TE OGH 1951/2/1 2Ob459/50

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Veröffentlicht am 01.02.1951
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Norm

Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz §68 Wohnungsanforderungsgesetz §16
ZPO §190
ZPO §406

Kopf

SZ 24/32

Spruch

Punkt 4 des Judikates 14 (neu), wonach eine nach Einbringung der Kündigung oder der Räumungsklage ergangene Anforderung den Fortgang des Verfahrens nicht behindert, ist im Hinblick auf die Erlassung eines neuen Wohnungsanforderungsgesetzes und des AVG. nicht mehr anwendbar.

Entscheidung vom 1. Feber 1951, 2 Ob 459/50.

I. Instanz: Bezirksgericht Klagenfurt; II. Instanz: Landesgericht Klagenfurt.

Text

Das Erstgericht hat die Klage des Hausmiteigentümers auf Räumung der vom Beklagten benützten Wohnung abgewiesen. Durch den rechtskräftigen Anforderungsbescheid des Magistrates und die gleichfalls rechtskräftige Zuweisung der Wohnung an den Beklagten habe der Kläger das Recht, vom Beklagten die Räumung zu begehren, verloren.

Infolge Berufung des Klägers änderte das Berufungsgericht das erstgerichtliche Urteil im Sinne des Klagebegehrens ab. Unter Berufung auf den Plenarbeschluß des Obersten Gerichtshofes vom 4. Juni 1924, JB. 14 neu, SZ. VI/214, vertrat das Berufungsgericht die Rechtsansicht, daß die erst nach Anhängigwerden der Räumungsklage ergangene Wohnungsanforderung nicht berücksichtigt werden dürfe, da es nur darauf ankomme, daß der Beklagte die Wohnung im Zeitpunkt der Anbringung der Klage ohne Rechtstitel benützt habe.

Der Oberste Gerichtshof hat der Revision der beklagten Partei Folge gegeben und in Abänderung der Berufungsentscheidung das erstgerichtliche Urteil wiederhergestellt.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Räumungsklage stützt sich darauf, daß der Beklagte nach der Aufhebung seiner Einweisung in die Wohnung nach dem Reichsleistungsgesetz keinen Rechtstitel zur Benützung mehr besitze und deshalb die Wohnung dem Hauseigentümer geräumt zu übergeben habe. Es handelt sich nicht um die Aufkündigung eines Bestandvertrages oder eine Räumungsklage nach Beendigung eines solchen Vertrages. Ein Mietverhältnis hat zwischen den Parteien nie bestanden. Das Begehren auf Räumung fußt im vorliegenden Fall auf dem Eigentumsrecht des Hauseigentümers und der behaupteten Tatsache des untitulierten Besitzes des Beklagten. Für derartige Klagen gilt im Gegensatz zu Kündigungen der allgemeine Grundsatz des § 406 ZPO., daß die Entscheidungsgrundlagen im Zeitpunkt der Urteilsschöpfung maßgebend sind. Wenn zu dieser Zeit eine öffentlich-rechtliche Befugnis des Beklagten zur Benützung der Wohnung auf Grund rechtskräftiger Anforderungs- und Zuweisungsbescheide besteht, kann nicht mehr gesagt werden, daß er die Wohnung ohne Rechtstitel inne hätte, und die Räumungsklage ist abzuweisen. Ob die Bescheide der Verwaltungsbehörde dem Gesetze, insbesondere dem § 16 Abs. 9 WAG. 1949 entsprechen, kann vom Gericht nicht geprüft werden, sondern sie müssen, solange sie aufrecht sind, berücksichtigt werden. Den Parteien muß es überlassen bleiben, im Verwaltungsverfahren Abhilfe zu suchen.

Der Hinweis auf Punkt 4 des Plenarbeschlusses des Obersten Gerichtshofes vom 4. Juni 1924 versagt deshalb, weil sich die Rechtslage seither trotz der Übereinstimmung der §§ 16 Abs. 9 WAG. 1949 und 25 Abs. 12 WAG. 1922 wesentlich geändert hat. Nach Erlassung des Judikates 14 neu ist mit dem Gesetz vom 21. Juli 1925, BGBl. Nr. 274, das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz eingeführt worden, in dessen § 68 ausdrücklich die Rechtskraft und grundsätzliche Unabänderlichkeit der Verwaltungsakte normiert wurde, woraus sich auch die grundsätzliche Bindung der Gerichte an sie ergibt. Bis dahin war die Frage der Bindung des Gerichtes an einen Verwaltungsakt, der eine Vorfrage des Gerichtes als Hauptsache entschieden hatte, zweifelhaft. Schon Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft, befaßte sich S. 231 ff. mit diesem Problem, wobei er mit Rücksicht auf das Fehlen gesetzlicher Vorschriften auf die mannigfachen Zweifel und Schwierigkeiten verwies. Bei ihm sind Ansätze zur Annahme einer Bindung der Gerichte an Verwaltungsakte schon vorhanden. Diese Bindung ist aber nach Bernatziks Meinung von zahlreichen Ausnahmen durchbrochen. Nicht minder zweifelnd ist Herrnritt, Grundlehren des Verwaltungsrechtes, S. 322 ff., ohne daß sich dieser freilich mit der Frage besonders auseinandersetzte. Die Judikatur der Gerichte zielt vielfach bereits erlassene Verwaltungsentscheidungen in dem Sinne für überprüfbar, daß der zugrunde liegende Tatbestand als Vorfrage auch gegenteilig beurteilt werden könne, wenn bestimmte Voraussetzungen vorlägen. Im Zusammenhang mit der Zweifelsfrage der Dispens vom Eheband sind noch Petschek, Indirekter Kompetenzkonflikt und Bindungskonflikt, ZBl. 1929, S. 362 ff., und Wahle, Die Vorfrage der Gültigkeit eines Verwaltungsaktes, ZBl. 1930, S. 1 ff., dieser Meinung.

§ 68 AVG. versucht - wie der Verfassungsausschußbericht (Mannlicher, Das Verwaltungsverfahren 5, 1951, bei § 68) ausführt - "die außerordentlich schwierige, bisher nicht allgemein geregelte Frage der Rechtskraft und des Aufsichtsrechts in einer Weise zu lösen, daß einerseits die Rechtssicherheit möglichst gewahrt wird, anderseits aber auch Mittel zur Wiedergutmachung begangenen Unrechts geboten werden". In dem im § 68 Abs. 2 - 4 normierten Abänderungsrecht der Behörde soll die Rechtskraft von Entscheidungen ihre einzige Schranke finden. Mit Recht verweist Mannlicher. a. a. O., in seinen Erläuterungen zu §§ 38 und 68 (S. 131, 216) darauf, daß sich die im § 68 AVG. normierte materielle Rechtskraft der Verwaltungsbescheide nach allen Seiten äußere und daß sie neben den Parteien und den am Verfahren beteiligten Behörden auch die anderen Verwaltungsbehörden und die Gerichte binde. Die Beseitigung gesetzwidriger Bescheide einer Verwaltungsbehörde muß auf dem dafür vorgesehenen Verwaltungsweg versucht werden. Dies folgt aus der verfassungsmäßigen Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten und den Verwaltungsbehörden (so Mannlicher, a. a. O. S. 217, Kelsen, ZfsozR. 1, 86). Die neuere Judikatur der Gerichte ist zum Ergebnis gekommen, daß mit Ausnahme der absoluten Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes, welcher Begriff seinem Umfang nach freilich nicht genau umschrieben ist, die bindende Wirkung rechtskräftiger Bescheide der Verwaltungsbehörde anzunehmen ist (z. B. OGH. 2 Ob 153/50, SZ. XXI/103, SZ. XXI/50, SZ. XXI/7, VerwGH. E. v. 7. Juli 1933, Slg. 17674, und vom 8. Feber 1950, A 1724/49). Die beiden letzteren Entscheidungen lassen nach dem geltenden Recht eine absolute Nichtigkeit von Verwaltungsakten überhaupt nicht zu.

Durch die Änderung der Rechtsgrundlage infolge Erlassung des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes ist Punkt 4 des Plenarbeschlusses des Obersten Gerichtshofes vom 4. Juni 1924, der ausspricht, daß Anforderungen, die nach eingebrachter Kündigung oder Räumungsklage erlassen werden, den Fortgang des gerichtlichen Verfahrens nicht behindern, nicht mehr anwendbar.

Es würde einen unerträglichen Widerstreit zwischen der gerichtlichen und der verwaltungsbehördlichen Entscheidung bedeuten, wollte man dem rechtskräftigen Anforderungsbescheid und der Zuweisung der Wohnung an den Beklagten im Räumungsverfahren gegen diesen keine Bedeutung beilegen.

Anmerkung

Z24032

Schlagworte

Behinderung des Räumungsverfahrens durch nachfolgende Anforderung, Bestandverfahren, Anforderung nach Einbringung der Kündigung, Bestandvertrag Anforderung nach Einbringung der Räumungsklage, Einbringung der Kündigung, Anforderung nach -, Kündigung, Anforderung nach Einbringung der -, Mietvertrag Anforderung nach Einbringung der Räumungsklage, Räumungsklage, Anforderung nach Einbringung der -, Wohnung, Anforderung nach Einbringung der Räumungsklage, Wohnungsanforderung nach Einbringung der Räumungsklage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1951:0020OB00459.5.0201.000

Dokumentnummer

JJT_19510201_OGH0002_0020OB00459_5000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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