Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer, Dr. Zechner und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am 31. Dezember 2003 geborenen mj Christina M***** infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter Marija M*****, vertreten durch Kometer & Pechtl, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 27. Februar 2004, GZ 54 R 18/04z-40, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 14 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Die Revisionsrekurswerberin führte zunächst aus, der Jugendwohlfahrtsträger in Wien sei unzuständig, weil sich die örtliche Zuständigkeit gemäß § 5 JWG aus dem gewöhnlichen Aufenthalt, mangels eines solchen aus dem Aufenthalt des Betroffenen ergebe.
In dem Zeitpunkt, in dem der Jugendwohlfahrtsträger in Wien erstmals tätig wurde, also noch vor der Geburt des Kindes, hielt sich die Mutter in Wien auf. Sie war zuvor aus Innsbruck abgereist und hatte bei ihrer Mutter in Wien Quartier genommen. Sie erklärte ausdrücklich, nicht mehr zurückkehren zu wollen. Ob sie dadurch bereits einen gewöhnlichen Aufenthalt in Wien begründete, kann dahingestellt bleiben, weil sie zu diesem Zeitpunkt jedenfalls keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Tirol hatte. Ungeachtet des tatsächlichen - allenfalls rein zufälligen - Geburtsortes des Kindes war daher der Wiener Jugendwohlfahrtsträger in Wahrnehmung seiner Aufgaben der Mutterschafts-, Säuglings- und Jugendfürsorge gemäß § 1 Abs 1 Z 1 JWG aufgrund des zuletzt regelmäßigen Aufenthalts der Mutter in Wien und der sich daraus ergebenden Zuständigkeit für ihr Kind weiterhin zuständig.
Hat der Jugendwohlfahrtsträger in Wahrnehmung seiner Interimskompetenz nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB wegen Gefahr im Verzug bereits die erforderlichen Maßnahmen im Bereich der Pflege und Erziehung vorläufig wirksam getroffen, so ist eine mit der vorläufig wirksamen Verfügung des Jugendwohlfahrtsträgers deckungsgleiche vorläufige Maßnahme des Gerichts nach § 176 ABGB überflüssig (RIS-Justiz RS0007018); vielmehr bleibt die getroffene Maßnahme ohne weiteres bis zur Endentscheidung des Gerichts als vorläufige Maßnahme aufrecht, sofern das Pflegschaftsgericht diese ohnehin für gerechtfertigt hält (1 Ob 550/01 = RZ 1992/7, 8 Ob 566/02 ua). Entgegen der Ansicht der Revisionsrekurswerberin ist daher die vom Jugendwohlfahrtsträger getroffene Maßnahme ungeachtet der Frage der Zuständigkeit des einschreitenden Jugendwohlfahrtsträgers wirksam; sie bedurfte auch keiner nachträglichen gerichtlichen Genehmigung. Vielmehr hat das Gericht nun - möglichst rasch und ohne Verzögerung - Erhebungen durchzuführen und nach ausreichender Klärung aller maßgebenden Umstände die endgültige Entscheidung zu treffen (1 Ob 550/91; SZ 59/160), bis zu der die (vom Jugendwohlfahrtsträger getroffene) vorläufige Maßnahme aufrecht bleibt.
2. Soweit die Revisionsrekurswerberin meint, das Rekursgericht stelle sich gegen die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, eine konkrete und ernste Gefährdung des Kindeswohls habe auch vom Rekursgericht nicht festgestellt werden können, und der Mutter sei keine Gelegenheit gegeben worden, unter Beweis zu stellen, dass sie für ihr Kind sorgen könne, übersieht sie, dass die Beurteilung, ob eine Gefährdung des Kindeswohls eine Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers bzw des Gerichts rechtfertigt, eine von den Umständen des Einzelfalls abhängige und zu lösende Rechtsfrage ist, der nur bei gravierender Fehlbeurteilung durch das Rekursgericht erhebliche Bedeutung im Sinne des § 14 Abs 1 AußStrG zukommen könnte (RIS-Justiz RS0114625, RS0115977). Eine solche liegt nicht vor.
3. Wie bereits dargelegt wurde, bleibt eine vorläufige Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers nach § 215 Abs 1 ABGB, die dem Pflegschaftsgericht unverzüglich angezeigt und von diesem vorerst nicht abgeändert wurde, ohne Weiteres bis zur Endentscheidung über die Zuteilung der Obsorge als vorläufige Maßnahme aufrecht. Das Pflegschaftsgericht hat in einem solchen Fall - allerdings erst nach ausreichender Sachverhaltsklärung - möglichst rasch eine endgültige Entscheidung zu treffen (RZ 1992/7, EFSlg 68.822, SZ 59/160). Steht nach eingehender Prüfung fest, dass es dem Kindeswohl entspricht, die Maßnahme nicht weiter aufrecht zu erhalten, so ist mit endgültiger Entscheidung entsprechend vorzugehen. Solange die notwendigen Erhebungen noch nicht abgeschlossen sind, kommt eine vorläufige Maßnahme, die neuerlich einen potenziell nur vorübergehenden Zustand schaffen soll, regelmäßig nicht in Betracht. Die Entscheidungen der Vorinstanzen, mit denen sie den Antrag der Mutter, ihr das Kind "bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens" unverzüglich zu übergeben, abwiesen, ist schon deshalb unbedenklich. Da auch die Außerkraftsetzung einer vorläufigen Maßnahme vollständige Sachverhaltserhebungen voraussetzt, die die der einstweiligen Maßnahme zugrunde liegende Besorgnis einer Gefährdung entkräften, kann dies erst mit der endgültigen Entscheidung über den Antrag der Mutter, ihr die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung zuzuweisen und ihr das Kind zu übergeben, ausgesprochen werden. In der Ansicht der Vorinstanzen, die bisher durchgeführten Erhebungen reichten zu einer endgültigen Beurteilung nicht aus, kann keine Fehlbeurteilung gesehen werden.
4. Der (vom Pflegschaftsgericht bisher gebilligten) einstweiligen Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers lag zugrunde, dass die Mutter erklärt hatte, sie wolle das Kind nicht selbst aufziehen, sondern gleich nach der Geburt ihrem Freund, dem mutmaßlichen Vater, bzw dessen Familie übergeben. Gegen das Aufwachsen des Kindes in dieser Familie bestanden jedoch unter anderem wegen eines aggressiven Familienklimas Bedenken. Soweit die Mutter nunmehr den Standpunkt vertritt, sie sei bereit, gemeinsam mit dem Kind zur Familie ihres Freundes zu ziehen, und diese werde sie bei der Erziehung und Betreuung des Kindes in ausreichendem Maße unterstützen, können diese Behauptungen nicht ohne Weiteres einer (endgültigen) Entscheidung über die begehrte Übergabe des Kindes an die Mutter zugrunde gelegt werden. Eine solche Maßnahme kann vielmehr erst nach eingehender Sachverhaltsermittlung getroffen werden, wobei dem Erstgericht keineswegs der Vorwurf gemacht werden kann, hier nicht zügig und zielgerichtet vorzugehen. Abgesehen von der Frage, ob das Klima in der Familie des mutmaßlichen Vaters der Förderung des Kindeswohls nicht abträglich ist, wird die Mutter vor allem die Ernstlichkeit ihres Sinneswandels sowie ihre grundsätzliche Eignung zur Pflege und Erziehung des Kindes nachzuweisen haben. Dass all dies bereits ausreichend geklärt wäre, behauptet die Mutter selbst nicht. Die Abweisung ihres Antrags, ihr das Kind bereits vorher zu übergeben, erscheint damit auch unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Judikatur nicht bedenklich.
Entgegen der Auffassung der Revisionsrekurswerberin kann auch nicht gesagt werden, dass bei Anordnung der vorläufigen Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers eine Gefährdung des Kindeswohls nicht zu befürchten gewesen wäre. Die Mutter übersieht, dass sie selbst wiederholt erklärt hatte, sie wolle das Kind nicht selbst aufziehen, sondern vielmehr ihrem Freund übergeben. Nachdem sie sich in der Folge - ohne jedoch Vorbereitungen (Schlafplatz) für die Betreuung des Kindes zu treffen - vordergründig bereit erklärt hatte, das Kind lieber doch selbst zu übernehmen, als es einer Pflegefamilie zu überlassen, begab sie sich zur Entbindung nach Tirol, obwohl sie unmittelbar vorher darauf hingewiesen worden war, dass das Kind nicht nach Tirol gebracht werden solle. Angesichts des Alters der Mutter und ihres geschilderten Verhaltens lag es keinesfalls fern, eine Gefahr für das Kind durch die angekündigte Übergabe an eine möglicherweise für die Betreuung nicht geeignete Familie zu befürchten. Dass der Mutter damit keine Gelegenheit gegeben wurde, zu beweisen, dass das Kind in "einer Geborgenheit mütterlicher Liebe und Fürsorge" aufwachsen werde, liegt allein daran, dass die Abnahme des Kindes unter den gegebenen Umständen die nächstliegende Maßnahme war, um dem Kindeswohl allenfalls abträgliche eigenmächtige Handlungen der Mutter zu verhindern. Soweit sie darauf hinweist, sie habe ihr Kind nach der Geburt im Krankenhaus liebevoll betreut und gestillt, ist daraus für sie schon deshalb nichts zu gewinnen, weil nicht eine Vernachlässigung des Kindes während des Krankenhausaufenthalts zu befürchten war, sondern vielmehr eine unzureichende Betreuung in der Zeit danach.
Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).
Textnummer
E72952European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2004:0010OB00070.04G.0416.000Im RIS seit
16.05.2004Zuletzt aktualisiert am
12.01.2011