TE Lvwg Erkenntnis 2021/9/16 VGW-101/070/2963/2021

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.09.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

16.09.2021

Index

20/09 Internationales Privatrecht
41/03 Personenstandsrecht
19/05 Menschenrechte

Norm

IPRG §9 Abs3
PStG 2013 §9
PStG 2013 §10
PStG 2013 §11
PStG 2013 §12
PStG 2013 §13
PStG 2013 §35 Abs1
PStG 2013 §35 Abs2 Z3
PStG 2013 §35 Abs5
PStG 2013 §53 Abs3 Z1
EMRK Art. 8

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seine Richterin Mag. Romaniewicz über die Beschwerde der Frau A. B. gegen den Bescheid des Magistrats der Stadt Wien, Magistratsabteilung 63, vom 11.12.2020, Zl. ..., betreffend Personenstandsgesetz 2013 (PStG 2013) nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 04.08.2021,

zu Recht e r k a n n t:

I. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG wird der Beschwerde Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben. Dem Antrag der Beschwerdeführerin vom 24.06.2020 auf Eintragung der Geburt der Beschwerdeführerin gemäß §§ 9 ff PStG und auf Ausstellung einer Geburtsurkunde gemäß § 53 Abs. 3 Z 1, § 54 PStG wird stattgegeben. Die belangte Behörde hat die Eintragung binnen 14 Tagen ab Zustellung dieser mündlich verkündeten Entscheidung vorzunehmen und die diesbezügliche Geburtsurkunde der Beschwerdeführerin auszufolgen.

II. Gegen diese Entscheidung ist gemäß § 25a Abs. 1 VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

1. Verfahrensgang

Mit Bescheid des Magistrats der Stadt Wien, Magistratsabteilung 63, vom 11.12.2020, Zl. ... hat die belangte Behörde den Antrag der nunmehrigen Beschwerdeführerin vom 24.06.2020 auf Eintragung ihrer Geburt und auf Ausstellung einer Geburtsurkunde abgewiesen. Dies im Wesentlichen mit der Begründung, dass die Beschwerdeführerin als subsidiär Schutzberechtigte nicht unter die Personengruppe des § 35 Abs. 2 Z 3 Personenstandsgesetz 2013 (in weiterer Folge „PStG“ genannt) falle und daher keine rechtliche Möglichkeit auf Eintragung im Zentralen Personenstandsregister (in weiterer Folge „ZPR“ genannt) und damit auf Ausstellung einer österreichischen Personenstandsurkunde bestehe.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin rechtzeitig Beschwerde. In dieser führte sie im Wesentlichen aus, dass

?    die Situation im Irak für Transgender-Personen prekär sei und es der Beschwerdeführerin daher nicht möglich wäre im Irak nach ihrer geschlechtsanpassenden Operation eine Geburtsurkunde zu beantragen und

?    sie aufgrund ihrer durch Art. 8 EMRK grundrechtlich geschützten Position in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität das Recht habe, dass eine Geburtsurkunde mit der von ihr gewünschten Geschlechtsbezeichnung „weiblich“ ausgestellt werde.

Die belangte Behörde traf keine Beschwerdevorentscheidung und legte dem Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde samt dem Behördenakt am 01.03.2021 vor.

Das Verwaltungsgericht Wien forderte bei der Behörde die Durchführungsanleitung für die standesamtliche Arbeit (Stand ab September 2020) an, die am 13.04.2021 übermittelt wurde.

Am 23.07.2021 erstattete die Beschwerdeführerin eine ergänzende Stellungnahme und legte zwei Befunde des H. Wien bezüglich ihres Hormonstatus (Beilage B./ und C./) sowie Kopien von Dokumenten, die auf A. B. lauten (Beilage D./) vor.

In weiterer Folge führte das Verwaltungsgericht Wien unter Ladung der Parteien am 04.08.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung, in welcher die Beschwerdeführerin in Anwesenheit einer Dolmetscherin einvernommen wurde.

Im Anschluss daran verkündete die Verhandlungsleiterin die Entscheidung mündlich.

Der Bundesminister für Inneres stellte fristgerecht einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.

2. Sachverhalt

Für das Verwaltungsgericht Wien steht folgender Sachverhalt fest:

Die Beschwerdeführerin, irakische Staatsangehörige, geboren am ... in C./Irak, seit 12.05.2015 hauptgemeldet in Österreich und derzeit wohnhaft in der D.-gasse, Wien hat am 05.09.2015 in Österreich einen Antrag auf Zuerkennung des internationalen Schutzes gestellt. Diesen begründete sie mit den im Irak vorherrschenden Kriegszuständen. Den Antrag hat die Beschwerdeführerin damals als Person männlichen Geschlechts, und zwar als E. F. G., gestellt.

Den Antrag der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten hat das zuständige Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl- Außenstelle … (in weiterer Folge als „BFA“ bezeichnet) in seiner rechtskräftigen Entscheidung im Dezember 2016 zwar abgewiesen; der Beschwerdeführerin wurde jedoch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten ab 14.01.2017 zuerkannt.

Diese Aufenthaltsberechtigung hat die zuständige Behörde auf Antrag der Beschwerdeführerin wiederum vom 14.12.2019 bis 13.12.2021 verlängert. Erstmals im Zuge dieses Verfahrens auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung brachte die Beschwerdeführerin vor dem BFA vor, dass aufgrund ihrer Intergeschlechtlichkeit ein Gefährdungsrisiko für sie im Irak besteht und sie als Frau in Österreich leben möchte. Das BFA erachtete das Vorbringen der Beschwerdeführerin als glaubwürdig und hat als Vorfrage selbständig die Identität der Beschwerdeführerin neu beurteilt. Diese wurde ab diesem Zeitpunkt mit dem Geschlecht „weiblich“ und dem Vor- und Nachnamen B. A. geführt. Dementsprechend hat das BFA auch eine Aufenthaltskarte mit den neuen Identitätsdaten ausgestellt.

Die Beschwerdeführerin ist im Irak intergeschlechtlich geboren und wurde von ihrer Familie als Bub/Mann großgezogen, was für sie eine enorme psychische Belastung darstellte; sie fühlte sich nämlich seit ihrem Kindesalter bereits als Frau und reiste 2011 nach Indien um geschlechtsanpassende Maßnahmen vornehmen zu lassen. Nach ihrer Rückkehr in den Irak wurde die Beschwerdeführerin mit einer Frau zwangsverheiratet und war gezwungen weiterhin als Mann zu leben.

Auf ihrer Flucht nach Europa und zunächst in Österreich gab sich die Beschwerdeführerin weiterhin aufgrund massiver Schamgefühle und der Gefahr von anderen männlichen Flüchtlingen bei den irakischen Behörden als intergeschlechtlich bzw. transgender denunziert zu werden, als Mann aus.

Deswegen gab sie auch den Umstand einer neuen weiblichen Identität im Asylverfahren vor dem BFA im Jahr 2016 nicht bekannt.

Erst aufgrund des Umzuges nach Wien und der Distanzierung zu dem männlich-arabischen Kreis der vorherigen Flüchtlingsunterkunft, fasste die Beschwerdeführerin mehr Selbstvertrauen und fing an ihrer tatsächlichen weiblichen Identität nach außen hin Ausdruck zu verleihen. Seit Jänner 2020 nimmt die Beschwerdeführerin eine Hormontherapie im H. in Anspruch.

Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft, welcher auch die Beschwerdeführerin angehört, sind im Irak schwerer Diskriminierung, Drohungen, körperlichen Angriffen, Entführungen und in manchen Fällen auch der Gefahr der Ermordung ausgesetzt. Der Beschwerdeführerin ist es deswegen nicht zumutbar, im Irak die Änderung ihres Geschlechts auf „weiblich“ in der Geburtsurkunde zu beantragen; im Übrigen auch aufgrund der rechtlichen Situation im Irak, weil das irakische Recht eine diesbezügliche Änderung des geschlechtlichen Eintrags gar nicht vorsieht.

3. Beweiswürdigung

Beweis wurde erhoben aufgrund des unbedenklichen und unbestrittenen Akteninhalts, des Parteienvorbringens und der Einvernahme der Beschwerdeführerin in der Verhandlung vom 04.08.2021, die sehr glaubwürdig und korrekt auf die Verhandlungsleiterin wirkte.

Es wird festgehalten, dass die belangte Behörde in der Begründung der angefochtenen Entscheidung selbst anführt, dass die Beschwerdeführerin für den österreichischen Rechtsbereich eine Frau ist und aufgrund der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Lage im Irak die Beschwerdeführerin dort einer Gefährdung ausgesetzt werden würde. Dies inkludiert folgelogisch auch, dass es der Beschwerdeführerin im Irak nicht zumutbar ist eine Änderung des Geschlechtseintrags auf „weiblich“ in ihrer Geburtsurkunde zu beantragen, weil sie sich dadurch einer Gefahr für Leib und Leben aussetzen würde. Im Übrigen ist dies – soweit ersichtlich ? auch aus juristischer Sicht nicht möglich. Dies ergibt sich aus der zum VGW-Akt genommenen englischen Übersetzung des irakischen „Personal Status Law“, dem Vorbringen der Beschwerdeführerin und aufgrund der folgelogischen Schlussfolgerung aus der derzeitigen Lage im Irak. Das Verwaltungsgericht Wien konnte keine Bestimmungen feststellen, die einer intergeschlechtlichen oder Transgender-Person es ermöglichen würden, eine Änderung in der Geburtsurkunde vorzunehmen.

Die Feststellungen zu den Verfahren vor dem BFA, dem aufenthaltsrechtlichen Status der Beschwerdeführerin sowie der Beurteilung ihrer neuen Identität durch das BFA ergeben sich aus dem Parteienvorbringen, dem im Behördenakt einliegenden Bescheid des BFA vom 12.12.2019 zu … sowie der ebenfalls dort befindlichen Abfrage aus dem Zentralen Fremdenregister. Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführerin bereits auch im ZMR sowie von der Krankenkasse als A. B. geführt wird (siehe ZMR-Auszug sowie insbesondere Kopie der E-Card im VGW-Akt, Beilage D./).

Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin eine Frau ist, ergibt sich aus ihrer Aussage, insbesondere aus den Befunden des H. Wien vom 30.01.2020 und 08.07.2020 (Beilage B./ und C./ zur Stellungnahme vom 23.07.2021) sowie der Stellungnahme von Dr. I. J. vom 17.10.2019 und vom Herrn Dr. K. vom 04.11.2019 (jeweils Behördenakt).

Die Feststellung zur gefährlichen Situation der LGBT-Gemeinschaft im Irak ergibt sich aus einer Anfragebeantwortung der Organisation Accord, Österreichisches Rotes Kreuz vom 17.11.2019 (Behördenakt).

4. Rechtliche Erwägungen

Gemäß § 9 Abs. 3 Bundesgesetz vom 15. Juni 1978 über das internationale Privatrecht (in weiterer Folge „IPRG“ genannt) ist das Personalstatut einer Person, die Flüchtling im Sinn der für Österreich geltenden internationalen Übereinkommen ist oder deren Beziehungen zu ihrem Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen abgebrochen sind, das Recht des Staates, in dem sie ihren Wohnsitz, mangels eines solchen ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat; eine Verweisung dieses Rechtes auf das Recht des Heimatstaates (§ 5) ist unbeachtlich.

Gemäß § 35 Abs. 1 PStG 2013 sind jeder im Inland eingetretener Personenstandsfall sowie Änderungen, Ergänzungen und Berichtigungen des Personenstandes einzutragen.

Gemäß Abs. 2 Z 3 par. cit. ist ein im Ausland eingetretener Personenstandsfall dann einzutragen, wenn der Personenstandsfall einen Flüchtling im Sinne der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, und des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974, wenn er seinen Wohnsitz, mangels eines solchen seinen gewöhnlichen Aufenthalt, im Inland hat.

Gemäß Abs. 5 par. cit. sind die in Abs. 2, 3 und 4 angeführten Personenstandsfälle von jener Personenstandsbehörde einzutragen, bei der diese bekannt gegeben werden. Besteht bei dem Betroffenen oder bei einem Elternteil des Betroffenen ein Anknüpfungspunkt im Inland (Hauptwohnsitz, Personenstandsfall), ist der Personenstandsfall bei dieser Personenstandsbehörde einzutragen. Besteht ein derartiger Anknüpfungspunkt nicht, hat die Gemeinde Wien einzutragen.

Gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 PStG 2013 haben die Personenstandsbehörden Geburtsurkunden auszustellen. Die Geburtsurkunden haben die im § 54 PStG 2013 genannten Daten zu enthalten.

Ebenfalls sind die Bestimmungen über die Geburt, und zwar § 9 bis § 13 PStG 2013 im gegenständlichen Fall relevant.

Die belangte Behörde vertritt nun im konkreten Fall die Ansicht, dass keine rechtliche Möglichkeit auf Eintragung im ZPR und damit auf Ausstellung einer österreichischen Personenstandsurkunde bestehe. Dies im Wesentlichen deswegen, weil § 35 Abs. 2 PStG taxativ sei und im Sinne der Durchführungsanleitung für die standesamtliche Arbeit, Stand September 2020 des BMI subsidiär Schutzberechtigte nicht unter diese Bestimmung fallen würden.

Dazu ist Folgendes auszuführen:

Zunächst ist festzuhalten, dass die gegenständliche Durchführungsanleitung für das Verwaltungsgericht keine rechtliche Bindung im Gegensatz zum Gesetzes- oder Verordnungstext entfaltet und daher allenfalls nur als Auslegungshilfe herangezogen werden kann.

Überdies ist der rechtlichen Begründung der Behörde aus folgenden Gründen entgegenzutreten:

Das zuständige BFA hat in seiner rechtskräftigen Entscheidung aus dem Jahr 2016 die Beschwerdeführerin zwar nicht als Flüchtling im Sinne der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt. Dieser wurde jedoch sehr wohl subsidiärer Schutz im Sinne des § 8 AsylG, der bereits ein Mal verlängert wurde, gewährt. Dazu ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin im ursprünglichen Asylverfahren lediglich aus Angst und Scham keine Angaben zu ihrer weiblichen Identität gemacht, dies jedoch im Verlängerungsverfahren vorgebracht hat und die Behörde aus diesem Grund die Identität der Beschwerdeführerin neu beurteilt hat.

Da § 9 Abs. 3 IPRG nicht nur auf Flüchtlinge im Sinne der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, sondern auch auf Personen, deren Beziehungen zu ihrem Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen abgebrochen sind, anwendbar ist, gilt für die Beschwerdeführerin aufgrund ihres Status als subsidiär Schutzberechtigte das österreichische Sachrecht. Diese ist für den österreichischen Rechtsbereich auch als eine Person weiblicher Identität zu qualifizieren. All dies wurde von den Parteien im gesamten Verfahren nicht bestritten.

Im Gegensatz zu der Bestimmung des IPRG sieht § 35 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 3 PStG 2013 für einen im Ausland eingetretenen Personenstandsfall die Möglichkeit der Eintragung einer Änderung, Ergänzung oder Berichtigung nur für Flüchtlinge im Sinne der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, und des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 vor. Diesen Status hat die Beschwerdeführerin nach derzeitiger Rechtslage in Österreich nicht. Nun ist es jedoch so, dass es der Beschwerdeführerin aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Lage im Irak nicht zumutbar ist eine Änderung und Neuausstellung der Geburtsurkunde dort zu beantragen, weil dies aufgrund ihrer neuen Identität als Folge eine Gefahr für ihr Leib und Leben nach sich ziehen könnte. Überdies kennt das irakische Recht – soweit für das Verwaltungsgericht aufgrund des Ermittlungsverfahrens ersichtlich ? nur weibliche und männliche Identitäten. Eine Änderung der Identität aufgrund der Intergeschlechtlichkeit oder Transgender ist nicht vorgesehen.

Die Beschwerdeführerin hat somit keine Möglichkeit sich in ihrem Heimatstaat eine neue Geburtsurkunde mit der neuen Identität ausstellen zu lassen.

Der Verfassungsgerichtshof hat zum Beispiel in seiner Entscheidung vom 15.06.2018 zu G77/2018 betreffend das Personenstandgesetz 2013 Folgendes erkannt:

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Art 8 EMRK stellt die menschliche Persönlichkeit in ihrer Identität, Individualität und Integrität unter Schutz und ist dabei auch auf den Schutz der unterschiedlichen Ausdrucksformen dieser menschlichen Persönlichkeit gerichtet (VfSlg 19.662/2012, 19.665/2012, 20.100/2016; EGMR 24.10.1993, Fall Guillot, Appl. 22.500/93 [Z21 f.]; 7.2.2002, Fall Mikuli?, Appl. 53.176/99 [Z53 f.]; 11.7.2002 [GK], Fall Goodwin, Appl. 28.957/95 [Z90]; 12.6.2003, Fall Van Kück, Appl. 35.968/97 [Z69]). In den von Art 8 EMRK geschützten persönlichen Bereich fällt auch die geschlechtliche Identität und Selbstbestimmung (siehe EGMR 6.4.2017, Fall A.P., Garçon und Nicot, Appl. 79.885/12, 52.471/13 und 52.596/13 [Z92 f. mwN]). Die geschlechtliche Identität bezieht sich dabei auf einen besonders sensiblen Bereich des Privatlebens einer Person (vgl. EGMR, Fall Van Kück, Z72).

Dieses von Art 8 Abs 1 EMRK gewährleistete Recht auf individuelle Geschlechtsidentität umfasst auch, dass Menschen – nach Maßgabe des Absatzes 2 dieser Verfassungsbestimmung – (nur) jene Geschlechtszuschreibungen durch staatliche Regelung akzeptieren müssen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen. Art 8 EMRK räumt daher Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht ein, dass auf das Geschlecht abstellende Regelungen ihre Variante der Geschlechtsentwicklung als eigenständige geschlechtliche Identität anerkennen, und schützt insbesondere Menschen mit alternativer Geschlechtsidentität vor einer fremdbestimmten Geschlechtszuweisung.

4.2. Art 8 EMRK enthält auch Gewährleistungspflichten des Staates und damit insbesondere des Gesetzgebers zum Schutz der durch seinen Absatz 1 gewährleisteten Rechte (vgl. etwa EGMR, Fall Goodwin, Z71 ff.; 16.7.2014 [GK], Fall Hämäläinen, Appl. 37.359/09 [Z62 ff.]; Fall A.P., Garçon und Nicot, Z97 ff.; allgemein dazu, dass sich aus Art8 EMRK sowohl negative als auch positive Verpflichtungen ergeben, VfSlg 19.904/2014 mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

(…)

Den Gesetzgeber trifft vor diesem Hintergrund aus Art 8 EMRK eine Gewährleistungspflicht, zum Schutz von Menschen mit entsprechender Geschlechtsentwicklung, insbesondere von Kindern, rechtliche Vorkehrungen dahingehend zu treffen, dass diesen Menschen eine selbstbestimmte Festlegung ihrer Geschlechtsidentität auch tatsächlich möglich ist. Das erfordert unter anderem hinreichend flexible Regelungen, die es im Zusammenhang mit der Geschlechtsangabe in öffentlichen Registern ermöglichen, geschlechtliche Zuordnungen nicht nur zu ändern, sondern eine solche Zuordnung auch solange offen zu lassen, bis Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich eine solche selbstbestimmte Zuordnung ihrer Geschlechtsidentität möglich ist.“

Daraus folgt, dass der zuständige Staat – wie oben ausgeführt dies im gegenständlichen Fall die Republik Österreich ist – bzw. der diesbezügliche Gesetzgeber auch Gewährleistungspflichten hat, einer Person die Möglichkeit einzuräumen, sämtliche notwendige Unterlagen wie Geburtsurkunden mit einem Geschlechtseintrag zu erhalten, der auch mit dem jeweiligen Geschlecht übereinstimmt (vgl. EGMR Christine Goodwin v. United Kingdom Nr. 28957/95).

Der Gesetzgeber hat jedoch im § 35 Abs. 2 Z 3 PStG offenbar den gegenständlichen Fall nicht bedacht; nämlich, dass

?    eine Person im Asylverfahren die Änderung ihrer Geschlechtsidentität (aus Angst und Scham) nicht bekanntgibt, jedoch den Status eines subsidiär Schutzberechtigten bekommt, der immer wieder verlängert wird und

?    diese Person aufgrund der Gefahr für Leib und Leben sowie aus rechtlichen Überlegungen keine Möglichkeit hat in ihrem Ursprungsland die Änderung ihrer Geschlechtsidentität bekanntzugeben und eine Ausstellung der Geburtsurkunde zu beantragen.

Im Wesentlichen geht es dabei um Personen, wie im § 9 Abs. 3 IPRG angeführt, die aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen wie Flüchtlinge ihre Beziehungen zu ihrem Heimatstaat abbrechen mussten.

Dazu ist auszuführen, dass die Zulässigkeit der Schließung einer Regelungslücke im Wege einer Analogie das Bestehen einer echten bzw. planwidrigen Rechtslücke voraussetzt. „Eine solche ist dort anzunehmen, wo das Gesetz ? gemessen an der eigenen Absicht und immanenten Teleologie ? unvollständig, also ergänzungsbedürftig ist, und wo die Ergänzung nicht etwa einer vom Gesetz gewollten Beschränkung widerspricht. Da das öffentliche Recht, im Besonderen das Verwaltungsrecht, schon von der Zielsetzung her nur einzelne Rechtsbeziehungen unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses zu regeln bestimmt ist, muss eine auftretende Rechtslücke im Zweifel als beabsichtigt angesehen werden. Eine durch Analogie zu schließende echte Lücke ist nur dann gegeben, wenn das Gesetz anders nicht vollziehbar ist oder wenn es in eine Regelung einen Sachverhalt nicht einbezieht, auf den ? unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes und gemessen an den mit der Regelung verfolgten Absichten des Gesetzgebers ? dieselben Wertungsgesichtspunkte zutreffen wie auf die im Gesetz geregelten Fälle und auf den daher ? schon zur Vermeidung einer verfassungsrechtlich bedenklichen Ungleichbehandlung ? auch dieselben Rechtsfolgen angewendet werden müssen“ (VwGH 4.5.2017, Ro 2014/08/0060, mwN).

Genau dieser Fall einer Regelungslücke liegt – wie bereits dargelegt ? im konkreten Einzelfall vor. Denn der Gesetzgeber hat im § 35 Abs. 2 Z 3 PStG den gegenständlichen Sachverhalt nicht einbezogen, obwohl er offensichtlich Personen (mit dem Verweis auf die Flüchtlingseigenschaft), die dauerhaft ihre Beziehungen zum Land ihrer Staatsangehörigkeit aus schwerwiegenden Gründen abbrechen mussten, regeln wollte. Der Beschwerdeführerin kommt in Österreich zwar kein Asylstatus zu, jedoch ist aufgrund der rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Situation gegenüber LGBT-Gemeinschaften im Irak überhaupt nicht absehbar, wann diese ihre Beziehungen zu ihrem Ursprungsstaat wiederaufnehmen könnte ohne sich selbst zu gefährden.

Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes und gemessen an den mit der Regelung verfolgten Absichten des Gesetzgebers treffen im gegenständlichen Einzelfall jedenfalls die gleichen Wertungsgesichtspunkte wie auf den im § 35 Abs. 2 Z 3 PStG geregelten Fall. Zur Vermeidung einer verfassungsrechtlich bedenklichen Ungleichbehandlung der Beschwerdeführerin müssen daher für diese dieselben Rechtsfolgen wie im § 35 Abs. 2 Z 3 PStG 2013 geregelt, gelten.

Es war daher der angefochtene Bescheid zu beheben und dem Antrag der Beschwerdeführerin stattzugeben.

5. Zur Unzulässigkeit der Revision

Die Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung, weil dieser keine über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. bspw VwGH 27.2.2019, Ra 2019/05/0044, mwN). Im Übrigen weicht die gegenständliche Entscheidung weder von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Schlussendlich liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Intergeschlechtlichkeit; Transgender; Geschlechtsidentität; Eintragung des Personenstandsfalles; Änderungen, Ergänzungen und Berichtigungen des Personenstandes; Ausstellung einer Geburtsurkunde; Eintragung der Geburt; subsidiär Schutzberechtigte; Personalstatut;

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2021:VGW.101.070.2963.2021

Zuletzt aktualisiert am

19.10.2021
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten