TE Vfgh Erkenntnis 1985/3/8 G149/84, G150/84, G152/84, G155/84, G158/84, G159/84, G3/85, G4/85, G5/8

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Veröffentlicht am 08.03.1985
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Index

90 Straßenverkehrsrecht, Kraftfahrrecht
90/02 Kraftfahrgesetz 1967

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Allg
AVG §49
KFG 1967 §103 Abs2 idF BGBl 615/1977 und BGBl 237/1984

Beachte

Kundmachung am 23. Mai 1985, BGBl. 198/1985; s. Anlaßfälle VfSlg. 10404/1985

Leitsatz

KFG 1967; die im zweiten Satz des §103 Abs2 unter der Strafsanktion des §134 enthaltene Regelung der Auskunftspflicht bewirkt gegebenenfalls materiell auch einen Zwang zur Selbstbeschuldigung im Hinblick auf eine Verwaltungsübertretung; weiters kommt dem Zulassungsbesitzer kein inhaltlich einem Zeugnisverweigerungsrecht entsprechendes Entschlagungsrecht zugute; Verstoß der Regelung gegen das Gleichheitsgebot

Spruch

I. Der zweite Satz im §103 Abs2 des Kraftfahrgesetzes 1967, BGBl. 267, idF des BG BGBl. 615/1977 und der Kundmachung BGBl. 237/1984 ("Er hat der Behörde auf Verlangen unverzüglich, im Falle einer schriftlichen Aufforderung binnen zwei Wochen nach Zustellung, Auskunft darüber zu erteilen, wem er jeweils das Lenken seines Kraftfahrzeuges oder die Verwendung seines Anhängers überlassen hat, und entsprechende Aufzeichnungen zu führen, wenn er ohne diese die verlangte Auskunft nicht erteilen kann;") wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 28. Feber 1986 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im BGBl. verpflichtet.

II. Die Gesetzesprüfungsanträge des VwGH zu A4/85 und A6/85 werden zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VfGH sind (zu B581/81, B456/82, B616/82, B585/83, B183/84, B357/84, B839/84 und B952/84) acht Verfahren über Beschwerden anhängig, die sich gegen je einen vom Landeshauptmann von Wien im Instanzenzug erlassenen Bescheid richten, mit dem der jeweilige Bf. wegen des Nichterteilens einer Lenkerauskunft einer Verwaltungsübertretung nach §103 Abs2 des Kraftfahrgesetzes 1967, BGBl. 267, idF des BG BGBl. 615/1977 schuldig erkannt und bestraft wurde. Aus Anlaß dieser Beschwerdefälle hat der VfGH beschlossen, von Amts wegen Verfahren zur Prüfung des zweiten Satzes dieser Gesetzesstelle (idF der Kundmachung BGBl. 237/1984) auf ihre Verfassungsmäßigkeit einzuleiten.

2. Beim VwGH sind 13 gleichgelagerte Beschwerdesachen anhängig; die Beschwerden richten sich gegen je einen vom zuständigen Landeshauptmann im Instanzenzug erlassenen Bescheid, mit dem der jeweilige Bf. des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens wegen einer unrichtigen Lenkerauskunft (oder wegen des Nichterteilens einer solchen Auskunft) einer Verwaltungsübertretung nach der vorhin angeführten Gesetzesstelle schuldig erkannt und bestraft wurde. Aus Anlaß dieser Beschwerdefälle stellt der VwGH (zu A17/84 bis A28/84 sowie A1/85) die (hg. unter G3/85 bis G14/85 sowie G19/85 protokollierten) Anträge, dieselbe Gesetzesvorschrift als verfassungswidrig aufzuheben.

3. Die Bundesregierung erstattete Äußerungen und beantragte, von einer Gesetzesaufhebung abzusehen.

4. Der VfGH hat seine - vom VwGH geteilten - Bedenken in den Einleitungsbeschlüssen folgendermaßen dargelegt:

"1. §103 Abs2 KFG 1967 hat folgenden Wortlaut (wobei der mit dem hg. Erk. G7/80 ua. vom 3. März 1984 - kundgemacht im BGBl. 237/1984 - als verfassungswidrig aufgehobene letzte Halbsatz des zweiten Satzes des Zusammenhangs wegen ebenfalls wiedergegeben, aber in Klammer gesetzt ist):

'(2) Der Zulassungsbesitzer darf das Lenken seines Kraftfahrzeuges oder die Verwendung seines Anhängers nur Personen überlassen, die die erforderliche Lenkerberechtigung, bei Kraftfahrzeugen, für deren Lenken keine Lenkerberechtigung vorgeschrieben ist, das erforderliche Mindestalter besitzen. Er hat der Behörde auf Verlangen unverzüglich, im Falle einer schriftlichen Aufforderung binnen zwei Wochen nach Zustellung, Auskunft darüber zu erteilen, wem er jeweils das Lenken seines Kraftfahrzeuges oder die Verwendung seines Anhängers überlassen hat, und entsprechende Aufzeichnungen zu führen, wenn er ohne diese die verlangte Auskunft nicht erteilen kann; (dies gilt sinngemäß, wenn ein Zulassungsbesitzer selbst das Kraftfahrzeug gelenkt oder den Anhänger verwendet hat).'

2. Der VfGH verweist zunächst auf die Entscheidungsgründe seines eben zitierten Erkenntnisses, in denen zu der im letzten Halbsatz des §103 Abs2 KFG 19 enthaltenen Regelung insbesondere festgehalten wurde, daß die von der Behörde verlangte Auskunft im Regelfall auf die Feststellung des einer verwaltungsbehördlich ahndbaren Tat Verdächtigen abzielt. Der Gerichtshof geht davon aus, daß das gleiche für die nun in Prüfung gezogene Gesetzesstelle gilt. Sie verpflichtet den befragten Zulassungsbesitzer zur Bekanntgabe, ob er sein Fahrzeug zum betreffenden Zeitpunkt überhaupt einem Dritten zum Lenken überlassen hat und - bejahendenfalls - zu dessen Namhaftmachung. Der Zulassungsbesitzer ist - wie der Gerichtshof weiters vorläufig annimmt - unter keinen wie immer gearteten Umständen berechtigt, die verlangte Auskunft ganz oder auch nur teilweise zu verweigern: Er darf die in der Fragestellung enthaltene Alternative, das Fahrzeug einem Dritten zum Lenken überlassen zu haben oder nicht, auch dann nicht offenlassen, wenn die Verneinung in die Nähe der ihn belastenden Annahme führt, daß der Zulassungsbesitzer das Fahrzeug im maßgeblichen Zeitpunkt selbst gelenkt hat und daher Tatverdächtiger ist. Dem Zulassungsbesitzer kommt - wie ebenfalls schon in den Entscheidungsgründen des Erkenntnisses G7/80 hervorgehoben wurde und auch vom VwGH in ständiger Rechtsprechung betont wird - im Rahmen seiner Auskunftspflicht auch kein inhaltlich einem Zeugnisverweigerungsrecht entsprechendes Entschlagungsrecht zugute, und zwar selbst dann nicht, wenn die wahrheitsgetreue Auskunft zur Beschuldigung der nächsten Angehörigen, wie etwa des Ehegatten oder von Sohn oder Tochter, führt. Der VfGH hält eine derartige Regelung, die das sonst, nämlich im Falle einer förmlichen Vernehmung als Zeuge gegebene Recht, die Aussage nach §49 Abs1 lita AVG oder nach dieser Gesetzesstelle iVm. §38 VStG teilweise oder zur Gänze zu verweigern, nicht in sich schließt, aus dem Blickpunkt des auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgebotes für verfassungsrechtlich bedenklich. Er findet - zumindest vorläufig - keine Gründe, welche die dargestellte Differenzierung sachlich rechtfertigen könnten, und hebt in diesem Zusammenhang noch hervor, daß die kritisierte Regelung keine Rücksicht auf Bedeutung und Gewicht des Deliktes nimmt, das Anlaß zur Ausforschung des Tatverdächtigen bietet, sowie daß die Verpflichtung des Zulassungsbesitzers zuzugeben, daß er im fraglichen Zeitpunkt das Fahrzeug nicht einem Dritten zum Lenken überlassen hat, anscheinend in die Nähe des verfassungsrechtlich verpönten Zwanges führt, unter Strafsanktion ein Geständnis seines strafbaren Verhaltens abzulegen (s. auch dazu das mehrmals zitierte Erk. G7/80 ua.)."

II. Aus Anlaß zweier weiterer Beschwerdefälle, die ebenfalls Bestrafungen wegen einer Zuwiderhandlung gegen §103 Abs2 KFG betreffen, stellte der VwGH (zu A4/85 und A6/85; hier eingetragen unter G32/85 und G31/85) mit 22. Feber 1985 datierte Anträge auf Aufhebung des zweiten Satzes im §103 Abs2 KFG als verfassungswidrig.

Eine Einbeziehung dieser beim VfGH am 7. März 1985 eingelangten Anträge war im Hinblick auf das fortgeschrittene Prozeßgeschehen (Anberaumung der mündlichen Verhandlung für den 8. März 1985) nicht mehr möglich; sie waren sohin zurückzuweisen (vgl. dazu das - einen Verordnungsprüfungsantrag des VwGH betreffende - Erk. V14, 15/83 vom 24. Juni 1983).

III. Die übrigen Prüfungsverfahren sind zulässig.

Es haben sich keine Anhaltspunkte ergeben, die gegen die Annahme sprechen, daß die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den jeweils bei ihnen anhängigen Beschwerdeverfahren die wiedergegebene Gesetzesvorschrift anzuwenden hätten. Auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen liegen offenkundig vor.

IV. Die in den Prüfungsbeschlüssen und -anträgen geäußerten Bedenken treffen zu.

1. In den Einleitungsbeschlüssen nahm der VfGH vorläufig an, daß die von der Behörde nach §103 Abs2 KFG verlangte Auskunft im Regelfall auf die Feststellung des einer verwaltungsbehördlich ahndbaren Tat Verdächtigen abzielt. Die Bundesregierung tritt dieser Ansicht zwar nicht ausdrücklich entgegen, trachtet sie aber durch den Hinweis darauf wesentlich zu relativieren, daß mannigfaltige andere Gründe eine Auskunftserteilung notwendig machen könnten, der Lenker zB als Zeuge, zur Einleitung eines gerichtlichen Strafverfahrens oder iZm. einem zivilgerichtlichen Verfahren gesucht werde. In einem anderen Kontext räumt die Bundesregierung jedoch die grundlegende Bedeutung der Lenkerauskunft für das Verwaltungsstrafverfahren mittelbar ein; sie legt nämlich dar, daß "etwa zwei Drittel aller Anzeigen ... bloß nach dem Kennzeichen eines KFZ" (erfolgten).

Der VfGH bleibt bei seiner - schon im Erk. G7/80 vertretenen - Auffassung, daß die praktische Funktion der Lenkerauskunft im Regelfall darin liegt, den einer Verwaltungsübertretung Verdächtigen festzustellen. Dieser Umstand bedarf keiner weiteren Verifizierung, weil er gerichtsbekannt ist. So weist der Gerichtshof lediglich zur Illustration darauf hin, daß die Sachlage in jeder der insgesamt 21 Anlaßbeschwerdesachen diesem Regelfall entspricht.

Sieht man aber die praktische Funktion der Lenkerauskunft in der Ermittlung des Tatverdächtigen und hält weiters an der nicht in Zweifel gezogenen Auffassung fest, daß der Zulassungsbesitzer gegebenenfalls die Frage, ob er das Fahrzeug einem Dritten zum Lenken überlassen hat, zu verneinen hat, so folgt schon daraus die Verfassungswidrigkeit der in Prüfung stehenden Gesetzesstelle. Denn die unter Wahrheitspflicht gegebene Antwort des Zulassungsbesitzers, er habe das Fahrzeug zum betreffenden Zeitpunkt nicht einem Dritten zum Lenken überlassen, zwingt ihn in grundsätzlich gleicher Weise materiell zu einer Selbstbeschuldigung im Hinblick auf eine Verwaltungsübertretung, die aus den im Erk. G7/80 näher dargelegten Gründen verfassungsrechtlich verpönt ist.

2. Auch im folgenden geht der VfGH vom dargestellten hauptsächlichen Zweck der in Prüfung stehenden Gesetzesvorschrift aus, des weiteren von der - ebenfalls bereits im Erk. G7/80 ausgesprochenen - Ansicht, daß dem Zulassungsbesitzer im Rahmen seiner Auskunftspflicht kein inhaltlich einem Zeugnisverweigerungsrecht entsprechendes Entschlagungsrecht zugute kommt. Die Lage des im Verwaltungsstrafverfahren zeugenschaftlich darüber vernommenen Zulassungsbesitzers, wem er das Lenken seines Fahrzeuges zu einem bestimmten Zeitpunkt überlassen hat, unterscheidet sich von der jenes Zulassungsbesitzers, der nach Maßgabe des §103 Abs2 KFG schriftlich oder telefonisch (§123 Abs4 KFG) zur selben Angabe aufgefordert wird, im Tatsächlichen nur durch die Art und Weise der Befragung, materiell jedoch nicht; der Zulassungsbesitzer ist (wie schon erwähnt wurde) jeweils unter Verwaltungsstrafsanktion (§49 Abs5 AVG bzw. §134 KFG) zur wahrheitsgemäßen Beantwortung der an ihn gerichteten Frage verhalten. Wie diese Gegenüberstellung erweist, ist die bestehende unterschiedliche Regelung dahin, daß im erstangeführten Fall unter bestimmten Voraussetzungen ein Zeugnisverweigerungsrecht - insbesondere bei einer sonst eintretenden Selbstbeschuldigung wegen einer Verwaltungsübertretung oder Verfahren gegen nahe Angehörige, wie den Ehegatten oder Sohn oder Tochter (§49 Abs1 lita AVG iVm. §38 VStG) - eingeräumt ist, im anderen hingegen kein inhaltlich im wesentlichen entsprechendes Entschlagungsrecht, sachlich nicht begründbar. Nicht zielführend ist es, wenn die Bundesregierung in diesem Zusammenhang sinngemäß meint, ein Entschlagungsrecht wäre nicht praktikabel, weil es eine dem §49 Abs4 AVG entsprechende Regelung über die Glaubhaftmachung des Weigerungsgrundes erforderte, also in der Regel gerade das aufgedeckt würde, was Gegenstand der Auskunftspflicht sei. Diese Argumentation geht nämlich schon deshalb fehl, weil grundsätzlich die gleiche Problematik bei der zeugenschaftlichen Vernehmung des Zulassungsbesitzers im Verwaltungsstrafverfahren auftreten kann, und zwar dann, wenn der Täter der Behörde noch unbekannt ist oder wenn sie das Verwaltungsstrafverfahren fälschlich gegen einen Beschuldigten führt, der die Tat nicht begangen hat.

Es liegt somit eine infolge Verstoßes gegen das Gleichheitsgebot verfassungswidrige Regelung vor, das gemäß der ständigen Rechtsprechung des VfGH (zB VfSlg. 6410/1971) dem Gesetzgeber verwehrt, andere als sachlich begründbare Differenzierungen zu schaffen.

3. Die in Prüfung gezogene Gesetzesvorschrift war sohin als verfassungswidrig aufzuheben.

Bei diesem Ergebnis erübrigte es sich, auf die weiteren Ausführungen in den Prüfungsbeschlüssen und -anträgen einzugehen.

4. Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG.

Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG.

Schlagworte

Kraftfahrrecht, Auskunftspflicht, VfGH / Verfahren, Verwaltungsverfahren, Beweise, Zeugenbeweis

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1985:G149.1984

Dokumentnummer

JFT_10149692_84G00149_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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