RS Vfgh 2003/6/28 G78/00

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Veröffentlicht am 28.06.2003
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Index

20 Privatrecht allgemein
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
EMRK Art8
ABGB §156, §157, §158, §159
ABGB §163e idF Kindschaftsrechts-ÄnderungsG 2001 - KindRÄG 2001, BGBl I 135/2000
IPR-G §21

Leitsatz

Verstoß von Bestimmungen des bürgerlichen Rechts über die Legitimation zur Bestreitung der Ehelichkeit eines Kindes gegen das Recht auf Privat- und Familienleben auf Grund der rechtlichen Unmöglichkeit des Kindes als Hauptbetroffenen zur Bestreitung seiner Abstammung vom Ehemann der Mutter; Interessen des Kindes durch Bestreitungsrecht des Staatsanwaltes mangels eigenen Rechtsanspruches nicht ausreichend gewahrt

Rechtssatz

Denkmögliche Annahme der Anwendbarkeit österreichischen Rechts durch das antragstellende Gericht bei der Beurteilung der Ehelichkeit eines Kindes mit österreichischer Mutter.

Dem antragstellenden Gericht ist nicht entgegenzutreten, wenn es annimmt, daß es österreichisches Recht anzuwenden hätte; insbesondere trifft dies zu bei der Abwägung gemäß §21 IPR-G (idF vor dem Kindschaftsrechts-ÄnderungsG - KindRÄG), ob österreichisches oder dominikanisches Recht für die Ehelichkeit des Kindes günstiger ist; zur Beurteilung dieser Frage hätte das Gericht die Vorschriften des österreichischen Rechts über die Ehelichkeitsbestreitung anzuwenden.

Zurückweisung der Anträge (Primärantrag und Eventualanträge 2. bis 5.) auf Aufhebung von Teilen des §156, §157 und §158 ABGB wegen zu engen Anfechtungsumfanges; Zulässigkeit des Eventualantrages zu 6. auf Aufhebung von Teilen des §156, §157 und §158 ABGB und einer Wortfolge in §159 ABGB.

Dem antragstellenden Gericht kann nicht entgegengetreten werden, wenn es der Meinung ist, daß es zur Beurteilung der Frage, ob der Mutter ein aktives Klagsrecht auf Bestreitung der Ehelichkeit zusteht, jene Bestimmungen anzuwenden hat, die die Aktivlegitimation ausdrücklich nur dem Ehemann und dem Staatsanwalt zubilligen, nicht aber dem Kind und der Mutter, sohin §156 und §158 ABGB. Das antragstellende Gericht hat den Anfechtungsumfang daher insoweit zutreffend beurteilt. Der Verfassungsgerichtshof ist hinsichtlich des §157 ABGB und des zweiten Satzes des §159 Abs1 ABGB entgegen der Bundesregierung der Ansicht, daß diese Bestimmungen in einem untrennbaren Zusammenhang mit §156 und §158 ABGB stehen, da sie Teil des Systems sind, welches das Anfechtungsrecht ausschließlich dem Ehemann der Mutter und dem Staatsanwalt einräumt.

Im Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch vom 1. Juni 1811 JGS 946 (ABGB) werden §156 idF dRGBl 1943 I 80, §157 idF BGBl 136/1983, §158 idF dRGBl 1943 I 80 und in §159 Abs1 idF dRGBl 1943 I 80 dessen zweiter Satz "Die Klage ist gegen das Kind zu richten." als verfassungswidrig aufgehoben.

Es widerspricht dem Recht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art8 EMRK, dem Kind in jedem Fall einen durchsetzbaren Rechtsanspruch zu verwehren.

Zum Begriff "Familienleben" siehe die im Erkenntnis zitierte Rechtsprechung des EGMR.

Die durch Art8 EMRK gebotene Achtung der bestehenden Familiengemeinschaft erfordert im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte jedenfalls in einem Fall, in welchem eine Störung eines nach Art8 EMRK geschützten Familienlebens von vornherein nicht in Betracht kommt, zumindest für das Kind (wenn auch bei Minderjährigkeit durch eine von den übrigen Beteiligten unabhängige Person, etwa einen Kollisionskurator, vertreten, vgl EFSlg 33661, 36070, 66170) die Bereitstellung eines mit Rechtsanspruch zugänglichen Verfahrens, welches in rechtsförmlicher und verbindlicher Weise die Feststellung einer biologischen Vaterschaft gegen die bloß rechtlich vermutete ermöglicht.

Aus §158 iVm §159 ABGB ergibt sich, daß der Staatsanwalt, selbst wenn er auch im Interesse des Kindes einschreitet, jedenfalls nicht als Vertreter des Kindes tätig wird - wie es die Bundesregierung darzustellen versucht -, zumal ja seine Klage gegen das Kind zu richten ist. Im übrigen muß und wird sich auch häufig nicht das, was der Staatsanwalt als im Interesse des Kindes gelegen sieht - weder bei Bestreitung noch bei Unterlassung der Bestreitung - mit den subjektiven Interessen des Kindes decken. Das Kind kann (aber auch die Mutter oder Dritte können) die Bestreitung der Ehelichkeit durch den Staatsanwalt nur anregen. Ob die Voraussetzungen zur Bestreitung der Ehelichkeit gegeben sind, fällt aufgrund der

Bestimmung des §158 ABGB ("... kann ..., wenn er dies ... für

geboten erachtet ...") in das Ermessen des Staatsanwaltes.

Durch das Bestreitungsrecht des Staatsanwaltes werden jedenfalls die Interessen des Kindes an der Feststellung seiner Abstammung nicht ausreichend gewahrt; es vermag ein persönliches Bestreitungsrecht des Kindes nicht zu ersetzen.

Rechtspolitisches Ermessen des Gesetzgebers bei Einräumung durchsetzbarer Rechtsansprüche hinsichtlich des Statusverhältnisses eines Kindes.

Keine Änderung durch §163e ABGB idF KindRÄG, wonach es des gemeinsamen Zusammenwirkens aller Beteiligten bedarf, um die gesetzliche Vaterschaftsvermutung zu widerlegen.

Schon allein durch die rechtliche Unmöglichkeit des Kindes als Hauptbetroffenen aus dem Statusverhältnis, seine Abstammung vom Ehemann der Mutter zu bestreiten, erweisen sich die angefochtenen Bestimmungen als verfassungswidrig.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Anwendbarkeit eines Gesetzes, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, Zivilrecht, Kindschaftsrecht, Kinder, Kindeswohl, Privat- und Familienleben, Ermessen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:G78.2000

Zuletzt aktualisiert am

31.05.2012
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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