TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/17 Ra 2020/08/0190

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.02.2022
beobachten
merken

Index

40/01 Verwaltungsverfahren
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

AlVG 1977 §10
AlVG 1977 §10 Abs1
AlVG 1977 §10 Abs1 Z1
AlVG 1977 §24 Abs1
AlVG 1977 §38
AlVG 1977 §7
AlVG 1977 §7 Abs2
AlVG 1977 §8
AlVG 1977 §8 Abs1
AlVG 1977 §8 Abs2
AlVG 1977 §9
AlVG 1977 §9 Abs1
ASVG §255
ASVG §273
AVG §37
AVG §45 Abs3
AVG §46
AVG §52
VwGVG 2014 §28 Abs2

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie die Hofräte Mag. Stickler, Mag. Cede und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision des Arbeitsmarktservice St. Pölten in 3100 St. Pölten, Daniel Gran-Straße 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. November 2020, W164 2173466-2/15E, betreffend Verlust der Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: C R in F), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Von der revisionswerbenden regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) wurde mit Bescheid vom 4. Juli 2017 ausgesprochen, der Mitbeteiligte habe gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von 14. Juni 2017 bis 25. Juli 2017 verloren. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 20. September 2017 änderte das AMS den Ausgangsbescheid dahingehend ab, dass der Mitbeteiligte den Anspruch auf Notstandshilfe von 14. Juni 2017 bis 8. August 2017 verloren habe.

2        Begründend führte das AMS aus, der - nach den (insoweit maßgeblichen) Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt - arbeitsfähige Mitbeteiligte sei zu einer vollversicherten Beschäftigung in einem Sozialökonomischen Betrieb zugewiesen worden. Er habe das Zustandekommen der Beschäftigung vereitelt, indem er zu einem für den 14. Juni 2017 angesetzten Vorstellungsgespräch nicht erschienen sei. Der Mitbeteiligte habe sich zur Begründung auf eine Erkrankung berufen. Es sei jedoch nach den Umständen des Falles davon auszugehen, dass er nicht tatsächlich erkrankt gewesen sei, sondern dies lediglich vorgeschoben habe. Der Mitbeteiligte habe sich bereits achtmal mit der Behauptung, krank zu sein, für konkrete Beschäftigungsangebote bzw. Wiedereingliederungsmaßnahmen entschuldigt. Darauf angesprochen habe der Mitbeteiligte gegenüber einer Betreuerin des AMS am 29. Juni 2017 geäußert, dass er „das so machen müsse“, weil ihm sonst „das Geld“ gesperrt würde. Es sei davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte sich der Verpflichtung, sich vermitteln zu lassen, dadurch entziehe, dass er sich „krankschreiben“ lasse.

3        Zur Vorgeschichte wird im Übrigen auf das hg. Erkenntnis vom 6. Mai 2020, Ra 2019/08/0114, verwiesen, mit dem das im ersten Rechtsgang - nach einem Vorlageantrag des Mitbeteiligten - ergangene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben wurde.

4        Mit dem - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen - nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten Folge und hob die Beschwerdevorentscheidung des AMS vom 20. September 2017 ersatzlos auf. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, der Mitbeteiligte leide an einer Persönlichkeitsstörung sowie einer Somatisierungsstörung, die immer dann „schlagend“ werde, wenn von ihm „als unangenehm empfundene Verpflichtungen“ bevorstünden. Das AMS habe dem Mitbeteiligten eine Zuweisung zu einem Beschäftigungsprojekt am zweiten Arbeitsmarkt übermittelt und ihn aufgefordert, dazu am 14. Juni 2017 zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Bei diesem Projekt sei eine freie Stelle für den Mitbeteiligten vorhanden gewesen. Der Mitbeteiligte habe sich „vor der Verpflichtung, wieder täglich früh aufzustehen und eine geregelte Arbeitszeit einhalten zu müssen“, gesehen. Er habe sich nicht in der Lage gefühlt, „dieser Verpflichtung“ nachzukommen. Am 13. Juni 2017, dem Tag vor dem Vorstellungsgespräch, habe der Mitbeteiligte Durchfall gehabt und „ließ sich von seiner Hausärztin krankschreiben“.

6        Im Zuge seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, eine Vereitelung im Sinn von § 10 Abs. 1 AlVG setze voraus, dass ein Verhalten eines Vermittelten für das Nichtzustandekommen eines zumutbaren Beschäftigungsverhältnisses ursächlich geworden sei. Sei dies zu bejahen, müsse geprüft werden, ob der Vermittelte vorsätzlich gehandelt habe, wobei bedingter Vorsatz genüge. Ein bloß fahrlässiges Handeln reiche zur Verwirklichung des Tatbestandes hingegen nicht. Der Mitbeteiligte sei arbeitsfähig und die konkrete Stelle, zu der der Mitbeteiligte vom AMS zugewiesen worden sei, auch zumutbar gewesen. Das Verhalten des Mitbeteiligten, nicht zum Vorstellungsgespräch am 14. Juni 2017 zu erscheinen, sei kausal für das Nichtzustandekommen der zugewiesenen Beschäftigung geworden. Der Mitbeteiligte sei auch nicht durch „eine akute körperliche Erkrankung“ an der Teilnahme am Vorstellungsgespräch gehindert gewesen, sondern wäre dazu „körperlich in der Lage“ gewesen. Ein (bedingt) vorsätzliches Handeln des Mitbeteiligten liege aber nicht vor. Der Mitbeteiligte habe sich nämlich „infolge seiner Persönlichkeitsstörung subjektiv“ der Herausforderung, „ein Vorstellungsgespräch führen und nachfolgend in den angebotenen Arbeitsalltag einsteigen zu müssen“, nicht gewachsen gesehen. Diese „Herausforderung“ habe ihm bereits im zeitlichen Vorfeld „psychosomatische Beschwerden“ bereitet. Es sei nicht festzustellen gewesen, dass der Mitbeteiligte bewusst durch unrichtige Angaben gegenüber seiner Hausärztin eine „nicht vorliegende Erkrankung“ vorgeschoben habe.

7        Über die außerordentliche Revision des AMS hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:

8        Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision zusammengefasst vor, das Bundesverwaltungsgericht habe seine Annahme, die Vereitelung des Zustandekommens des Beschäftigungsverhältnisses durch den Mitbeteiligten sei nicht (bedingt) vorsätzlich erfolgt, nicht nachvollziehbar begründet. Es sei insoweit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

9        Die Revision ist zulässig und berechtigt.

10       Anspruch auf Arbeitslosengeld hat gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AlVG nur, wer der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Nach § 7 Abs. 2 AlVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf, arbeitsfähig, arbeitswillig und arbeitslos ist. Arbeitsfähig ist nach § 8 Abs. 1 AlVG, wer nicht invalid und nicht berufsunfähig im Sinne des ASVG ist. Arbeitswillig ist gemäß § 9 Abs. 1 AlVG, wer (unter anderem) bereit ist, eine durch die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen.

11       Nach § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG verliert eine arbeitslose Person, die sich weigert, eine ihr von der regionalen Geschäftsstelle zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen, oder die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, für die Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs Wochen - bzw. unter näher umschriebenen Voraussetzungen acht Wochen - den Anspruch auf Arbeitslosengeld.

12       Gemäß § 38 AlVG sind die Bestimmungen für die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.

13       § 7 Abs. 1 Z 1 AlVG, § 8 Abs. 1 AlVG, § 9 Abs. 1 AlVG und § 10 Abs. 1 AlVG sind Ausdruck des dem gesamten Arbeitslosenversicherungsrecht zu Grunde liegenden Gesetzeszweckes, den arbeitslos gewordenen Versicherten, der trotz Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses keine Beschäftigung gefunden hat, möglichst wieder durch Vermittlung in eine ihm zumutbare Beschäftigung einzugliedern und ihn so in die Lage zu versetzen, seinen Lebensunterhalt ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel zu bestreiten (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 25.6.2021, Ra 2020/08/0169, mwN).

14       Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, der Mitbeteiligte habe sich vor dem Hintergrund der vom AMS angebotenen Beschäftigung bzw. des angesetzten Vorstellungsgespräches nicht in der Lage erachtet, „wieder täglich früh aufzustehen und eine geregelte Arbeitszeit einhalten zu müssen“. Im Zuge seiner rechtlichen Beurteilung ergänzte das Bundesverwaltungsgericht, der Mitbeteiligte habe sich „infolge seiner Persönlichkeitsstörung subjektiv“ der Herausforderung, „ein Vorstellungsgespräch führen und nachfolgend in den angebotenen Arbeitsalltag einsteigen zu müssen“, nicht gewachsen gesehen.

15       Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzuhalten, dass Voraussetzung für die Verhängung einer Sanktion gemäß § 10 AlVG ist, dass die arbeitslose Person überhaupt verfügbar nach § 7 AlVG - somit insbesondere arbeitsfähig und arbeitswillig - ist. Eine Sanktion nach § 10 AlVG darf also vom AMS nicht verhängt werden, wenn (schon) die Verfügbarkeit nicht gegeben ist. Kommt das Bundesverwaltungsgericht in einem Verfahren, dessen Sache ein Anspruchsverlust nach § 10 AlVG ist, zum Schluss, dass die Sanktion mangels Verfügbarkeit zu Unrecht verhängt wurde, muss es den bei ihm angefochtenen, den Anspruchsverlust nach § 10 AlVG aussprechenden Bescheid daher (schon aus diesem Grund) ersatzlos beheben (vgl. VwGH 26.1.2010, 2008/08/0051; 19.9.2007, 2006/08/0324, mwN).

16       Im Sinn des § 8 Abs. 2 AlVG ist das AMS verpflichtet, die Arbeitsfähigkeit eines Arbeitslosen, soweit daran Zweifel bestehen, von Amts wegen - in der Regel durch die Einholung eines Gutachtens - zu prüfen (vgl. VwGH 11.2.2021, Ra 2019/08/0172, mwN). Die Untersuchung der Arbeitsfähigkeit hat nach § 8 Abs. 2 zweiter Satz AlVG an einer vom Kompetenzzentrum Begutachtung der Pensionsversicherungsanstalt festgelegten Stelle stattzufinden.

17       Bei einer Person, die aufgrund einer herabgesetzten körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit in Folge einer Erkrankung - insbesondere auch einer psychischen Störung - nicht in der Lage wäre, „eine geregelte Arbeitszeit“ einzuhalten, „ein Vorstellungsgespräch zu führen“ und überhaupt in einen „Arbeitsalltag einzusteigen“, wäre von Invalidität (§ 255 ASVG) bzw. Berufsunfähigkeit (§ 273 ASVG) und damit von fehlender Arbeitsfähigkeit nach § 8 Abs. 1 AlVG auszugehen. Davon, dass der Mitbeteiligte tatsächlich nicht arbeitsfähig in diesem Sinn gewesen wäre bzw. insofern Zweifel bestanden hätten, ist das Bundesverwaltungsgericht allerdings nicht ausgegangen. Das Bundesverwaltungsgericht hat nämlich zwar ausgeführt, dass der Mitbeteiligte sich mit Blick auf die angebotene Beschäftigung „subjektiv“ nicht der Lage gefühlt habe, insbesondere eine „geregelte Arbeitszeit“ einzuhalten bzw. in den „angebotenen Arbeitsalltag“ einzusteigen. Es hat aber auch ausdrücklich - wenngleich erst disloziert im Zuge der rechtlichen Beurteilung - festgestellt, dass der Mitbeteiligte ungeachtet seiner Leidenszustände tatsächlich arbeitsfähig gewesen sei. Dazu konnte sich das Bundesverwaltungsgericht - wie bereits das AMS - auf vom Kompetenzzentrum Begutachtung der Pensionsversicherungsanstalt erstellte Gutachten aus den Fachgebieten der Neurologie und Psychiatrie sowie der Allgemeinmedizin samt einem zusammenfassenden Gutachten stützen, wonach die Leistungsfähigkeit des Mitbeteiligten krankheitsbedingt wohl herabgesetzt, Arbeitsfähigkeit aber gegeben sei.

18       Arbeitswilligkeit nach § 9 Abs. 1 AlVG läge dann nicht vor, wenn ein Arbeitsloser generell die Annahme einer zumutbaren, die Arbeitslosigkeit ausschließenden Beschäftigung ablehnt. Fehlt in diesem Sinn die Arbeitswilligkeit und damit die Verfügbarkeit nach § 7 Abs. 2 AlVG, müsste dies zur Einstellung des Bezuges gemäß § 24 Abs. 1 AlVG durch das AMS führen. Wenn eine im Bezug von Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe stehende arbeitslose Person dagegen (lediglich) eine zumutbare Beschäftigung im Sinn des § 9 Abs. 1 AlVG nicht annimmt bzw. die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, so hat dies gemäß § 10 Abs. 1 AlVG (in Hinblick auf die Notstandshilfe iVm. § 38 AlVG) den temporären Verlust des Arbeitslosengeldes bzw. der Notstandshilfe zur Folge (vgl. näher VwGH 25.6.2021, Ra 2020/08/0169, mwN).

19       Eine (generelle) Arbeitsunwilligkeit nach § 9 Abs. 1 AlVG, die die Verfügbarkeit ausschließt, könnte sich auch daraus ergeben, dass eine arbeitslose Person sich trotz Vorliegens eines Gutachtens, nach dem Arbeitsfähigkeit im Sinn des § 8 Abs. 1 AlVG besteht, weigert, zumutbare Beschäftigungen anzunehmen. Voraussetzung der Annahme der generellen Arbeitsunwilligkeit ist es in diesem Fall nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes allerdings, dass das AMS ein solches Gutachten der arbeitslosen Person vorhält und sie dabei unter ausführlicher Rechtsbelehrung zur Äußerung auffordert, ob sie bereit ist, eine dem Gutachten entsprechende und ihr nach § 9 AlVG zumutbare Beschäftigung anzunehmen. Im Fall einer ablehnenden Stellungnahme trotz der genannten Vorhalte ist die Behörde berechtigt, Arbeitsunwilligkeit anzunehmen (vgl. VwGH 11.2.2021, Ra 2019/08/0172, mwN).

20       Dass der Mitbeteiligte im dargestellten (nachdrücklichen) Sinn - trotz der festgestellten Arbeitsfähigkeit - Erklärungen abgegeben bzw. Verhaltensweisen gesetzt hätte, die einen Schluss auf eine (generell) fehlende Arbeitswilligkeit zugelassen hätten, hat das Bundesverwaltungsgericht nicht festgestellt. Nach dem Akt des AMS wurde dem Mitbeteiligten die nach den Untersuchungsergebnissen des Kompetenzzentrums Begutachtung der Pensionsversicherungsanstalt gegebene Arbeitsfähigkeit vorgehalten. Dass der Mitbeteiligte sich dennoch geweigert hätte, sich vermitteln zu lassen bzw. zumutbare Beschäftigungen anzunehmen, ist dem Akt nicht zu entnehmen. Davon ausgehend war (neben der Arbeitsfähigkeit) auch (generelle) Arbeitswilligkeit nach § 9 Abs. 1 AlVG und damit Verfügbarkeit des Mitbeteiligten anzunehmen, sodass das AMS zu Recht die Notstandshilfe nicht nach § 24 Abs. 1 AlVG eingestellt, sondern versucht hat, den Mitbeteiligten zu vermitteln. Damit ist der Anwendungsbereich des § 10 Abs. 1 AlVG eröffnet.

21       Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 10 Abs. 1 AlVG, dass es, um sich in Bezug auf eine von der regionalen Geschäftsstelle des AMS vermittelte zumutbare Beschäftigung arbeitswillig zu zeigen, grundsätzlich einerseits eines auf die Erlangung dieses Arbeitsplatzes ausgerichteten, unverzüglich zu entfaltenden aktiven Handelns der bzw. des Arbeitslosen und andererseits auch der Unterlassung jedes Verhaltens, welches objektiv geeignet ist, das Zustandekommen des konkret angebotenen Beschäftigungsverhältnisses zu verhindern, bedarf. Das Nichtzustandekommen eines die Arbeitslosigkeit beendenden zumutbaren Beschäftigungsverhältnisses kann vom Arbeitslosen - abgesehen vom Fall der ausdrücklichen Weigerung, eine angebotene Beschäftigung anzunehmen - somit auf zwei Wegen verschuldet, die Annahme der Beschäftigung also auf zwei Wegen vereitelt werden: Nämlich dadurch, dass der Arbeitslose ein auf die Erlangung des Arbeitsplatzes ausgerichtetes Handeln erst gar nicht entfaltet (etwa durch Unterlassen der Vereinbarung eines Vorstellungstermins oder Nichtantritt der Arbeit), oder dadurch, dass er den Erfolg seiner (nach außen zu Tage getretenen) Bemühungen durch ein Verhalten, welches nach allgemeiner Erfahrung geeignet ist, den potentiellen Dienstgeber von der Einstellung des Arbeitslosen abzubringen, zunichtemacht (vgl. VwGH 17.11.2021, Ra 2020/08/0062, mwN).

22       Bei Beurteilung, ob ein bestimmtes Verhalten einer arbeitslosen Person als Vereitelung im Sinne des § 10 Abs. 1 AlVG zu qualifizieren ist, kommt es zunächst darauf an, ob dieses Verhalten für das Nichtzustandekommen des (zumutbaren) Beschäftigungsverhältnisses ursächlich war. Dabei ist allerdings zu beachten, dass nicht Voraussetzung ist, dass das Beschäftigungsverhältnis ohne die Vereitelungshandlung in jedem Fall zustande gekommen wäre. Die geforderte Kausalität liegt nämlich bereits dann vor, wenn die Chancen für das Zustandekommen eines Beschäftigungsverhältnisses auf Grund der Vereitelungshandlung jedenfalls verringert wurden (vgl. VwGH 15.10.2014, 2013/08/0248, mwN).

23       Ist die Kausalität zwischen dem Verhalten des Vermittelten und dem Nichtzustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses zu bejahen, muss zur Prüfung einer Vereitelung nach § 10 Abs. 1 AlVG ermittelt werden, ob der Vermittelte vorsätzlich gehandelt hat, wobei bedingter Vorsatz (dolus eventualis) genügt. Ein bloß fahrlässiges Handeln, also die Außerachtlassung der gehörigen Sorgfalt, reicht zur Verwirklichung des Tatbestandes nicht hin (vgl. VwGH 29.6.2021, Ra 2020/08/0026, mwN). Erforderlich ist somit, dass das Nichtzustandekommen der Beschäftigung in einem darauf gerichteten oder dieses zumindest in Kauf nehmenden Verhalten der vermittelten Person seinen Grund hat (vgl. VwGH 7.9.2005, 2002/08/0193, mwN).

24       Hinsichtlich der Prüfung, ob dem Mitbeteiligten bedingter Vorsatz zur Last liegt, ist nochmals darauf zu verweisen, dass bei einer arbeitslosen Person, die trotz Feststellung des Bestehens von Arbeitsfähigkeit im Sinne des § 8 Abs. 1 AlVG mit dem Verweis auf ihren Gesundheitszustand in der oben dargestellten Eindeutigkeit und Nachhaltigkeit generell die Annahme von Erwerbstätigkeit verweigert, eine (generelle) Arbeitsunwilligkeit im Sinn von § 9 Abs. 1 AlVG anzunehmen wäre. Ausgehend von einer (gutachterlich) festgestellten Arbeitsfähigkeit ist ein Arbeitsloser - wie der Mitbeteiligte im vorliegenden Fall - somit verpflichtet, sich hinsichtlich einer vom AMS vermittelten zumutbaren Beschäftigung arbeitswillig zu zeigen; dies auch dann, wenn er (weiterhin) subjektiv der Ansicht sein sollte, (gänzlich) arbeitsunfähig zu sein. Die festgestellte „subjektive“ Annahme des Mitbeteiligten, entgegen der gutachterlichen Feststellung der Arbeitsfähigkeit krankheitsbedingt nicht in der Lage zu sein, geregelte Arbeitszeiten einzuhalten bzw. in einen Arbeitsalltag einzusteigen, somit überhaupt eine Erwerbstätigkeit beginnen zu können, kann ihn daher nicht entschuldigen und - entgegen den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts - die (bedingte) Vorsätzlichkeit einer Vereitelungshandlung nach § 10 Abs. 1 AlVG nicht ausschließen.

25       Von der Frage der Arbeitsfähigkeit im Sinn des § 8 Abs. 1 AlVG ist die Frage der Zumutbarkeit einer konkret vermittelten Beschäftigung im Sinn des § 9 AlVG zu trennen. Dabei ist zu beachten, dass der (bedingte) Vorsatz, eine zugewiesene Beschäftigung zu vereiteln, sich grundsätzlich auf alle Tatbestandselemente beziehen muss, also auch darauf, dass die zugewiesene Beschäftigung zumutbar im Sinn des § 9 AlVG ist (vgl. VwGH 7.5.2008, 2007/08/0163). Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 10 Abs. 1 AlVG, dass eine arbeitslose Person zwar nicht dazu verpflichtet ist, eine im Sinn des § 9 AlVG unzumutbare Beschäftigung anzunehmen. Nicht erforderlich ist aber, dass alle Einzelheiten, die für die Zumutbarkeit einer Beschäftigung von Bedeutung sein können, für die arbeitslose Person schon in einer frühesten Stufe der Bewerbung erkennbar sein müssen. Vielmehr ist es auch Aufgabe der Arbeitssuchenden, im Zuge der Kontaktaufnahme mit einem potentiellen Arbeitgeber bzw. mit dessen Vertreter oder im Zuge eines Vorauswahlverfahrens mit dem AMS in einer geeigneten (dh. nicht unqualifizierten und im Ergebnis als Vereitelungshandlung anzusehenden) Weise jene Informationen zu erfragen, die zur Beurteilung von persönlicher Eignung und Zumutbarkeit unerlässlich sind. Eine arbeitslose Person ist nur insoweit und ab jenem Zeitpunkt zu keinen Bewerbungsschritten (mehr) verpflichtet (und das AMS zum Verlangen nach solchen Schritten nicht berechtigt), in dem solche Umstände einer Beschäftigung zutage treten, welche diese als für eine arbeitslose Person unzumutbar erscheinen lassen (vgl. VwGH 17.11.2021, Ra 2020/08/0062, mwN).

26       Im vorliegenden Fall ist das Bundesverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die angebotene Beschäftigung in einem Sozialökonomischen Betrieb dem Mitbeteiligten zumutbar (§ 9 Abs. 2 und 7 AlVG) gewesen sei. Auch vom Mitbeteiligten wurde nicht behauptet, dass ihm gegen die Zumutbarkeit der Beschäftigung sprechende Umstände bekannt geworden wären.

27       Ein Arbeitsloser wäre nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 10 Abs. 1 AlVG allerdings dann nicht verhalten, sich zu bewerben, wenn und solange er infolge Krankheit arbeitsunfähig ist (vgl. VwGH 19.9.2007, 2006/08/0189; 22.2.2012, 2009/08/0112). Darunter zu verstehen ist, dass einer arbeitslosen Person auf Grund einer akuten Erkrankung - somit eines vorübergehenden, die Arbeitsfähigkeit im Sinn des § 8 Abs. 1 AlVG nicht ausschließenden Leidenszustandes - eine Bewerbung (aktuell) nicht möglich bzw. nicht zumutbar ist (vgl. VwGH 18.4.2019, Ra 2019/08/0073). Derartiges hat das Bundesverwaltungsgericht jedoch hinsichtlich des für den 14. Juni 2017 angesetzten Vorstellungsgespräches nicht festgestellt, sondern ausgeführt, der Mitbeteiligte habe zwar am Tag vor dem Vorstellungsgespräch Durchfall gehabt, sei jedoch - wie im Zuge der rechtlichen Beurteilung ergänzt - nicht durch „eine akute körperliche Erkrankung“ an der Teilnahme am Vorstellungsgespräch am 14. Juni 2017 gehindert, sondern dazu „körperlich in der Lage“ gewesen.

28       Trotz Fehlens einer Erkrankung, die bei objektiver Betrachtung die Teilnahme an einem Vorstellungsgespräch unmöglich oder unzumutbar macht, könnte ein (bedingt) vorsätzliches Handeln allerdings auch dann nicht angenommen werden, wenn der Vermittelte darlegt, dass er sich aus nachvollziehbaren Gründen für nicht in der Lage erachtet hat, aufgrund einer (akuten) Erkrankung zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Das wäre insbesondere dann zu bejahen, wenn ein behandelnder Arzt gegenüber der arbeitslosen Person einen (akuten) Krankheitszustand diagnostiziert, der der Teilnahme am Vorstellungsgespräch entgegensteht. Auf ihr Vertrauen auf diese Diagnose kann sich die arbeitslose Person allerdings dann nicht berufen, wenn ihr deren Unrichtigkeit bzw. Unzuverlässigkeit bekannt ist; dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn die ärztliche Einschätzung auf bewusst unrichtigen bzw. den Leidenszustand bewusst übertreibenden Angaben des bzw. der Arbeitslosen gründet (vgl. idS zur ähnlichen Problematik ärztlicher Krankschreibungen von Dienstnehmern RIS-Justiz RS0028875 [insbesondere T8 und T11]).

29       Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass der Mitbeteiligte sich vor dem Hintergrund, dass er sich nicht in der Lage gesehen habe, früh aufzustehen und eine geregelte Arbeitszeit einhalten zu müssen, von seiner Hausärztin habe „krankschreiben lassen“. Daraus ist nicht zu entnehmen, dass der Mitbeteiligte im dargestellten Sinn auf eine ärztliche Diagnose hätte vertrauen können. Der Mitbeteiligte hat im Übrigen selbst im Verfahren des Bundesverwaltungsgerichts eingestanden, im Zuge der Krankschreibung keinen Kontakt mit der behandelnden Ärztin gehabt zu haben. Die Bestätigung des Krankenstandes sei ohne ein Gespräch mit der Ärztin bzw. eine Untersuchung auf sein Ersuchen von einer Arzthelferin ausgestellt worden.

30       Damit vermögen aber die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts seine rechtliche Beurteilung, dem Mitbeteiligten könne kein (bedingt) vorsätzliches Verhalten und damit keine Vereitelung des Zustandekommens der Beschäftigung im Sinn des § 10 Abs. 1 AlVG vorgeworfen werden, nicht zu tragen.

31       Da das Bundesverwaltungsgericht somit die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 17. Februar 2022

Schlagworte

Beweismittel Sachverständigengutachten Gutachten Parteiengehör Parteiengehör Parteiengehör Sachverständigengutachten Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Sachverständigenbeweis

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020080190.L00

Im RIS seit

14.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

18.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten