von der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn vorgelegten Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom XXXX nicht ausreichend auseinandergesetzt hat. Die Beschwerdeführerin und ihr Sohn bringen vor, dass die Beschwerdeführerin sowie deren Schwiegermutter nach dem Verschwinden des Ehemannes der Beschwerdeführerin - der seit einem Termin bei den tschetschenischen Behörden im Jahr 2006 nicht mehr aufgetaucht sei - mithilfe der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL Klage beim EGMR gegen den russischen Staat erhoben haben. Das Verfahren sei zugunsten der Beschwerdeführerin und ihrer Schwiegermutter ausgegangen. Nach der Erlassung des Urteiles haben die Beschwerdeführerin und ihr Sohn Probleme mit den russischen Behörden bekommen und seien von diesen bedroht worden.

 

In den angefochtenen Bescheiden der Beschwerdeführerin und ihres Sohnes hat sich das Bundesasylamt aber praktisch überhaupt nicht mit dem Vorbringen und den vorgelegten Schriftstücken (Urteil des EGMR sowie Schriftstücke der Staatsanwaltschaft GROSNY) auseinandergesetzt. In der Beweiswürdigung finden sich zu diesem Thema lediglich die Sätze, es sei offensichtlich, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin aufgrund der Vorlage der Schriftstücke durch die Beschwerdeführerin in Russland offensichtlich ein Problem gehabt habe und danach nicht mehr heimgekommen sei. Weshalb gerade die Beschwerdeführerin und ihr Sohn dadurch betroffen wären, sei weder der Beschwerdeführerin noch ihrem Sohn zu entlocken gewesen. Diese Vorgehensweise bzw. Aussage der belangten Behörde ist für den erkennenden Senat des Asylgerichtshofes aber nicht verständlich. Die Beschwerdeführerin und ihr Sohn haben ausdrücklich angegeben, dass sie - insbesondere nach der Urteilsfällung des EGMR - massive Probleme mit den russischen Behörden bekommen haben. Es wäre daher Aufgabe des Bundesasylamtes gewesen, sich mit dem vorgelegten Urteil des EGMR ausführlich auseinanderzusetzen, die Beschwerdeführerin und ihren Sohn eingehend dazu zu befragen und herauszufinden, wie sich das genannte Urteil auf die Situation der Beschwerdeführerin und ihres Sohnes im Herkunftsstaat ausgewirkt hat und ob - in Zusammenschau mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin und ihres Sohnes - daraus eine asylrelevante Verfolgungsgefahr ableitbar ist bzw. eine solche glaubwürdig gemacht werden konnte. Das Bundesasylamt wird daher im fortgesetzten Verfahren auch Länderberichte heranzuziehen haben, die über die Situation von Personen Auskunft geben, die ein Verfahren gegen Russland beim EGMR eingeleitet (und gewonnen) haben.

 

Da sich das Bundesasylamt in seiner Beweiswürdigung somit inhaltlich fast gar nicht mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin - konkret mit dem vorgelegten EGMR- Urteil - auseinandergesetzt hat, war es jedoch auch nicht in der Lage, die Unglaubwürdigkeit des diesbezüglichen Vorbringens der Beschwerdeführerin ordnungsgemäß festzustellen.

 

2.3. Angesichts obiger Erwägungen ist als maßgebend festzuhalten, dass im Verfahren vor dem Bundesasylamt schwere Mängel aufgetreten sind, die von formalen Fehlern über fehlende Ermittlungen bis zu mangelhaften Begründungen im erstinstanzlichen Bescheid reichen.

 

2.4. Im weiterzuführenden Verfahren wird das Bundesasylamt folglich das Vorbringen der Beschwerdeführerin eingehend und umfassend zu würdigen haben, wobei eine abschließende Beurteilung der Angaben der Beschwerdeführerin auf deren Asylrelevanz nur nach Abhaltung einer Einvernahme erfolgen kann, in welcher der Beschwerdeführerin die Gelegenheit geboten wird, ausführlich und abschließend ihre Fluchtgründe zu schildern.

 

Aufgrund des mangelhaften Ermittlungsverfahrens fehlt eine ausreichende Beurteilungsgrundlage. Da für die Lösung der Frage, ob die Beschwerdeführerin der Gefahr einer Verfolgung iSd GFK ausgesetzt ist, die Durchführung eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens notwendig ist, hätte es im konkreten Fall jedenfalls weitergehender Ermittlungen zum Vorbringen der Beschwerdeführerin bedurft.

 

Die aufgezeigten Mängel sind wesentlich, weil vorweg nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Vermeidung der Mängel zu einem für die Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis hätte führen können. Fest steht, dass das Bundesasylamt den Sachverhalt im gegenständlichen Fall so mangelhaft ermittelt hat, dass die Durchführung oder Wiederholung einer Einvernahme unvermeidlich erscheint.

 

Der zuständige Senat des Asylgerichtshofes ist der Ansicht, dass die schweren Mängel vom Bundesasylamt zu sanieren sind, da im gegenteiligen Fall der Großteil des Ermittlungsverfahrens vor dem Asylgerichtshof als gerichtliche Beschwerdeinstanz verlagert würde und somit - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes - der zweiinstanzliche Verfahrensgang unterlaufen würde.

 

Aus den dargelegten Gründen ist gemäß § 66 Abs. 2 AVG der o.a. Bescheid zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückzuverweisen.

 

2.5. Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Beweiswürdigung, Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung, wesentlicher Verfahrensmangel
Zuletzt aktualisiert am
10.05.2013
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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