TE Vwgh Erkenntnis 2022/9/8 Ra 2021/11/0093

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Veröffentlicht am 08.09.2022
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Index

E6J
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
60/01 Arbeitsvertragsrecht

Norm

ABGB §7
AVRAG 1993 §19 Abs1 Z38
AVRAG 1993 §7i Abs5
B-VG Art7 Abs1
LSD-BG 2016 §26
LSD-BG 2016 §27
LSD-BG 2016 §28
LSD-BG 2016 §29 Abs1
LSD-BG 2016 §72 Abs10
VwRallg
62018CJ0064 Maksimovic VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Hermann-Preschnofsky, über die Revision des I H in Z (S), vertreten durch Mag. Zuzana Nötstaller, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Schottengasse 10, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 1. September 2020, Zl. LVwG-S-2037/007-2018, betreffend Übertretungen des AVRAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha), zu Recht erkannt:

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Schuldsprüche des angefochtenen Erkenntnisses richtet, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen, also im Umfang der Strafaussprüche und des Ausspruchs über den Beitrag zu den Verfahrenskosten, wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Revisionswerber - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29. Juli 2020 - als verwaltungsstrafrechtlich Verantwortlicher eines näher angeführten Unternehmens mit Sitz in der Slowakei, in teilweiser Bestätigung und teilweiser Abänderung eines Straferkenntnisses der belangten Behörde vom 24. Juli 2018, infolge der ihm angelasteten Unterentlohnung von fünf namentlich genannten Arbeitnehmern jeweils einer Übertretung des § 7i Abs. 5 Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG) schuldig erkannt, weswegen über ihn jeweils - also pro Arbeitnehmer - eine (vom Verwaltungsgericht herabgesetzte) Geldstrafe und jeweils eine (vom Verwaltungsgericht ebenfalls herabgesetzte) Ersatzfreiheitsstrafe verhängt wurden. Zusätzlich wurde der Revisionswerber zur Zahlung eines Beitrages zu den Kosten des behördlichen Strafverfahrens (10 % der Geldstrafen gemäß § 64 VStG) verpflichtet. Das Verwaltungsgericht sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

2        Mit Beschluss vom 21. September 2021 berichtigte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich das angefochtene Erkenntnis betreffend den Hinweis auf die vom Revisionswerber zu entrichtende „Gesamtsumme“ (Summe der Geldstrafen zuzüglich Verfahrenskostenbeitrag).

3        Im Übrigen wird zur näheren Vorgeschichte auf das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2020, Ra 2019/11/0183, verwiesen, mit dem das in der vorliegenden Angelegenheit im ersten Rechtsgang ergangene Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 30. August 2019 wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben worden war, weil das Verwaltungsgericht zu Unrecht vom Nichtvorliegen eines Rechtfertigungsgrundes für das Nichterscheinen des Revisionswerbers zur mündlichen Verhandlung am 28. August 2019 ausgegangen war und diese Verhandlung rechtswidriger Weise in Abwesenheit des Revisionswerbers durchgeführt hatte.

4        Mit Beschluss vom 25. Februar 2021, E 3572/2020-7, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen das angefochtene Erkenntnis vom 1. September 2020 erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 13. April 2021, E 3572/2020-9, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

5        Die vorliegende außerordentliche Revision macht in ihrer Zulässigkeitsbegründung geltend, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Frage, inwieweit das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 12. September 2019, Maksimovic u.a., C-64/18 u.a., bei Verwaltungsdelikten nach § 7i Abs. 5 AVRAG sowie in Anbetracht des § 29 LSD-BG Anwendung zu finden habe.

6        Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

I. Zu den Schuldsprüchen:

7        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

9        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof ausschließlich im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

10       Betreffend die Schuldsprüche des angefochtenen Erkenntnisses enthält die Zulässigkeitsbegründung der Revision kein konkretes Vorbringen, weshalb diese, was die Schuldsprüche des angefochtenen Erkenntnisses anbelangt, keine Rechtsfragen aufwirft, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher insoweit zurückzuweisen.

II. Zu den verhängten Strafen und zur Vorschreibung des Kostenbeitrages:

11       Was die Absprüche über die Strafen und die Verfahrenskosten betrifft, erweist sich die Revision hingegen schon deswegen als zulässig und begründet, weil sie sich gegen die „kumulative“ Bestrafung pro Arbeitnehmer wendet und das angefochtene Erkenntnis insoweit von der zu § 7i Abs. 5 AVRAG ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, vgl. VwGH 12.10.2021, Ra 2019/11/0015 und 0016, abweicht.

12       Wie der Verwaltungsgerichtshof in dem zitierten hg. Erkenntnis, auf dessen Begründung zwecks Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, ausführte, traten die durch die Novelle BGBl. I Nr. 174/2021 geänderten Strafbestimmungen der §§ 26 bis 28 und § 29 Abs. 1 LSD-BG mit 1. September 2021 in Kraft und sind gemäß dem eindeutigen Wortlaut des § 72 Abs. 10 letzter Satz LSD-BG auf alle in diesem Zeitpunkt anhängigen Verfahren einschließlich von Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof und dem Verfassungsgerichtshof anzuwenden. Für den Verwaltungsgerichtshof folgt aus dieser Anordnung, dass er in bei ihm anhängigen Revisionsverfahren sämtliche angefochtenen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte in Verwaltungsstrafsaschen nach dem LSD-BG, also unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Erlassung, am Maßstab der §§ 26 bis 28 und § 29 Abs. 1 LSD-BG in der Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 174/2021 zu prüfen hat. Eine ausdrückliche Änderung der das Lohn- und Sozialdumping betreffenden Strafbestimmungen des AVRAG, welche im Revisionsfall gemäß seinem § 19 Abs. 1 Z 38 weiterhin zur Anwendung gelangen, ist durch die Novelle BGBl. I Nr. 174/2021 allerdings nicht erfolgt (vgl. Art. 3 dieser Novelle).

13       Der Verwaltungsgerichtshof geht daher davon aus, dass die Nichtaufnahme einer Änderung der die Unterentlohnung sanktionierenden Strafnorm des § 7i Abs. 5 AVRAG in der Novelle BGBl. I Nr. 174/2021 eine durch Analogie zu schließende echte (planwidrige) Lücke bewirkt hat. Diese Lücke ist dahingehend zu schließen, dass unabhängig von der Anzahl der von der Unterentlohnung betroffenen Arbeitnehmer eine einzige Übertretung vorliegt, für die - ohne Anwendung einer Mindeststrafe - eine einzige Strafe zu verhängen ist. Dies gilt in allen anhängigen Verfahren und daher auch in solchen vor dem Verwaltungsgerichtshof.

14       An der zuvor dargestellten Rechtslage gemessen erweist sich das angefochtene Erkenntnis schon deswegen als rechtswidrig, weil über den Revisionswerber für die Unterentlohnung von fünf Arbeitnehmern jeweils fünf (einzelne) Geld- und Ersatzfreiheitsstrafen verhängt wurden.

15       Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Strafaussprüche (jeweils Geld- und damit verbundene Ersatzfreiheitsstrafen) und des daran anknüpfenden Kostenausspruches gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 8. September 2022

Gerichtsentscheidung

EuGH 62018CJ0064 Maksimovic VORAB

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Analogie Schließung von Gesetzeslücken VwRallg3/2/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021110093.L00

Im RIS seit

06.10.2022

Zuletzt aktualisiert am

06.10.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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