Index
10/07 Verfassungs- und VerwaltungsgerichtsbarkeitNorm
B-VGLeitsatz
Auswertung in ArbeitSpruch
I. Die Verordnung der ASFINAG, mit der vom 12. Februar 2021 bis 11. März 2021 auf der A 12 Inntal Autobahn im Gemeindegebiet von 6330 Kufstein, bei Straßenkilometer 2,975 in Fahrtrichtung Deutschland, eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h iSd §44b StVO 1960 verfügt wurde, war gesetzwidrig.
II. Die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren
1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl E370/2022 eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
1.1. Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Tirol vom 6. Juli 2021 wurde dem Beschwerdeführer eine Übertretung des §52 lita Z10a StVO 1960 zur Last gelegt, weil er am 4. März 2021, um 18.27 Uhr, in Kufstein auf der A 12 Inntal Autobahn, bei Straßenkilometer 1,450 in Fahrtrichtung Deutschland, mit einem nach dem Kennzeichen näher bestimmten Personenkraftwagen in einem Bereich, welcher außerhalb eines Ortsgebietes liege, die durch Straßenverkehrszeichen in diesem Bereich kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 59 km/h überschritten habe. Über den Beschwerdeführer wurde daher gemäß §99 Abs2e StVO 1960 eine Geldstrafe in der Höhe von € 480,– (Ersatzfreiheitsstrafe in der Dauer von acht Tagen und zwölf Stunden) verhängt und ihm ein Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in der Höhe von € 48,– vorgeschrieben.
1.2. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Tirol mit Erkenntnis vom 10. Jänner 2022 als unbegründet ab.
2. Bei der Behandlung der gegen diese Entscheidung gerichteten Beschwerde sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit der Verordnung der ASFINAG, mit der vom 12. Februar 2021 bis 11. März 2021 auf der A 12 Inntal Autobahn im Gemeindegebiet von 6330 Kufstein, bei Straßenkilometer 2,975 in Fahrtrichtung Deutschland, eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h iSd §44b StVO 1960 verfügt wurde, entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am 14. Juni 2022 beschlossen, diese Verordnung von Amts wegen auf ihre Gesetzmäßigkeit zu prüfen.
3. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Verordnungsprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:
"Aus den dem Verfassungsgerichtshof vorliegenden Unterlagen ist ersichtlich, dass es sich bei der in Prüfung gezogenen temporären Geschwindigkeitsbeschränkung um eine auf §44b StVO 1960 gestützte Maßnahme handelt, die nach Aufforderung der Landesverkehrsabteilung der Landespolizeidirektion Tirol von der ASFINAG als Straßenerhalter 'im Zusammenhang mit den laufenden Ausreisekontrollen (COVID-19) in Kiefersfelden' zu veranlassen war. Im Hinblick auf den allgemein und nicht individuell umschriebenen Adressatenkreis, an den sich diese Maßnahme richtete, kommt ihr zweifelsfrei die Eigenschaft einer (Rechts-)Verordnung zu (vglvergleiche VfSlg 9310/1981).
[…]
3. Der Verfassungsgerichtshof hegt gegen die hiemit in Prüfung gezogene Verordnung folgende Bedenken:
3.1. Gemäß §94 StVO 1960 ist der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie ua für die Erlassung von Verordnungen iSd §43 StVO 1960, die Autobahnen betreffen, ausgenommen jedoch Verordnungen nach §43 Abs1a StVO 1960, zuständig. §44b Abs1 StVO 1960 sieht für den Fall der Unaufschiebbarkeit vor, dass Organe der Straßenaufsicht, des Straßenerhalters, der Feuerwehr, des Bundesheeres oder des Gebrechendienstes öffentlicher Versorgungs- oder Entsorgungsunternehmen (zB Gasgebrechendienste) nach Erfordernis eine besondere Verkehrsregelung durch Anweisungen an die Straßenbenützer oder durch Anbringung von Verkehrsampeln oder Signalscheiben veranlassen oder eine der in §43 Abs1 litb Z1 und 2 StVO 1960 bezeichneten Maßnahmen durch Anbringung der entsprechenden Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen mit der Wirkung treffen dürfen, als ob die Veranlassung oder Maßnahme von der Behörde getroffen worden wäre. Dies gilt insbesondere, wenn ein Elementarereignis bereits eingetreten oder nach den örtlich gewonnenen Erfahrungen oder nach sonst erheblichen Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (lita), bei unvorhersehbar aufgetretenen Straßen- oder Baugebrechen und dergleichen (litb), oder bei unvorhersehbar eingetretenen Ereignissen, wie zB Brände, Unfälle, Ordnungsstörungen und dergleichen, die besondere Verkehrsverbote oder Verkehrsbeschränkungen oder eine besondere Verkehrsregelung erfordern (litc).
3.2. Durch §44b StVO 1960 sollen Maßnahmen gesetzlich ermöglicht werden, um Beeinträchtigungen des Straßenverkehrs durch Elementarereignisse, im Zusammenhang mit Unfallereignissen oder aber auch infolge dringend zu verrichtender Arbeiten durch die Gebrechendienste öffentlicher Versorgungs- oder Entsorgungsunternehmen vorzubeugen. Nach den Gesetzesmaterialien sind Maßnahmen wegen bereits eingetretener oder zu erwartender Elementarereignisse jedoch primär von der Behörde selbst gemäß §43 Abs1 lita StVO 1960 zu treffen (vglvergleiche die EB zur RV der 3. StVO-Novelle, 879 BlgNR 11. GP, 14). Die in §44b StVO 1960 vorgesehenen unaufschiebbaren Verkehrsbeschränkungen sollen daher grundsätzlich nur eine Ausnahme bilden und auf das unumgänglich notwendige örtliche und zeitliche Ausmaß beschränkt bleiben (vglvergleiche den Bericht des Handelsausschusses über die [R]V zur 3. StVO-Novelle, 1283 BlgNR 11. GP, 2).
3.3. Die in Prüfung gezogene Geschwindigkeitsbeschränkung wurde anlässlich von Ausreisekontrollen im Zusammenhang mit der COVID-19-VvV verfügt. Die COVID-19-VvV trat am 12. Februar 2021 in Kraft und stand nach zweimaliger Verlängerung für insgesamt 27 Tage (bis 10. März 2021) in Geltung. Nach vorläufiger Ansicht des Verfassungsgerichtshofes kann die Durchführung von Ausreisekontrollen – auch wenn diese zunächst relativ kurzfristig eingeführt wurden – nicht mit den in §44b lita bis c StVO 1960 demonstrativ aufgezählten Ereignissen (wie etwa Straßen- und Baugebrechen, Brände oder Unfälle) gleichgesetzt werden. Die nach Aufforderung der Landesverkehrsabteilung der Landespolizeidirektion Tirol von der ASFINAG als Straßenerhalter anstelle der sonst zuständigen Behörde mit der in Prüfung gezogenen Verordnung gesetzte Maßnahme dürfte daher einer gesetzlichen Grundlage entbehren.
3.4. Selbst für den Fall, dass §44b StVO 1960 grundsätzlich eine taugliche Rechtsgrundlage für Maßnahmen im Zusammenhang mit kurzfristig eingeführten Ausreisekontrollen bilden sollte, hegt der Verfassungsgerichtshof das Bedenken, dass die Voraussetzungen für die Erlassung einer Maßnahme iSd §44b StVO 1960 für den gesamten Zeitraum von insgesamt knapp vier Wochen, in dem die Ausreisekontrollen durchgeführt wurden, nicht vorgelegen sind. Der Verfassungsgerichtshof ist daher vorläufig der Auffassung, dass zumindest zum Zeitpunkt der Begehung der Verwaltungsübertretung durch den Beschwerdeführer am 4. März 2021 – und damit 21 Tage nach dem Inkrafttreten der COVID-19-VvV – kein Fall des §44b StVO 1960 (mehr) vorgelegen sein dürfte, der den Straßenerhalter anstelle der zuständigen Behörde zur Setzung einer Maßnahme nach dieser Gesetzesbestimmung ermächtigt, sodass die in Prüfung gezogene Geschwindigkeitsbeschränkung mangels einer entsprechenden (anderen) Ermächtigung an den Straßenerhalter zur Erlassung einer solchen Verordnung in der Straßenverkehrsordnung 1960 von einer unzuständigen Behörde verfügt worden sein dürfte."
4. Die ASFINAG hat auf die in Prüfung gezogene Verordnung Bezug habende Unterlagen vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken wie folgt entgegengetreten wird:
4.1. Der Gesetzgeber stelle bei den in §44b Abs1 lita bis c StVO 1960 aufgezählten Ereignissen auf das Tatbestandsmerkmal der Unaufschiebbarkeit ab, sodass sich der Straßenerhalter ausschließlich im Fall der Unaufschiebbarkeit auf diese Bestimmung stützen könne. Diese – lediglich demonstrativ aufgezählten – Fälle, wie etwa unvorhersehbar auftretende Straßen- oder Baugebrechen, seien jedoch nicht abschließend gefasst. Es könne daher jedes mögliche Geschehen am Straßennetz, welches besondere Verkehrsverbote, Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsregelungen erfordere, geeignet sein, eine Maßnahme nach §44b StVO 1960 zu rechtfertigen. Ein solches Geschehen könne daher grundsätzlich auch darin gesehen werden, dass es durch gesundheitsbezogene Grenzkontrollen zu Stauerscheinungen komme, die wegen der damit notwendig werdenden Gefahrenabwehr eine besondere Verkehrsregelung (wie etwa eine Reduktion der Geschwindigkeit) erfordern würden.
4.2. Bei der Auslegung des Begriffes der Unaufschiebbarkeit sei zu bedenken, dass §44b StVO 1960 an §43 Abs1 litb Z1 und 2 StVO 1960 anknüpfe. Das Verfahren zur Erlassung einer Verordnung nach §43 Abs1 litb StVO 1960 könne – etwa im Hinblick auf die nach §94f StVO 1960 zu wahrenden Anhörungsrechte – zeitaufwändig sein. Nach Auffassung der ASFINAG liege ein Fall der Unaufschiebbarkeit dann vor, wenn die Entscheidung der zuständigen Behörde auf Grund der erforderlichen Dringlichkeit des Einschreitens zur Gefahrenabwehr nicht rechtzeitig eingeholt werden könne. Für den Fall, dass eine Stauerscheinung unerwartet bereits eingetreten sei oder einzutreten drohe, sei der Straßenerhalter berechtigt, zur unmittelbaren Gefahrenabwehr eine Maßnahme nach §44b StVO 1960 zu setzen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei Unaufschiebbarkeit iSd §44b StVO 1960 dann anzunehmen, wenn die getroffene Maßnahme ihren Grund in unvorhersehbar eingetretenen Ereignissen (wie Elementarereignisse, unvorhersehbar aufgetretene Straßen- oder Baugebrechen, Brände, Unfälle etc.) habe. Nur in diesen Fällen könnten ausnahmsweise auch Organe der Straßenaufsicht und des Straßenerhalters unter gewissen Voraussetzungen und bei Beachtung eines bestimmten Verfahrens Maßnahmen, die sonst gemäß §43 Abs1 lita StVO 1960 von der Behörde zu treffen wären, ergreifen (vglvergleiche VwSlg 9511 A/1978).
In aller Regel könne nur der Straßenerhalter rechtzeitig auf unvorhersehbare Ereignisse unmittelbar zur Gefahrenabwehr reagieren. Eine Verordnung durch die zuständige Behörde käme in diesen Fällen zu spät.
4.3. Im vorliegenden Fall sei das Erfordernis der Unaufschiebbarkeit, das wiederum auf die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses abstelle, erfüllt gewesen:
Die am 10. Februar 2021 erlassene Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der zusätzliche Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 (Virusvariante B1.351) getroffen werden (COVID-19-Virusvariantenverordnung – COVID-19-VvV), BGBl II 63/2021Bundesgesetzblatt Teil 2, 63 aus 2021,, sei am 12. Februar 2021 in Kraft getreten.
Die Landesverkehrsabteilung der Landespolizeidirektion Tirol habe die ASFINAG ersucht, auf der A 12 Inntal Autobahn, nach der Anschlussstelle Kufstein Nord in Fahrtrichtung Deutschland, eine Kontrollstelle einzurichten, um die Einhaltung der Bestimmungen der COVID-19-VvV kontrollieren zu können. Dafür seien im Bereich der Kontrollstelle die Fahrspurbreiten eingeschränkt und auf dem ersten Fahrstreifen ein Container errichtet worden. Der Verkehr des ersten Fahrstreifens sei im Vorfeld verschwenkt und über den Pannenstreifen geführt worden. Auf Grund von ersten Stauerscheinungen seien zur Verhinderung möglicher Auffahrunfälle am Portal der Verkehrsbeeinflussungsanlage bei Straßenkilometer 2,975 erstmals am 12. Februar 2021, um 10.43 Uhr, die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h reduziert und das allgemeine Gefahrenzeichen mit dem Hinweis "Staugefahr" angezeigt worden. Dies sei deshalb erfolgt, weil die Verkehrsbeeinflussungsanlage auf Grund einer fehlenden Einrichtung zur Erfassung der Verkehrsdaten zwischen dem Portal der Verkehrsbeeinflussungsanlage bei Straßenkilometer 0,953 und jenem bei Straßenkilometer 2,975 diese Stauerscheinungen nicht entsprechend den Grundlagen der Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 3. Jänner 2007, Z BMVIT-138.012/0001-II/ST5/2007, detektieren habe können. In der Folge sei es zu mehreren Anpassungen der Geschwindigkeitsbeschränkungen gekommen.
Die auf österreichischer und auf deutscher Seite in unterschiedlicher Intensität durchgeführten Kontrollen hätten unterschiedliche Stauerscheinungen auf der Hauptfahrbahn der A 12 Inntal Autobahn verursacht. Diese Stauerscheinungen seien auf Grund bisher fehlender Erfahrungswerte für den Straßenerhalter nicht vorhersehbar gewesen und hätten eine unmittelbare Reaktion zur Gefahrenabwehr erfordert. Aus Sicht der ASFINAG sei die Maßnahme iSd §44b StVO 1960 angesichts des unvorhergesehenen Geschehens daher gerechtfertigt gewesen. Dies werde auch durch die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes VfSlg 9310/1981 gestützt, weil die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Tunnelreinigungs- und Erhaltungsarbeiten mit Stauerscheinungen aus Anlass von gesundheitsbezogenen Grenzkontrollen vergleichbar seien: Beide Ereignisse seien unvorhersehbar und würden unmittelbar notwendige verkehrsbeschränkende Maßnahmen zur Gefahrenabwehr erfordern.
4.4. Soweit sich die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes gegen die Dauer der in Prüfung gezogenen Maßnahme richten, sei dem Folgendes zu entgegnen: Die ASFINAG habe keine Vorlaufzeit bei der Einrichtung der Kontrollstelle gehabt und die insgesamt 27 Tage andauernden Grenzkontrollen seien von unterschiedlichen Einflussfaktoren geprägt gewesen. Die nicht prognostizierbare Verkehrslage sowie der Umstand, dass die COVID-19-VvV zweimal kurzfristig verlängert worden sei, hätten dazu geführt, dass immer wieder situationsangepasst und kurzfristig reagiert habe werden müssen. Kurz nach Beginn der Grenzkontrollen sei ein Monitoring aufgesetzt worden, im Zuge dessen versucht worden sei, Abhängigkeiten zwischen Gesamtverkehrsstärke, Lastkraftwagen-Anteil und Geschwindigkeit herzustellen. Die Grenzkontrollen hätten daher – anders als etwa ein Baugebrechen, aus dessen Anlass ein Fahrstreifen zu sperren sei – nicht zu einer konstanten Situation geführt.
Mangels gesicherter Datenlage als Grundlage für ein verkehrstechnisches Gutachten, das für die Durchführung eines Verordnungserlassungsverfahrens durch die zuständige Behörde notwendig gewesen wäre und dessen Erstellung in der Regel etwa vier bis sechs Wochen in Anspruch nehme, habe die ASFINAG als Straßenerhalter auf die Stauerscheinungen kurzfristig mit den erforderlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr reagieren müssen. Die ersten diesbezüglichen Daten seien erst ca. zwei Wochen nach dem Start der Ausreisekontrollen am 25. Februar 2021 vorgelegen.
5. Die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie hat eine Äußerung erstattet, in der den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken Folgendes entgegengehalten wird:
5.1. Die in Prüfung gezogene Geschwindigkeitsbeschränkung sei mittels elektronischer Anzeigevorrichtung (Wechselverkehrszeichen) iSd §48 Abs2 StVO 1960, die technischer Bestandteil der in dem fraglichen Bereich der A 12 Inntal Autobahn errichteten Verkehrsbeeinflussungsanlage sei, kundgemacht worden. Die Anzeige dieser Geschwindigkeitsbeschränkung sei durch "manuelle" Schaltung veranlasst worden.
5.2. Den in §44b Abs1 StVO 1960 beispielhaft aufgezählten Ereignissen sei gemein, dass es sich um unvorhersehbare Ereignisse handle, die zu Störungen im Verkehrsablauf führen bzw eine Gefahr für die Verkehrsteilnehmer bilden könnten. Es sei daher allgemeine Voraussetzung, dass eine konkret zu treffende Maßnahme unaufschiebbar sei, sodass die Erlassung einer Verordnung durch die zuständige Behörde zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde.
5.3. Nach Ansicht der Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie sei klar erkennbar, dass im vorliegenden Fall praktisch sofort mit Beginn der Ausreisekontrollen (in Verbindung mit den zeitgleich stattfindenden Einreisekontrollen in der Bundesrepublik Deutschland) mit starker Staubildung vor dem Grenzübergang Kiefersfelden zu rechnen gewesen sei und es auch tatsächlich zur Bildung solcher Staus gekommen sei.
5.4. Die COVID-19-VvV sei am 10. Februar 2021 kundgemacht worden und am 12. Februar 2021 in Kraft getreten. Es sei weder für die Straßenpolizeibehörden noch für den Straßenerhalter oder die Organe der Landespolizeidirektion rechtzeitig vorhersehbar gewesen, dass innerhalb eines Tages die angeordneten Ausreisekontrollen stattzufinden hätten. Die Folgen der Ausreisekontrollen, nämlich die "massiven Staus", seien sowohl hinsichtlich ihres unerwarteten, kurzfristig nicht zu verhindernden Auftretens als auch hinsichtlich der von ihnen ausgehenden Beeinträchtigung und Gefährdung der Verkehrssicherheit mit den in §44b Abs1 StVO 1960 genannten Beispielfällen vergleichbar. Der Ansicht des Verfassungsgerichtshofes, dass die in Rede stehende Geschwindigkeitsbeschränkung einer gesetzlichen Grundlage entbehre, könne daher nicht gefolgt werden.
5.5. Zur Dauer der in Prüfung gezogenen Geschwindigkeitsbeschränkung wird Folgendes ausgeführt: Dem Gesetzeswortlaut sei weder zu entnehmen, dass Maßnahmen nach §44b StVO 1960 nur für einen im Vorhinein bestimmten Zeitraum gesetzt werden dürften, noch, dass diese Maßnahmen nach einer bestimmten Zeit jedenfalls wieder aufgehoben werden müssten. Der Bestimmung sei insbesondere kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, für welche Zeitspanne eine Maßnahme nach §44b StVO 1960 aufrechterhalten werden dürfe. In diesem Zusammenhang werde darauf hingewiesen, dass sich in der beispielhaften Aufzählung des §44b StVO 1960 durchaus auch Ereignisse fänden, deren Behebung erhebliche Zeit in Anspruch nehmen könne. Ferner sei in Abs2 leg. cit. ausdrücklich angeordnet, dass die gesetzte Maßnahme unverzüglich aufzuheben sei, wenn der Grund dafür weggefallen sei. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass die gesetzte Maßnahme nach einer bestimmten Dauer jedenfalls aufzuheben sei, wäre auch dieser Fall in §44b Abs2 StVO 1960 berücksichtigt worden.
Die Frage, ob die Voraussetzungen nach §44b StVO 1960 im vorliegenden Fall für die gesamte Dauer der angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkung vorgelegen seien, oder ob diese Maßnahme iSd §44b Abs2 StVO 1960 früher hätte aufgehoben werden müssen, könne die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie nicht beantworten.
5.6. Ergänzend werde ausgeführt, dass die in Prüfung gezogene Geschwindigkeitsbeschränkung nicht zwingend als Maßnahme iSd §44b StVO 1960 zu werten sei: Die manuelle Schaltung der Geschwindigkeitsbeschränkung sei durch die ASFINAG über Aufforderung der Landespolizeidirektion Tirol aus Anlass der auf Grundlage der COVID-19-VvV durchzuführenden Personenkontrollen erfolgt. Gemäß §97 Abs5 StVO 1960 seien die Organe der Straßenaufsicht berechtigt, durch deutlich sichtbare oder hörbare Zeichen Fahrzeuglenker zwecks Lenker- oder Fahrzeugkontrolle, zwecks anderer, den Fahrzeuglenker oder eine beförderte Person betreffende Amtshandlungen oder zwecks Durchführung von Verkehrserhebungen (wie Verkehrszählungen und dergleichen) zum Anhalten aufzufordern. Dabei seien die Organe der Straßenaufsicht ua auch berechtigt, die aus Gründen der Verkehrssicherheit allenfalls notwendigen Verkehrsbeschränkungen (zB sogenannte Geschwindigkeitstrichter) anzuordnen und durch Straßenverkehrszeichen kundzumachen. Die Fragen der Unaufschiebbarkeit und Unvorhersehbarkeit würden sich in diesem Zusammenhang nicht stellen.
Nach Ansicht der Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie könnten die Ausreisekontrollen auf Grund der COVID-19-VvV unter die in §97 Abs5 StVO 1960 genannten Amtshandlungen subsumiert werden und seien die Organe der Landespolizeidirektion Tirol somit befugt gewesen, die für die Verkehrssicherheit notwendigen Verkehrsbeschränkungen – und damit auch die verfahrensgegenständliche Geschwindigkeitsbeschränkung – anzuordnen und kundzumachen. Es könne dabei außer Betracht bleiben, dass die Anzeige der Geschwindigkeitsbeschränkung nicht durch ein Organ der Landespolizeidirektion Tirol selbst geschaltet worden sei, sondern auf Grund einer Aufforderung durch die Landespolizeidirektion Tirol durch den Straßenerhalter ASFINAG. Diese Vorgehensweise sei lediglich der Tatsache geschuldet, dass die Landespolizeidirektion Tirol bzw ihre Organe keinen physischen Zugriff auf die Schaltzentrale der ASFINAG, von der aus die Anzeigen der Verkehrsbeeinflussungsanlage gesteuert würden, habe.
6. Die Tiroler Landesregierung hat von der Erstattung einer Äußerung abgesehen.
7. Die im Anlassfall beschwerdeführende Partei hat als beteiligte Partei eine Äußerung erstattet.
II. Rechtslage
1. Die Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der zusätzliche Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 (Virusvariante B1.351) getroffen werden (COVID-19-Virusvariantenverordnung – COVID-19-VvV), BGBl II 63/2021Bundesgesetzblatt Teil 2, 63 aus 2021,, hat folgenden Wortlaut (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):
"Auf Grund des §24 des Epidemiegesetzes 1950, BGBl Nr 186/1950Bundesgesetzblatt Nr 186 aus 1950,, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl I Nr 23/2021Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr 23 aus 2021,, wird verordnet:
Örtlicher Anwendungsbereich
§1. Diese Verordnung gilt für das Bundesland Tirol mit Ausnahme des politischen Bezirks Lienz, der Gemeinde Jungholz sowie des Rißtals im Gemeindegebiet von Vomp und Eben am Achensee.
Anforderungen beim Überschreiten der Grenzen des Epidemiegebietes
§2. Personen, die sich im Gebiet nach §1 aufhalten, dürfen die Grenzen des in §1 umschriebenen Epidemiegebietes nur überschreiten, wenn sie einen Nachweis über ein negatives Ergebnis eines Antigen-Tests auf SARS-CoV-2 oder eines molekularbiologischen Tests auf SARS-CoV-2, deren Abnahme nicht mehr als 48 Stunden zurückliegen darf, mit sich führen. Diese Personen sind verpflichtet, diesen Nachweis bei einer Kontrolle vorzuweisen.
Ausnahmen
§3. §2 gilt nicht für:
1. Kinder bis zum vollendeten zehnten Lebensjahr;
2. die Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib, Leben und Eigentum;
3. Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie Angehörige von Rettungsorganisationen und der Feuerwehr;
4. den Güterverkehr;
5. Transitpassagiere oder die Durchreise durch Tirol ohne Zwischenstopp, die auch bei ausschließlich unerlässlichen Unterbrechungen vorliegt.
Glaubhaftmachung
§4. Im Fall einer behördlichen Überprüfung sind die Ausnahmegründe gemäß §3 glaubhaft zu machen.
Testergebnisse
§5. Als Testergebnisse im Sinne dieser Verordnung sind jene Nachweise zu verstehen, die im Rahmen von Tests durch dazu befugte Stellen erlangt werden.
Inkrafttreten
§6. Diese Verordnung tritt mit 12. Februar 2021 in Kraft und mit Ablauf des 21. Februar 2021 außer Kraft.
[…]"
Der zeitliche Geltungsbereich dieser Verordnung wurde zunächst mit BGBl II 85/2021Bundesgesetzblatt Teil 2, 85 aus 2021, auf 3. März 2021 und in der Folge mit BGBl II 98/2021Bundesgesetzblatt Teil 2, 98 aus 2021, auf 10. März 2021 verlängert.
2. Mit Verordnung der ASFINAG als Straßenerhalter wurde vom 12. Februar 2021 bis 11. März 2021 auf der A 12 Inntal Autobahn im Gemeindegebiet von 6330 Kufstein, bei Straßenkilometer 2,975 in Fahrtrichtung Deutschland, eine temporäre Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h iSd §44b StVO 1960 verfügt. Die Geschwindigkeitsbeschränkung wurde mittels der an diesem Standort befindlichen Verkehrsbeeinflussungsanlage kundgemacht.
3. Die anzuwendenden Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden (Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO 1960), BGBl 159/1960Bundesgesetzblatt 159 aus 1960,, lauten in der jeweils maßgeblichen Fassung wie folgt (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):
"§43. Verkehrsverbote, Verkehrserleichterungen und Hinweise.
(1) Die Behörde hat für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung
a) wenn ein Elementarereignis bereits eingetreten oder nach den örtlich gewonnenen Erfahrungen oder nach sonst erheblichen Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, die zum Schutze der Straßenbenützer oder zur Verkehrsabwicklung erforderlichen Verkehrsverbote oder Verkehrsbeschränkungen zu erlassen;
b) wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert,
1. dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote, insbesondere die Erklärung von Straßen zu Einbahnstraßen, Maß-, Gewichts- oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halte- oder Parkverbote und dergleichen, zu erlassen,
2. den Straßenbenützern ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben, insbesondere bestimmte Gruppen von der Benützung einer Straße oder eines Straßenteiles auszuschließen oder sie auf besonders bezeichnete Straßenteile zu verweisen;
c)–d) […].
(1a) Sofern es sich nicht um Arbeitsfahrten im Sinne des §27 Abs1 handelt, hat die Behörde zur Durchführung von Arbeiten auf oder neben einer Straße, die zwar vorhersehbar sind und entsprechend geplant werden können, bei denen aber die für die Arbeitsdurchführung erforderlichen Verkehrsregelungen örtlich und/oder zeitlich nicht genau vorherbestimmbar sind, durch Verordnung die aus Gründen der Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des Verkehrs oder zur Sicherheit der mit den Arbeiten beschäftigten Personen erforderlichen Verkehrsbeschränkungen, Verkehrsverbote und/oder Verkehrsgebote zu erlassen. In diesen Fällen sind die Organe des Bauführers ermächtigt, nach Maßgabe der Arbeitsdurchführung den örtlichen und zeitlichen Umfang der von der Behörde verordneten Verkehrsmaßnahmen durch die Anbringung oder Sichtbarmachung der betreffenden Straßenverkehrszeichen mit der Wirkung zu bestimmen, als ob der örtliche und zeitliche Umfang von der Behörde bestimmt worden wäre. Der Zeitpunkt und der Ort (Bereich) der Anbringung (Sichtbarmachung) ist von den Organen des Bauführers in einem Aktenvermerk (§16 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 – AVG, BGBl Nr 51/1991Bundesgesetzblatt Nr 51 aus 1991,) festzuhalten.
(2)–(11) […]
[…]
§44b. Unaufschiebbare Verkehrsbeschränkungen
(1) Im Falle der Unaufschiebbarkeit dürfen die Organe der Straßenaufsicht, des Straßenerhalters, der Feuerwehr, des Bundesheeres oder des Gebrechendienstes öffentlicher Versorgungs- oder Entsorgungsunternehmen (zB Gasgebrechendienste) nach Erfordernis eine besondere Verkehrsregelung durch Anweisungen an die Straßenbenützer oder durch Anbringung von Verkehrsampeln oder Signalscheiben veranlassen oder eine der in §43 Abs1 litb Z1 und 2 bezeichneten Maßnahmen durch Anbringung der entsprechenden Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen mit der Wirkung treffen, als ob die Veranlassung oder Maßnahme von der Behörde getroffen worden wäre. Dies gilt insbesondere,
a) wenn ein Elementarereignis bereits eingetreten oder nach den örtlich gewonnenen Erfahrungen oder nach sonst erheblichen Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist,
b) bei unvorhersehbar aufgetretenen Straßen- oder Baugebrechen u. dgl.,
c) bei unvorhersehbar eingetretenen Ereignissen, wie zB Brände, Unfälle, Ordnungsstörungen u. dgl., die besondere Verkehrsverbote oder Verkehrsbeschränkungen oder eine besondere Verkehrsregelung (zB Einbahnverkehr, abwechselnder Gegenverkehr, Umleitungen u. dgl.) erfordern.
(2) Ist der Grund für die Veranlassung oder Maßnahme weggefallen, so hat das nach Abs1 tätig gewordene Organ oder dessen Dienststelle die Veranlassung oder Maßnahme unverzüglich aufzuheben.
(3) Von der Veranlassung oder Maßnahme und von deren Aufhebung ist die Behörde von der Dienststelle des nach Abs1 tätig gewordenen Organs unverzüglich zu verständigen. Die Behörde hat diese Verständigungen in einem Aktenvermerk (§16 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 – AVG, BGBl Nr 51/1991Bundesgesetzblatt Nr 51 aus 1991,) festzuhalten.
(3a) Von der Verpflichtung zur Verständigung der Behörde gemäß Abs3 ausgenommen sind die von den Organen des Straßenerhalters veranlassten Verkehrsbeschränkungen gemäß Abs1. Das nach Abs1 tätig gewordene Organ des Straßenerhalters hat in diesem Fall die Veranlassung oder Maßnahme und deren Aufhebung zu dokumentieren. Die Behörde kann in diese Dokumentation bei dem nach Abs1 tätig gewordenen Organ Einsicht nehmen. Diese Dokumentation ersetzt den von der Behörde gemäß Abs3 anzulegenden Aktenvermerk.
(4) Unbeschadet der Bestimmungen des Abs2 hat die Behörde von der Dienststelle des nach Abs1 tätig gewordenen Organs die Aufhebung der Veranlassung oder Maßnahme zu verlangen, wenn der Grund dafür weggefallen ist oder die Veranlassung oder Maßnahme gesetzwidrig oder sachlich unrichtig ist.
[…]
Behörden und Straßenerhalter.
Zuständigkeit des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie
§94. Behörde im Sinne dieses Bundesgesetzes ist der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie
1. für die Erlassung der ihm in diesem Bundesgesetz ausdrücklich vorbehaltenen Verordnungen,
2. für die Erlassung von Verordnungen, die Autobahnen betreffen, ausgenommen jedoch Verordnungen gemäß §43 Abs1a, und
3. für die Erlassung von Verordnungen, mit denen Bundesstraßen zu Autostraßen oder Vorrangstraßen erklärt werden.
[…]
§94f. Mitwirkung
(1) Vor Erlassung einer Verordnung ist, außer bei Gefahr im Verzuge und bei Verordnungen gemäß §43 Abs1a, die Autobahnen betreffen, anzuhören:
a) von der Landesregierung und von der Bezirksverwaltungsbehörde:
1. die betroffene Gemeinde,
2. wenn sich der Geltungsbereich einer Verordnung auch auf das Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist, erstrecken soll, diese Behörde,
3. wenn Interessen von Mitgliedern einer Berufsgruppe berührt werden, die gesetzliche Interessenvertretung dieser Berufsgruppe;
b) von der Gemeinde (§94c und d)
1. wenn sich der Geltungsbereich einer Verordnung auch auf das Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist, erstrecken soll, diese Behörde,
2. wenn Interessen von Mitgliedern einer Berufsgruppe berührt werden, die gesetzliche Interessenvertretung dieser Berufsgruppe.
(2) Die Landesregierung und die Bezirksverwaltungsbehörde haben, außer bei Gefahr im Verzuge, vor Erlassung eines Bescheides in Angelegenheiten, die das Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist, oder das Gebiet nur einer Gemeinde berühren, die Landespolizeidirektion bzw die Gemeinde anzuhören. Dies gilt jedoch nicht für Strafverfügungen oder Straferkenntnisse wegen Übertretungen nach §99 und für die Anordnung der Teilnahme am Verkehrsunterricht (§101). Die Gemeinde (§94c und d) hat, außer bei Gefahr im Verzuge, vor Erlassung eines Bescheides in Angelegenheiten, die das Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist, berühren, die Landespolizeidirektion anzuhören.
(3) Die Anhörung der Gemeinde nach den Abs1 und 2 hat zu entfallen, wenn die Gemeinde Straßenerhalter ist. In diesem Falle gilt §98 Abs1.
[…]
§97. Organe der Straßenaufsicht
(1)–(2) […]
(3) Bei Gefahr im Verzuge, wie zum Beispiel bei Bränden oder Unfällen, oder in besonderen Ausnahmefällen, wie zum Beispiel bei Straßenbauten, kann die Behörde, wenn es die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs erfordert, außer den Organen der Straßenaufsicht auch andere geeignete Personen mit der Regelung des Verkehrs auf den in Betracht kommenden Straßenteilen vorübergehend betrauen. Sie hat diese Personen nach Möglichkeit mit einer weißen Armbinde kenntlich zu machen und mit einem Ausweis, aus dem diese Betrauung hervorgeht, zu versehen. Wenn es die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs erfordert, kann die Behörde auch Organe eines Straßenbahnunternehmens mit der Regelung des Verkehrs im Bereiche von Straßenbahnhaltestellen betrauen.
(4) Die Organe der Straßenaufsicht sowie die nach Abs3 betrauten Organe sind, wenn es die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs erfordert, berechtigt, einzelnen Straßenbenützern für den Einzelfall Anordnungen für die Benützung der Straße zu erteilen, und zwar auch solche, die von den sonstigen diesbezüglichen Bestimmungen abweichen. Diese Anordnungen dürfen
a) nur gegeben werden, wenn ihre Befolgung ohne Gefährdung von Personen und ohne Beschädigung von Sachen möglich ist,
b) nur befolgt werden, wenn dies ohne Gefährdung von Personen und ohne Beschädigung von Sachen möglich ist.
(5) Die Organe der Straßenaufsicht sind berechtigt, durch deutlich sichtbare oder hörbare Zeichen Fahrzeuglenker zwecks Lenker- oder Fahrzeugkontrolle, zwecks anderer, den Fahrzeuglenker oder eine beförderte Person betreffende Amtshandlungen oder zwecks Durchführung von Verkehrserhebungen (wie Verkehrszählungen u. dgl.) zum Anhalten aufzufordern. Der Fahrzeuglenker hat der Aufforderung Folge zu leisten. Bei solchen Amtshandlungen sind die Organe der Straßenaufsicht auch berechtigt, die aus Gründen der Verkehrssicherheit allenfalls notwendigen Verkehrsbeschränkungen (zB sogenannte Geschwindigkeitstrichter) anzuordnen und durch Straßenverkehrszeichen kundzumachen sowie eine allenfalls notwendige Regelung mit Lichtzeichen vorzunehmen. Art, Zeit und Dauer der angeordneten Verkehrsbeschränkungen sind in einem Aktenvermerk (§16 AVG) festzuhalten.
(5a)–(6) […]
§98. Besondere Rechte und Pflichten des Straßenerhalters
(1)–(2) […]
(3) Der Straßenerhalter darf auch ohne behördlichen Auftrag Einrichtungen zur Regelung und Sicherung des Verkehrs (§31 Abs1) anbringen; dies gilt unbeschadet der Bestimmungen über unaufschiebbare Verkehrsbeschränkungen (§44b), jedoch nicht für die in §44 Abs1 genannten Straßenverkehrszeichen und Bodenmarkierungen. Die Behörde kann ihm jedoch, wenn es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des Verkehrs erfordert, vorschreiben, Einrichtungen zur Regelung und Sicherung des Verkehrs zu entfernen oder an den von ihr zu bestimmenden Stellen anzubringen. Die Entfernung der genannten Einrichtungen kann die Behörde insbesondere verlangen, wenn ihre Anbringung gesetzwidrig oder sachlich unrichtig ist.
(4) […]"
III. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens
Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich das Verordnungsprüfungsverfahren insgesamt als zulässig.
2. In der Sache
Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes konnten im Verordnungsprüfungsverfahren nicht zerstreut werden:
2.1. §44b Abs1 StVO 1960 sieht für den Fall der Unaufschiebbarkeit vor, dass ua Organe des Straßenerhalters nach Erfordernis eine besondere Verkehrsregelung durch Anweisungen an die Straßenbenützer oder durch Anbringung von Verkehrsampeln oder Signalscheiben veranlassen oder eine der in §43 Abs1 litb Z1 und 2 StVO 1960 bezeichneten Maßnahmen durch Anbringung der entsprechenden Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen mit der Wirkung treffen dürfen, als ob die Veranlassung oder Maßnahme von der Behörde getroffen worden wäre.
Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem das Verordnungsprüfungsverfahren einleitenden Beschluss dargelegt hat, sollen durch §44b StVO 1960 Maßnahmen gesetzlich ermöglicht werden, um Beeinträchtigungen des Straßenverkehrs durch Elementarereignisse, im Zusammenhang mit Unfallereignissen oder aber auch infolge dringend zu verrichtender Arbeiten durch die Gebrechendienste öffentlicher Versorgungs- oder Entsorgungsunternehmen vorzubeugen. Nach den Gesetzesmaterialien sind Maßnahmen wegen bereits eingetretener oder zu erwartender Elementarereignisse jedoch primär von der Behörde selbst gemäß §43 Abs1 lita StVO 1960 zu treffen (vglvergleiche die EB zur RV der 3. StVO-Novelle, 879 BlgNR 11. GP, 14), sodass die in §44b StVO 1960 vorgesehenen unaufschiebbaren Verkehrsbeschränkungen grundsätzlich nur eine Ausnahme bilden und auf das unumgänglich notwendige örtliche und zeitliche Ausmaß beschränkt bleiben sollen (vglvergleiche den Bericht des Handelsausschusses über die RV zur 3. StVO-Novelle, 1283 BlgNR 11. GP, 2).
2.2. Der Verfassungsgerichtshof äußerte im Prüfungsbeschluss zunächst das Bedenken, dass die in Prüfung gezogene Verordnung, mit der für letztlich vier Wochen eine Verkehrsbeschränkung festgelegt wurde, einer gesetzlichen Grundlage entbehre, weil die Durchführung von Ausreisekontrollen – auch wenn diese relativ kurzfristig eingeführt werden – nicht mit den in §44b lita bis c StVO 1960 demonstrativ aufgezählten Ereignissen gleichgesetzt werden könne.
2.2.1. Die ASFINAG hält diesem Bedenken in ihrer Äußerung entgegen, dass die auf Grund der COVID-19-VvV notwendig gewordenen Ausreise- bzw Einreisekontrollen nicht vorhersehbar gewesen seien und dass die auf österreichischer und auf deutscher Seite in unterschiedlicher Intensität durchgeführten Kontrollen unterschiedliche Stauerscheinungen verursacht hätten, die eine unmittelbare Reaktion zur Gefahrenabwehr erfordert hätten. Die Maßnahme nach §44b StVO 1960 sei daher gerechtfertigt gewesen. Die Erlassung einer Verordnung nach §43 Abs1 litb StVO 1960 wäre im vorliegenden Fall – im Hinblick auf die nach §94f StVO 1960 zu wahrenden Anhörungsrechte und mangels gesicherter Datengrundlage für ein verkehrstechnisches Gutachten – zu zeitaufwändig gewesen. Die Entscheidung der zuständigen Behörde hätte daher auf Grund der Dringlichkeit des Einschreitens zur Gefahrenabwehr nicht rechtzeitig eingeholt werden können.
2.2.2. Die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie setzt den Bedenken des Verfassungsgerichtshofes im Wesentlichen entgegen, dass die Folgen der auf Grund der COVID-19-VvV durchzuführenden Ausreisekontrollen sowohl hinsichtlich ihres unerwarteten, kurzfristig nicht zu verhindernden Auftretens als auch hinsichtlich der von ihnen ausgehenden Beeinträchtigung und Gefährdung der Verkehrssicherheit mit den in §44b Abs1 StVO 1960 genannten Beispielfällen vergleichbar seien. Es sei allgemeine Voraussetzung einer Maßnahme iSd §44b Abs1 StVO 1960, dass eine konkret zu treffende Maßnahme unaufschiebbar sei, sodass die Erlassung einer Verordnung durch die zuständige Behörde zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde.
Nach Ansicht der Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie könnten die auf Grund der COVID-19-VvV durchgeführten Ausreisekontrollen aber ohnehin (auch) unter die in §97 Abs5 StVO 1960 genannten Amtshandlungen subsumiert werden, sodass die Organe der Landespolizeidirektion Tirol befugt gewesen seien, die für die Verkehrssicherheit notwendigen Verkehrsbeschränkungen – und damit auch die in Rede stehende Geschwindigkeitsbeschränkung – anzuordnen und kundzumachen.
2.2.3. Der Verfassungsgerichtshof vermag diesen Ausführungen schon deshalb nicht zu folgen, weil mit der in Prüfung gezogenen Verordnung für einen Zeitraum von vier Wochen eine Verkehrsbeschränkung festgelegt wurde, in dem der zeitliche Geltungsbereich der – für die Verkehrsbeschränkung ausschlaggebenden – COVID-19-VvV zweimal verlängert wurde. Vor diesem Hintergrund ist von vornherein auszuschließen, dass für die in Prüfung gezogene Verordnung die Voraussetzungen des §44b StVO 1960 vorgelegen sind. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob diese Bestimmung überhaupt eine taugliche Rechtsgrundlage für Maßnahmen im Zusammenhang mit kurzfristig eingeführten Ausreisekontrollen bieten könnte.
Im Verfahren sind keine Anhaltspunkte für die von der Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie ins Treffen geführte Annahme hervorgekommen, dass die in Prüfung gezogene Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Grundlage von §97 Abs5 StVO 1960 angeordnet und kundgemacht worden wäre.
2.3. Da die Verordnung der ASFINAG, mit der vom 12. Februar 2021 bis 11. März 2021 auf der A 12 Inntal Autobahn im Gemeindegebiet von 6330 Kufstein, bei Straßenkilometer 2,975 in Fahrtrichtung Deutschland, eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h iSd §44b StVO 1960 verfügt wurde, bereits aus diesem Grund gesetzwidrig war, ist auf die weiteren im Prüfungsbeschluss erhobenen Bedenken des Verfassungsgerichtshofes nicht mehr einzugehen.
IV. Ergebnis
1. Die Verordnung der ASFINAG, mit der vom 12. Februar 2021 bis 11. März 2021 auf der A 12 Inntal Autobahn im Gemeindegebiet von 6330 Kufstein, bei Straßenkilometer 2,975 in Fahrtrichtung Deutschland, eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h iSd §44b StVO 1960 verfügt wurde, war gesetzwidrig.
2. Die Verpflichtung der Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie zur unverzüglichen Kundmachung der Feststellung der Gesetzwidrigkeit erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B-VG und §59 Abs2 iVmin Verbindung mit §61 Z2 VfGG sowie §4 Abs1 Z4 BGBlG.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:V186.2022Zuletzt aktualisiert am
27.01.2023