TE Vwgh Erkenntnis 2023/1/12 Ra 2019/22/0150

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.01.2023
beobachten
merken

Index

Auswertung in Arbeit!

Norm

Auswertung in Arbeit!

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 20. Mai 2019, LVwG-750624/8/MZ/JK, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: M O, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1. Der Mitbeteiligte, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte am 5. März 2018 bei der österreichischen Botschaft in Abuja einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Zusammenführender soll der Stiefvater, ein österreichischer Staatsbürger, sein, der mit der - über einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ verfügenden - Mutter des Mitbeteiligten in Linz zusammenlebt.

2. Mit Bescheid vom 20. November 2018 wies der Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz (im Folgenden: belangte Behörde) den Antrag ab. Er führte begründend im Wesentlichen aus, der Mitbeteiligte verfüge über keine (innerhalb des ersten Lebensjahrs nach der Geburt auszustellende) Geburtsurkunde. Der nachträglich erfolgten Beurkundung der Geburt komme keine Rechtsgültigkeit zu, weil die zugrundeliegende eidesstattliche Erklärung über den Geburtszeitpunkt von einer hierzu nicht berechtigten Person abgegeben worden sei. Nach Einschätzung der Botschaftsmitarbeiter habe der Mitbeteiligte bei seiner Vorsprache zudem deutlich älter gewirkt, einer medizinischen Altersfeststellung habe er sich trotz Ersuchens der Botschaft nicht unterzogen. Folglich sei davon auszugehen, dass er im Zeitpunkt der Antragstellung nicht minderjährig gewesen und daher der Nachweis der Familienangehörigeneigenschaft nicht erbracht worden sei. Ferner habe der Mitbeteiligte auch Kenntnisse der deutschen Sprache gemäß § 21a Abs. 1 NAG sowie einen Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Unterkunft gemäß § 11 Abs. 2 Z 2 NAG nicht nachgewiesen.

3.1. Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (im Folgenden: Verwaltungsgericht) - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der Beschwerde des Mitbeteiligten statt, hob den bekämpften Bescheid auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung einer neuen Entscheidung an die belangte Behörde zurück.

Das Verwaltungsgericht gelangte (mit näherer Begründung) zum Ergebnis, es könne vom Vorliegen einer rechtsgültigen Geburtsurkunde und damit von der Minderjährigkeit des Mitbeteiligten im Antrags- und Entscheidungszeitpunkt ausgegangen werden. Da der Mitbeteiligte somit den Nachweis der Familienangehörigeneigenschaft im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 iVm § 47 Abs. 2 NAG erbracht habe, müsse in weiterer Folge das Vorliegen der Voraussetzungen des ersten Teils des NAG geprüft werden. Diesbezügliche Ermittlungen habe die belangte Behörde allerdings „nur ansatzweise durchgeführt“. Die Zurückverweisung der Sache liege insbesondere darin begründet, dass anhand der im Akt befindlichen „veralteten und nicht mehr aussagekräftigen Ermittlungsergebnisse“ nicht beurteilt werden könne, ob der Mitbeteiligte die Voraussetzungen des ersten Teils des NAG erfülle. Dass die Sachverhaltsermittlung durch das Verwaltungsgericht mit einer Kosten- bzw. Zeitersparnis verbunden wäre, sei nicht ersichtlich.

3.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die (ordentliche) Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4.1. Gegen diesen Beschluss wendet sich die - Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende - Amtsrevision, zu deren Zulässigkeit - unter dem Gesichtspunkt eines Abweichens von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs - insbesondere geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur meritorischen Entscheidungspflicht abgewichen, die Voraussetzungen für eine Aufhebung und Zurückverweisung seien gegenständlich nicht erfüllt (Hinweis u. a. auf VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063).

4.2. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurückweisung der Revision.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist zulässig, weil das Verwaltungsgericht - wie in der Zulässigkeitsbegründung zutreffend aufgezeigt wird - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen ist. Die Revision ist aus dem Grund auch berechtigt.

6.1. Zu den für kassatorische Entscheidungen gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG geltenden Voraussetzungen ist auf das schon erwähnte hg. Erkenntnis Ro 2014/03/0063 zu verweisen (§ 43 Abs. 2 VwGG). Demnach ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte gesetzlich festgelegt. Die nach § 28 VwGVG verbleibenden Ausnahmen von der meritorischen Entscheidungspflicht sind strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allfälligen mündlichen Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind (vgl. VwGH 19.1.2017, Ro 2014/08/0084, Pkt. 13.2.; 17.6.2019, Ra 2018/22/0058, Pkt. 5.1.).

6.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner bereits hervorgehoben, dass das Verwaltungsgericht nachvollziehbar zu begründen hat, wenn es eine meritorische Entscheidungszuständigkeit (ausnahmsweise) als nicht gegeben annimmt. Das Verwaltungsgericht hat darzulegen, dass und aus welchen Gründen die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG nicht erfüllt sind, insbesondere in welcher Weise der relevante Sachverhalt nicht feststeht und inwiefern allenfalls erforderliche Ergänzungen nicht vom Verwaltungsgericht selbst vorzunehmen wären. Diesen Anforderungen wird der bloße Hinweis auf einen im Beschwerdeverfahren geänderten Sachverhalt, der von der Behörde neuerlich zu beurteilen bzw. zu prüfen sei, im Allgemeinen nicht gerecht (vgl. neuerlich VwGH Ra 2018/22/0058, Pkt. 5.2.; 26.5.2021, Ra 2018/22/0132, Pkt. 7.2.).

7. Vorliegend ist zunächst festzuhalten, dass dem angefochtenen Beschluss eine im Sinn des soeben Gesagten taugliche Begründung, warum das Verwaltungsgericht eine meritorische Entscheidungszuständigkeit als nicht gegeben erachtete, vor allem inwieweit erforderliche Ergänzungen nicht vom Verwaltungsgericht selbst durchzuführen wären, nicht zu entnehmen ist. Der bloße Hinweis, die belangte Behörde habe die Ermittlungen „nur ansatzweise durchgeführt“ bzw. an Hand der im Akt befindlichen „veralteten und nicht mehr aussagekräftigen Ermittlungsergebnisse“ könne das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht beurteilt werden, stellt jedenfalls keine den aufgezeigten Anforderungen entsprechende nachvollziehbare Begründung dar.

8.1. Für den Verwaltungsgerichtshof ist auch in keiner Weise zu sehen, dass Ermittlungsmängel vorlägen, die im Sinn der obigen Erörterungen das Fehlen der Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG für eine meritorische Entscheidung durch das Verwaltungsgericht nach sich ziehen und damit zu einer Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG führen könnten.

8.2. Wie aus den Verwaltungsakten hervorgeht, wurde vom Mitbeteiligten bereits im Zuge der Antragstellung ein eingehendes Vorbringen auch zur Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen (etwa zum Vorliegen einer ortsüblichen Unterkunft, zur Verfügung über einen Krankenversicherungsschutz, zum Vorhandensein erforderlicher Unterhaltsmittel mit Blick auf das Einkommen von Stiefvater und Mutter, zum Vorliegen von Deutschkenntnissen etc.) erstattet und wurden dazu auch zahlreiche Urkunden vorgelegt. Zu einzelnen Erteilungsvoraussetzungen wurden von der belangten Behörde (im Rahmen des Parteiengehörs) auch Vorhalte gemacht und vom Mitbeteiligten im weiteren Verfahren ergänzende Angaben getätigt sowie weitere Unterlagen beigebracht.

Im Hinblick darauf hat aber die belangte Behörde bereits Ermittlungen zum Teil auch zum Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen durchgeführt. Auf Grundlage dieser brauchbaren Ermittlungsergebnisse hätte das Verwaltungsgericht - zweckmäßiger Weise im Rahmen einer mündlichen Verhandlung - die notwendigen ergänzenden Erhebungen, soweit erforderlich durch Abforderung weiterer Unterlagen vom Mitbeteiligten oder auch durch Vernehmung von Beweispersonen, selbst durchführen müssen. Es kann jedenfalls keine Rede davon sein, dass die belangte Behörde - im Sinn des Vorliegens krasser bzw. besonders gravierender Lücken - bislang keinerlei oder nur völlig ungeeignete bzw. ansatzweise Ermittlungen zu den wesentlichen Tatsachenfragen angestellt hätte oder sämtliche notwendigen Erhebungen auf das Verwaltungsgericht hätte übertragen wollen.

8.3. Das Verwaltungsgericht hat auch nicht dargelegt und es ist in keiner Weise zu sehen, dass die Vervollständigung der Tatsachengrundlage durch das Verwaltungsgericht selbst fallbezogen mit besonderen - ausnahmsweise eine Zurückverweisung rechtfertigenden - Schwierigkeiten verbunden (gewesen) wäre (vgl. VwGH 25.9.2018, Ra 2017/21/0253, Rn. 17).

9. Eine Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG ist auch nicht etwa aus Gesichtspunkten der Verfahrenseffizienz geboten, ist doch die Vornahme ergänzender Ermittlungen durch das Verwaltungsgericht selbst fallbezogen jedenfalls im Interesse der Raschheit gelegen (vgl. VwGH 28.2.2018, Ra 2015/08/0043, Pkt. 9.3.). Dem angefochtenen Beschluss ist ferner keine Begründung zu entnehmen, warum die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens durch das Verwaltungsgericht selbst nicht auch mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre (vgl. VwGH 18.4.2018, Ra 2018/22/0015, Rn. 11).

10. Insgesamt hat daher das Verwaltungsgericht zu Unrecht eine kassatorische Entscheidung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG getroffen, weshalb der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben war.

Wien, am 12. Jänner 2023

Schlagworte

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2019220150.L00

Im RIS seit

24.02.2023

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten