TE Lvwg Erkenntnis 2022/3/22 VGW-152/065/13040/2021

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Veröffentlicht am 22.03.2022
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Entscheidungsdatum

22.03.2022

Index

40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Staatsbürgerschaft

Norm

AVG §69 Abs1
StbG 1985 §10 Abs1 Z6

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

gekürzte Ausfertigung

gemäß § 29 Abs. 5 VwGVG

Das Verwaltungsgericht Wien hat durch die Richterin Mag. Eidlitz über die Beschwerde der Frau A. B., geb. am …1997, Staatsbürgerschaft: staatenlos, vertreten durch Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Amtes der Wiener Landesregierung, Magistratsabteilung 35, vom 25.06.2021, Zl. ..., mit welchem 1. das abgeschlossene Staatsbürgerschaftsverfahren gemäß § 69 Abs. 3 AVG wieder aufgenommen und 2. der Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 StbG abgewiesen wurde, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 03.03.2022,

zu Recht erkannt und verkündet:

I. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG wird der Beschwerde stattgegeben, und der angefochtene Bescheid behoben.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Festgestellter Sachverhalt:

Der Beschwerdeführerin wurde mit Zusicherungsbescheid vom 10.06.2020, zugestellt am 15.06.2020, die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall zugesichert, dass sie binnen zwei Jahren den Nachweis über ihr Ausscheiden aus dem Staatsverband von Bosnien und Herzegowina nachweist.

Am 05.03.2021, somit binnen der Zweijahresfrist, legte die Beschwerdeführerin bei der belangten Behörde ihre Entlassungsurkunde aus dem Staatsverband von Bosnien und Herzegowina (Bescheid des Ministeriums für Zivilangelegenheiten Bosnien-Herzegowinas vom 12.01.2021) vor.

Die belangte Behörde führte das Verleihungsverfahren fort und holte diverse behördlichen Abfragen ein. Dabei sind zu den der belangten Behörde drei bekannten Vormerkungen (siehe die Punkte 1. bis 3. in der Begründung des angefochtenen Bescheides) zwei weitere der belangten Behörde „nicht bekannten“ Vormerkungen (siehe die Punkte 4. und 5. in der Begründung des angefochtenen Bescheides) hervorgekommen. Alle Vormerkungen sind bereits im Zeitpunkt der Zusicherung vorgelegen. Bei den Punkten 1. und 2. handelt es sich um einen Vorfall am 17.12.2017; die Beschwerdeführerin wurde mit Strafverfügung vom 15.11.2017 wegen Übertretung des § 11 Abs. 1 StVO („Änderung der Fahrtrichtung“) zu einer Geldstrafe in der Höhe von 140 Euro sowie wegen Übertretung des § 18 Abs. 1 StVO („Nichteinhaltung des Sicherheitsabstandes zum Vordermann“) zu einer Geldstrafe in der Höhe von 120 Euro rechtskräftig bestraft. Beim Punkt 3. handelt es sich um einen Vorfall am 22.03.2019; die Beschwerdeführerin wurde mit Strafverfügung vom 02.04.2019 wegen § 102 Abs. 3 5. Satz KFG („Telefonieren während der Fahrt ohne Benützung einer Freisprecheinrichtung“) zu einer Geldstrafe in der Höhe von 72 Euro rechtkräftig bestraft. Beim Punkt 4. handelt es sich um einen Vorfall am 18.02.2020; die Beschwerdeführerin wurde wegen Übertretung des § 9 Abs. 1 StVO („Überfahren der Sperrlinie“) mit Strafverfügung vom 18.02.2020 zu einer Geldstrafe in der Höhe von 100 Euro rechtskräftig bestraft. Beim Punkt 5. handelt es sich schließlich um einen Vorfall am 04.04.2020; die Beschwerdeführerin wurde wegen Übertretung des COVID-19-Maßnahmegesetzes („Nichteinhaltung des Mindestabstandes von einem Meter“ zur vier haushaltsfremden Personen bei einem Spaziergang am Erholungsgebiet ...) mit Strafverfügung vom 21.04.2020 zu einer Geldstrafe in der Höhe von 500 Euro rechtskräftig bestraft. Bei den Übertretungen Punkt 1. und 2. handelt es sich um denselben Lebenssachverhalt und lediglich ein in Verbindung stehendes Fehlverhalten, das gleichzeitig zwei Verwaltungsübertretungstatbestände verwirklicht. Bei den Delikten Punkt 1. bis 4. handelt es sich um Fahrlässigkeitsdelikte im Straßenverkehr, das Wohlverhalten zwischen dem Vorfall am 17.12.2017 und dem Vorfall am 22.03.2019 betrug 15 Monate, bis zur 4. Verwaltungsübertretung vergingen weitere 11 Monate. Maßgeblich ist, dass es sich bei diesen Rechtsbrüchen weder einzeln noch im Zusammenhalt um solche Rechtsbrüche handelt, die den Schluss rechtfertigen, die Beschwerdeführerin werde auch in Zukunft wesentliche, zum Schutz vor Gefahren für das Leben, die Gesundheit, die Sicherheit, die öffentliche Ordnung erlassene Vorschriften missachten. Hinsichtlich der Übertretung des COVID-19-Schutzmaßnahmegesetzes ist festzuhalten, dass die zur Tatzeit in Geltung stehende diesbezügliche Vorschrift wegen Verfassungswidrigkeit vom VfGH aufgehoben wurde.

Die zwei (der belangten Behörde unbekannten) Verwaltungsübertretungen im Zusammenschau mit den bereits der belangten Behörde bekannten Verwaltungsübertretungen rechtfertigt nach Ansicht des erkennenden Verwaltungsgerichtes im Ergebnis keine derartige Gefährdungsannahme, welche eine Annahme des Vorliegens des Verleihungshindernisses nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG und damit die Ablehnung des Antrages auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft hätte erwarten lassen.

Rechtliche Beurteilung:

Eine Wahrnehmung von Ermessensgesichtspunkten zum Nachteil des Einbürgerungswerbers oder ein Aufgreifen schon im Zeitpunkt der Zusicherung vorgelegener (anderer) Verleihungshindernisse ist nach rechtskräftiger Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft nicht mehr ohne Wiederaufnahme möglich (Martin Kind / Kommentar StbG 1985 / § 20 RZ 23).

Daher ist in solchen Fällen grundsätzlich richtig mit einer Wiederaufnahme des Verleihungsverfahrens nach § 69 AVG vorzugehen.

Die belangte Behörde nahm einen Wiederaufnahmegrund nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG an.

Der Wiederaufnahmegrund nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG liegt vor, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruchs anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätten.

Die Behörde kann wegen des Hervorkommens neuer Tatsachen oder Beweismittel aber nur dann von Amts wegen die Wiederaufnahme verfügen, wenn sie an der „Nichtberücksichtigung“ im wiederaufzunehmenden Verfahren kein Verschulden (wie etwa im Ermittlungsverfahren unterlaufene Fehler) trifft (vgl. Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht 10. Auflage, 599).

Eine amtswegige Wiederaufnahme nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG setzt daher voraus, dass die Behörde an der „Nichtberücksichtigung“ im wiederaufzunehmenden Verfahren kein Verschulden trifft.

Die belangte Behörde räumt ein, dass ihr hinsichtlich der Nichtberücksichtigung der Vormerkung beim Magistrat der Stadt Wien, MBA ... (siehe Punkt 5. in der Begründung des angefochtenen Bescheides) aufgrund der magistratsinternen Abfragemöglichkeit ein Verschulden zukommt.

Hingegen bei der Vormerkung vor der LPD Wien (siehe Punkt 4. in der Begründung des angefochtenen Bescheides) verneint die belangte Behörde ein „Verschulden“ ihrerseits und begründet dies damit, dass die letzte Abfrage bei der LPD Wien lediglich 5 ½ Monate alt gewesen sei, eine weitere Abfrage hätte 4 ½ Monate Bearbeitungsdauer in Anspruch genommen, weshalb sie unterblieb.

Diesem Argument kann das erkennende Verwaltungsgericht nicht folgen. Die in der Praxis bekannte lange Bearbeitungsdauer der Abfragen bei den Landespolizeidirektionen durch die belangte Behörde stellen ein „Organisationsproblem“ zwar dar, dürfen aber nicht soweit führen, dass eine Wiederaufnahme des Verleihungsverfahrens damit gerechtfertigt werden kann. Vielmehr hätte die belangte Behörde auch andere Möglichkeiten der Überprüfung der hier gegenständlichen Verleihungsvoraussetzung zur Verfügung gehabt, beispielsweise hätte die belangte Behörde die Beschwerdeführerin im Rahmen einer Niederschrift befragen können (oder pandemiebedingt im Rahmen einer aufgetragenen schriftlichen Erklärung zur Stellungnahme ersuchen können), ob seit der zuletzt der belangten Behörde bekannten Vormerkungen neue dazu gekommen sind. Dies ist aber nicht geschehen. Im Falle einer wahrheitswidrigen Angabe der Beschwerdeführerin wäre ein Wiederaufnahmegrund nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG zu prüfen gewesen und wäre die Wiederaufnahme nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG „erfolgsversprechender“ gewesen. Die Nichtberücksichtigung der für die belangte Behörde unbekannten Vormerkungen beruht daher auf ein (Organisations)Verschulden der belangten Behörde, welches von ihr zu vertreten ist.

Die Verfügung der Wiederaufnahme des Verleihungsverfahrens auf Grundlage des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG ist daher zu Unrecht erfolgt.

Selbst wenn die Verfügung der Wiederaufnahme des Verleihungsverfahrens nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG zulässig gewesen wäre, hätte in Folge eine weitere Voraussetzung – wie in Folge ausgeführt – hintreten müssen:

Die Wiederaufnahme des Verfahrens setzt u.a. die Eignung der neuen Tatsachen oder Beweismittel voraus, dass diese allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anderslautendes Ergebnis herbeigeführt hätten. Ob diese Eignung vorliegt, ist eine Rechtsfrage, die im Wiederaufnahmeverfahren zu beantworten ist; ob tatsächlich ein anderes Ergebnis des Verfahrens zustande kommt, ist sodann eine Frage, die im wiederaufgenommenen Verfahren zu klären ist (vgl. VwGH vom 19. April 2007, 2004/09/0159).

Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts wäre auch in Kenntnis der beiden unberücksichtigt gebliebenen Vormerkungen vor der Zusicherung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft ein Verleihungshindernis nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG nicht vorgelegen, da bei der Vormerkung wegen der Übertretung des § 9 Abs. 1 StVO (Überfahren der Sperrlinie am 18.02.2020 auf der C.-Straße ggü. ON ...) keine schwerwiegende Gefährdung des Straßenverkehrs zur Folge hatte, bei der Vormerkung wegen Übertretung des COVID-19-Maßnahmegesetzes am 21.04.2020 kommt hinzu, dass die Rechtsgrundlage für diese Bestrafung in Folge vom VfGH als verfassungswidrig aufgehoben wurde.

Die Revision war nicht zuzulassen, da gegenständlich keine ungeklärten Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen waren.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Staatsbürgerschaft; Verleihungshindernis; Zusicherung; Wiederaufnhame; Nichtberücksichtigung von Vormerkungen; Organisationsverschulden

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2022:VGW.152.065.13040.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.05.2022
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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