TE Vwgh Erkenntnis 2021/12/21 Ra 2020/10/0077

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Veröffentlicht am 21.12.2021
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Index

L92007 Sozialhilfe Grundsicherung Mindestsicherung Tirol
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

ABGB §149 Abs1
MRK Art6
MSG Tir 2010 §19 Abs1 litc idF 2019/138
MSG Tir 2010 §5
MSG Tir 2010 §5 Abs2 lite Z3 sublitaa
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24 Abs4
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler sowie die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Tscheließnig, über die Revision der M Ö in H, vertreten durch MMag.a Marion Battisti, Rechtsanwältin in 6020 Innsbruck, Burggraben 4/4, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom 4. Mai 2020, Zl. LVwG-2020/31/0436-1, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Imst), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Tirol hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Imst vom 22. Jänner 2020 wurde der Revisionswerberin über deren Antrag gemäß §§ 5 und 9 Tiroler Mindestsicherungsgesetz (TMSG) für Jänner 2020 - zusätzlich zu einer mit Bescheid der belangten Behörde vom 25. November 2019 für diesen Monat bereits gewährten Hilfe im Betrag von € 498,08 - eine einmalige Unterstützung für Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes in der Höhe von € 17,93 (Spruchpunkt 1.), eine monatliche Unterstützung für Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom 1. Februar 2020 bis 31. März 2020 in der Höhe von € 516,01 (Spruchpunkt 2.) sowie gemäß § 5 Abs. 3 TMSG im Monat März 2020 eine einmalige Sonderzahlung in der Höhe von € 82,56 (Spruchpunkt 3.) zuerkannt.

2        Begründend führte die belangte Behörde unter anderem aus, bei der Berechnung der Mindestsicherung sei „beim Richtsatz“ der Revisionswerberin eine Kürzung von 44 % vorgenommen worden, da sich diese weigere, den Unterhalt für ihre minderjährige Tochter über die Kinder- und Jugendhilfe geltend zu machen. In der im Bescheid enthaltenen tabellarischen Aufstellung wird dazu bei der Revisionsweberin von einem Mindestsatz von € 516, 01 ausgegangen, der gemäß § 19 Abs. 1 lit. c TMSG um den Betrag von € 227,04 gekürzt werde; dieser Kürzungsbetrag entspricht jenem Mindestsatz für minderjährige Personen gemäß § 5 Abs. 2 lit. e Z 3 sublit. aa TMSG, der für die mj. Tochter der Revisionswerberin veranschlagt wurde.

3        In der dagegen von der Revisionswerberin erhobenen Beschwerde wurde - mit näheren Darlegungen - geltend gemacht, die Revisionswerberin sei im August 2018 aus England aufgrund von Gewalt durch ihren damaligen Lebensgefährten nach Österreich zu ihren Eltern geflüchtet. Sie habe im Verfahren bereits darauf hingewiesen, dass sie aufgrund der langen psychischen Gewaltausübung durch ihren ehemaligen Lebensgefährten eine weitere Bedrohung durch ihn befürchte, sollte sie gerichtliche Schritte gegen ihn unternehmen. Dieser sei auch nicht als Kindesvater amtlich bestätigt, sodass sie zusätzlich zu einer Unterhaltsklage auch eine Feststellung der Vaterschaft beantragen müsste. Ohne Feststellung der Vaterschaft sei eine Klage auf Unterhalt aussichtslos und vor allem aufgrund der Umstände unzumutbar. Sie beantrage eine mündliche Verhandlung und den angefochtenen Bescheid hinsichtlich der Kürzung nach § 19 Abs. 1 TMSG aufzuheben und die Sanktion nicht anzuwenden.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom 4. Mai 2020 wurde diese Beschwerde als unbegründet abgewiesen und ausgesprochen, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Das Verwaltungsgericht ging nach Darstellung des Verfahrensganges unter anderem davon aus, dass die Revisionswerberin aufgrund von Gewaltausübung und Drohungen des damaligen Lebensgefährten in England mit ihrer 2017 geborenen Tochter im August 2018 nach Österreich gekommen sei und bei ihren Eltern wohne.

6        Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht nach Wiedergabe der maßgeblichen Rechtsvorschriften im Wesentlichen aus, beim Kindesunterhalt handle es sich um einen privatrechtlichen Anspruch des Kindes gegenüber den Eltern iSd § 231 ABGB. Voraussetzung für eine Unterhaltsleistung sei, dass der in Anspruch genommene Mann Vater iSd § 144 ABGB sei. Im vorliegenden Fall sei der ehemalige Lebensgefährte der Revisionswerberin offenbar nicht gerichtlich als Vater festgestellt. Insofern wäre zunächst ein Feststellungsverfahren einzuleiten und sodann der Unterhaltsanspruch geltend zu machen. Nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum TMSG sei die Verfolgung von Ansprüchen gegenüber Dritten beispielsweise dann aussichtslos, wenn der Dritte zahlungsunfähig oder nicht greifbar sei. Unzumutbar sei die Verfolgung etwa dann, wenn sie der Gefahr häuslicher Gewalt Vorschub leiste oder bereits ein Betretungsverbot nach den sicherheitspolizeilichen Vorschriften erlassen worden sei.

7        Auch wenn - so das Verwaltungsgericht weiter - der ehemalige Lebensgefährte in England lebe, sei nicht davon auszugehen, dass dieser nicht greifbar sei. In Unterhaltsangelegenheiten mit Auslandsbezug würden die Europäische Unterhaltsverordnung sowie das Haager Unterhaltsprotokoll Abhilfe schaffen. Zumal die Revisionswerberin und ihr ehemaliger Lebensgefährte nicht im selben Haushalt, sondern vielmehr in unterschiedlichen Staaten lebten, sei „nicht unmittelbar von einer weiteren Gewaltausübung“ gegenüber der Revisionswerberin und ihrer Tochter auszugehen. Darüber hinaus habe die Kinder- und Jugendhilfe ihre Unterstützung bei der Verfolgung und Durchsetzung der Ansprüche zugesichert. Die Revisionswerberin sei darauf hingewiesen worden, dass im Falle massiver psychischer und/oder physischer Gewalt Schutz für die Opfer hergestellt werde; ihr seien die Möglichkeiten und Schutzmaßnahmen für eine allfällige Kontaktaufnahme dargestellt worden. Insofern sei die Verfolgung der Unterhaltsansprüche nicht offensichtlich unzumutbar. Die Weigerung der Revisionswerberin trotz mehrmaliger bescheidmäßiger Aufforderung, ein Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft einzuleiten bzw. die Unterhaltsansprüche gegen ihren ehemaligen Lebensgefährten durchzusetzen, führe daher zu einer Kürzung der Mindestsicherungsleistung gemäß § 19 Abs. 1 lit. c TMSG.

8        § 19 Abs. 1 TMSG sehe vor, dass die Kürzung der Höhe nach mit 66 % des jeweiligen Mindestsatzes begrenzt sei und nur stufenweise vorgenommen werden dürfe. Die belangte Behörde habe den Richtsatz erstmals mit Bescheid vom 25. November 2019 für den Zeitraum vom 1. Dezember 2019 bis 31. Jänner 2020 um 44 % gekürzt. Zwar erscheine eine erstmalige Kürzung von 44 % angesichts der gesetzlichen Vorgabe der stufenweisen Kürzung überhöht, der Bescheid vom 25. November 2019 sei von der Revisionswerberin jedoch nicht angefochten worden. Da es sich sohin nicht um eine erstmalige Kürzung handle, erscheine die Richtsatzkürzung von 44 % nunmehr auch der Höhe nach mit den gesetzlichen Vorgaben des § 19 Abs. 1 TMSG vereinbar. Es sei daher spruchgemäß zu entscheiden gewesen.

9        Die Revision ließ das Verwaltungsgericht im Wesentlichen mit einem Verweis auf den Wortlaut des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zu.

10       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

11       Das Verwaltungsgericht legte die Verfahrensakten vor. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12       Die Revision macht in ihrer Zulässigkeitsbegründung unter anderem geltend, das angefochtene Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht ab. Das Verwaltungsgericht habe die von der Revisionswerberin beantragte Verhandlung nicht durchgeführt und auch nicht begründet, warum keine Verhandlung durchgeführt worden sei. Die Revisionswerberin sei in der Beschwerde der Annahme der belangten Behörde, dass sie sich grundlos weigere, den Unterhalt für ihre Tochter geltend zu machen, substantiiert entgegengetreten.

13       Die Revision erweist sich als zulässig und begründet:

14       Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

15       Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher grundsätzlich durchzuführen, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinn des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird. Wie der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf § 24 Abs. 4 VwGVG bereits wiederholt festgehalten hat, hatte der Gesetzgeber als Zweck einer mündlichen Verhandlung dabei die Klärung des Sachverhaltes und die Einräumung von Parteiengehör sowie darüber hinaus auch die mündliche Erörterung einer nach der Aktenlage strittigen Rechtsfrage zwischen den Parteien und dem Gericht vor Augen. Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 GRC stehen dem Absehen von einer Verhandlung nach dem VwGVG insbesondere dann nicht entgegen, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt feststeht und auch keine Fragen der Beweiswürdigung auftreten können, sodass eine Verhandlung nicht notwendig ist. Nach der Judikatur des EGMR kann zudem das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ein Absehen von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung rechtfertigen. Demnach kann der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung im Anwendungsbereich des VwGVG etwa in Fällen gerechtfertigt sein, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen werden. Bei Missachtung der Verhandlungspflicht im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. VwGH 1.6.2021, Ro 2020/10/0002, mwN). Streitigkeiten über Sozialhilfeleistungen - und somit auch über die hier gegenständliche Mindestsicherungsleistung - betreffen nach der Judikatur des EGMR zivile Rechte im Sinn von Art. 6 EMRK (vgl. VwGH 30.1.2014, 2012/10/0193; 27.3.2012, 2009/10/0084; 12.8.2010, 2008/10/0315).

16       Ausführungen dazu, aus welchen Gründen das Verwaltungsgericht vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 24 Abs. 4 VwGVG ausgegangen ist, finden sich im angefochtenen Erkenntnis nicht. Für die Unterlassung der Durchführung der mündlichen Verhandlung fehlt es daher an einer nachvollziehbaren Begründung. Dass die Voraussetzungen für ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung jedenfalls gegeben gewesen wären, ist fallbezogen auch nicht ersichtlich. Es kann nämlich keine Rede davon sein, dass der entscheidungsrelevante Sachverhalt in Ansehung der Frage, ob die Geltendmachung des Kindesunterhalts als im Sinne des § 19 Abs. 1 lit. c TMSG unzumutbar anzusehen ist, festgestanden wäre, erfolgt die Auseinandersetzung mit dem diesbezüglichen Vorbringen der Revisionswerberin doch erstmals im angefochtenen Erkenntnis.

17       Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.

18       Der Vollständigkeit halber ist allerdings auf Folgendes hinzuweisen:

19       Nach § 19 Abs. 1 lit. c TMSG (in der hier maßgeblichen Fassung LGBl. Nr. 138/2019) kann die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 5 leg. cit. gekürzt werden, wenn der Mindestsicherungsbezieher seine Ansprüche gegenüber Dritten nicht in zumutbarer Weise verfolgt. Die Kürzung ist der Höhe nach mit 66 v.H. des jeweiligen Mindestsatzes nach § 5 begrenzt.

20       Wie das Verwaltungsgericht insofern zutreffend ausführt, handelt es sich beim Kindesunterhalt um einen privatrechtlichen Anspruch des Kindes gegenüber den Eltern. Der im Revisionsfall in Rede stehende privatrechtliche Anspruch auf bedarfsdeckende oder bedarfsmindernde Leistungen gegen den Kindesvater käme demnach allenfalls der mj. Tochter, nicht aber der Revisionswerberin zu. Die vom Verwaltungsgericht bestätigte Kürzung des Richtsatzes der Revisionswerberin - der im Ergebnis einer 100 %igen Kürzung des Richtsatzes für minderjährige Personen gemäß § 5 Abs. 2 lit. e Z 3 sublit. aa TMSG gleichkommt - entspricht daher nicht dem Gesetz. Überdies geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass im Revisionsfall zunächst „ein Feststellungsverfahren [auf Vaterschaft] einzuleiten und sodann der Unterhaltsanspruch geltend zu machen“ wäre. Die Frage, ob ein Unterhaltsanspruch der mj. Tochter der Revisionswerberin gegenüber Dritten in Form eines (vorgelagerten) Vaterschaftsfeststellungsverfahrens in zumutbarer Weise verfolgt wird, kann fallbezogen aber nicht ohne Auseinandersetzung mit den in § 149 Abs. 1 ABGB vorgesehenen Ausnahmen von der Verpflichtung des gesetzlichen Vertreters dafür zu sorgen, dass die Vaterschaft festgestellt wird, erfolgen, sieht die genannte Bestimmung doch vor, dass die diesbezügliche Verpflichtung nicht zum Tragen kommt, wenn die Feststellung der Vaterschaft für das Wohl des Kindes nachteilig ist oder die Mutter von ihrem Recht, den Namen des Vaters nicht bekanntzugeben, Gebrauch macht (vgl. zu Letzterem etwa OGH 10.8.2006, 2 Ob 129/06v, sowie Hopf/Höllwerth in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, Kurzkommentar zum ABGB6, 2020, Rz 2 zu § 149).

21       Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht - im Rahmen des Begehrens - auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Dezember 2021

Schlagworte

Allgemein Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2 Verfahrensbestimmungen Berufungsbehörde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020100077.L00

Im RIS seit

18.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

01.02.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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