TE Vwgh Erkenntnis 2021/9/9 Ra 2021/22/0029

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Veröffentlicht am 09.09.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
25/04 Sonstiges Strafprozessrecht
32/07 Stempelgebühren Rechtsgebühren Stempelmarken
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht
41/02 Staatsbürgerschaft
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

ASVG §293
FrÄG 2009
NAG 2005 §11 Abs5 idF 2009/I/122
NAG 2005 §11 Abs5 idF 2017/I/145
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des F A, vertreten durch Mag.a Doris Einwallner, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Schönbrunnerstraße 26/3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 14. Oktober 2020, Zl. VGW-151/083/7526/2020-3, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 22. August 2019 beim österreichischen Generalkonsulat Istanbul unter Berufung auf seine Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“.

2        Mit Bescheid vom 11. Mai 2020 wies der Landeshauptmann von Wien diesen Antrag gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab, weil der Aufenthalt des Revisionswerbers öffentlichen Interessen widerstreite. Dazu hielt die Behörde fest, dass der Revisionswerber in der Türkei zweimal wegen der Begehung von Straftaten (zuletzt mit Urteil vom 10. Oktober 2017 wegen Drohung, Beleidigung, Erpressung sowie Verletzung der Privatsphäre, wobei seine nunmehrige Ehegattin Opfer dieser Straftat gewesen sei) verurteilt worden sei. In einem vom Revisionswerber vorgelegten Führungszeugnis des türkischen Justizministeriums werde ausgeführt, dass der Revisionswerber nicht vorbestraft sei. Es sei jedoch nicht nachvollziehbar, dass die Verurteilung aus dem Jahr 2017 nicht mehr im Strafregister aufscheine.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und bestätigte den Bescheid des Landeshauptmanns von Wien vom 11. Mai 2020 mit der Maßgabe, dass sich die Abweisung des gegenständlichen Antrags auf § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG stütze. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

4        Das Verwaltungsgericht stellte zusammengefasst fest, dass von einem zur Verfügung stehenden monatlichen Einkommen in der Höhe von € 1.086,90 und monatlichen Ausgaben in der Höhe von insgesamt € 773,66 auszugehen sei. Letztere setzten sich zusammen aus der Miete in der Höhe von ca. € 499,--, Kreditraten in der Höhe von insgesamt ca. € 136,-- sowie Kosten für Strom in der Höhe von ca. € 50,--, für Fernwärme in der Höhe von € 30,--, für die Wiener Linien in der Höhe von € 33,-- sowie für die GIS-Gebühr in der Höhe von ca. € 25,--. Weder vom Revisionswerber noch von dessen Ehegattin seien Ersparnisse nachgewiesen worden. Im Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels wäre der Revisionswerber bei seiner Ehegattin mitversichert. Ein arbeitsrechtlicher Vorvertrag für den Revisionswerber sei nicht vorgelegt worden.

5        In rechtlicher Hinsicht erwog das Verwaltungsgericht Wien, dass in dem vom Revisionswerber zuletzt übermittelten türkischen Strafregisterauszug bescheinigt werde, dass keine Eintragungen vorlägen. Auch wenn frühere Strafurteile noch nicht getilgt erschienen, sei das Vorbringen des Revisionswerbers, wonach seine Verurteilungen aufgrund einer Amnestie gelöscht worden seien, mangels gegenteiliger „Sachinformation“ nicht zu widerlegen. Aus diesem Grund sei der von der Behörde herangezogene Abweisungsgrund nicht zu bestätigen.

6        Eine ortsübliche Unterkunft sei nachgewiesen worden. Von einer Mitversicherung sei auszugehen. Der Nachweis von Deutschkenntnissen habe „aufgrund der Stillhalteklausel“ entfallen können.

7        Somit sei zu prüfen gewesen, ob die vorhandenen Geldmittel ausreichten oder ob der Aufenthalt des Revisionswerbers zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könne. Nach Abzug der Ausgaben verbleibe unter Berücksichtigung des Wertes der freien Station ein Betrag in der Höhe von ca. € 613,--. Dieses Einkommen liege nicht über dem maßgeblichen Richtsatz in der Höhe von € 1.524,99. Das erforderliche Haushaltseinkommen werde somit nicht erzielt.

8        Eine gemäß § 11 Abs. 3 NAG vorzunehmende Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK falle zu Ungunsten des Revisionswerbers aus. Dieser habe sich noch nie in Österreich aufgehalten. Es sei ihm durchaus zumutbar, die bestehenden familiären Beziehungen so wie bisher zu pflegen. Sein Interesse, in Österreich ein Familienleben mit seiner Ehegattin zu führen, habe gegenüber den öffentlichen Interessen an der Versagung des beantragten Aufenthaltstitels zurückzutreten.

9        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung u.a. geltend gemacht wird, die verwaltungsgerichtlichen Feststellungen seien in einem entscheidungswesentlichen Punkt aktenwidrig; das Verwaltungsgericht sei davon ausgegangen, dass keine Ersparnisse nachgewiesen worden seien, obwohl die Ehegattin des Revisionswerbers dem Gericht einen Kontoauszug mit einem dort ausgewiesenen Guthaben in der Höhe von € 10.000,-- übermittelt habe.

10       Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11       Die Revision erweist sich im Hinblick auf das oben wiedergegebene Zulässigkeitsvorbringen als zulässig und berechtigt.

12       Das Verwaltungsgericht stützte die Abweisung der Beschwerde des Revisionswerbers auf das Fehlen der Erteilungsvoraussetzungen nach § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG.

13       § 11 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, lautet auszugsweise:

„§ 11. ...

(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn

...

4.der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;

...

(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§ 2 Abs. 4 Z 3) oder durch eine Haftungserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 15) ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß § 291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr. 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage.“

14       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann der Unterhalt des Fremden grundsätzlich auch durch ein Sparguthaben gedeckt werden, wobei solche Guthaben nicht aus illegalen Quellen stammen dürfen (vgl. VwGH 3.6.2020, Ra 2019/22/0165 bis 0168, Rn. 26).

15       Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wurde mit Eingabe vom 12. Oktober 2020 ein Kontoauszug der Ehegattin des Revisionswerbers mit einem Guthaben in der Höhe von € 10.000,-- (Kontostand vom 5. Oktober 2020) vorgelegt, das in die Erwägungen des Verwaltungsgerichts keinen Eingang fand. Zu diesem Bankguthaben traf das Verwaltungsgericht, das lediglich festhielt, dass keine Ersparnisse nachgewiesen worden seien, keinerlei Feststellungen. Es sind dem angefochtenen Erkenntnis auch keine Ausführungen zu entnehmen, aus welchen Gründen davon auszugehen wäre, dass das in Rede stehende Guthaben nicht oder nicht in voller Höhe zur Deckung des Unterhalts des Revisionswerbers zur Verfügung gestanden und daher bei Prüfung der Voraussetzungen nach § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG nicht (oder nur zum Teil) zu Gunsten des Revisionswerbers zu berücksichtigen gewesen wäre.

16       Angesichts des Betrags der vom Verwaltungsgericht festgestellten, für den Revisionswerber und seine Ehegattin monatlich regelmäßig frei zur Verfügung stehenden Mittel und der diesen Mitteln gegenübergestellten monatlichen Ausgaben ist nicht ausgeschlossen, dass bei zusätzlicher Berücksichtigung des in Rede stehenden Guthabens in der Höhe von € 10.000,-- ein für den Revisionswerber günstigeres Verfahrensergebnis hätte erzielt werden können. Insbesondere bei Durchführung der gebotenen einzelfallbezogenen Prüfung würde eine nur noch geringfügige Unterschreitung des maßgeblichen Richtsatzes nach § 293 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG) besondere Bedeutung gewinnen (vgl. VwGH 25.5.2020, Ra 2019/22/0151, Rn. 15f; zur Maßgeblichkeit der in der Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union [EuGH 4.3.2010, Chakroun, C-578/08] zum Ausdruck kommenden Grundsätze auch für eine Familienzusammenführung durch österreichische Staatsbürger siehe VwGH 21.12.2010, 2009/21/0002). Die Nichtberücksichtigung des am 12. Oktober 2020 in Vorlage gebrachten Kontoauszuges durch das Verwaltungsgericht begründet daher einen relevanten Verfahrensmangel, den die Revision erfolgreich geltend zu machen vermag.

17       Was die in der Revision angesprochenen und vom Verwaltungsgericht Wien in Ansatz gebrachten Ausgaben der Ehegattin des Revisionswerbers für die Netzkarte der Wiener Linien und für die GIS-Gebühren anbelangt, ist für das fortgesetzte Verfahren auf Folgendes ergänzend hinzuweisen:

18       Die anhand von § 11 Abs. 5 NAG vorzunehmende Berechnung beruht auf den Richtsätzen nach § 293 ASVG. Die Bemessung dieser Richtsätze erfolgt in pauschalierender Weise und stellt - offenbar aus verwaltungsökonomischen Überlegungen - auf Regelfälle ab (vgl. Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg.], SV-Komm [233. Lfg.], § 293 ASVG Rn 3; OGH 27.1.2009, 10 ObS 155/08d).

19       Auch in den Materialien zu der mit dem FrÄG 2009 eingeführten Regelung des § 11 Abs. 5 zweiter Satz NAG wird betont (RV 330 BlgNR 24. GP, 43), dass der Zweck des Verweises des § 11 Abs. 5 NAG auf § 293 ASVG darin bestehe, einen ziffernmäßig bestimmten Betrag zu fixieren, bei dessen Erreichung von einer Deckung der üblicherweise notwendigen Kosten der Lebensführung ausgegangen werden könne. In diesem Betrag nicht beinhaltet seien jedoch jene Kosten und Belastungen, die über die gewöhnliche Lebensführung im Einzelfall hinausgingen, womit unterschiedlichen Lebenssachverhalten Rechnung getragen werde. Um klar zu stellen, dass diese außergewöhnlichen Kosten dem gemäß § 293 ASVG erforderlichen Betrag hinzuzählen seien, solle - so die zitierten Materialien weiter - der zweite Satz in § 11 Abs. 5 NAG eingefügt und damit eine Präzisierung herbeigeführt werden. Durch die demonstrative Aufzählung von „Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen“ solle verdeutlicht werden, dass die individuelle Situation des Antragstellers oder des im Falle einer Familienzusammenführung für ihn Aufkommenden die Höhe der erforderlichen Unterhaltsmittel beeinflusse, weshalb die tatsächliche Höhe der Lebensführungskosten als relevanter Faktor mit zu berücksichtigen sei. Diese Ausgaben seien daher wie bisher vom (Netto-)Einkommen in Abzug zu bringen. Dadurch bleibe gewährleistet, dass z.B. mit besonders hoher Miete belastete Fremde von vornherein nachweisen müssten, dass sie sich die von ihnen beabsichtigte Lebensführung im Hinblick auf ihr Einkommen auch tatsächlich leisten könnten. Dezidiert solle nun auch festgelegt werden, dass dabei, das heißt bei der Feststellung der über die gewöhnliche Lebensführung hinausgehenden Kosten, der „Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt“ zu bleiben habe und dass dieser Betrag „zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes“ des § 11 Abs. 5 NAG führe. Diese in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG genannte Größe entspreche dem ziffernmäßigen Betrag der freien „Station“. In Folge dessen, dass nun Mietbelastungen als regelmäßige Aufwendung das feste und regelmäßige Einkommen des Antragstellers schmälerten, habe der Wert der freien Station einmalig unberücksichtigt zu bleiben („Freibetrag“). Dies bedeute, dass letztlich nur jene Mietbelastungen oder andere in der beispielhaften Aufzählung des zweiten Satzes des § 11 Abs. 5 NAG genannte Posten vom im Abs. 5 genannten Einkommen in Abzug zu bringen seien, welche über dem in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG genannten (Frei-)Betrag lägen.

20       Wie somit aus den zitierten Materialien hervorgeht, sollen nach § 11 Abs. 5 zweiter Satz NAG nur über die gewöhnliche Lebensführung hinausgehende, außergewöhnliche (nicht bereits durch die Richtsätze des § 293 ASVG abgedeckte) regelmäßige finanzielle Belastungen (wie z.B. im Fall einer besonders hohen Miete) zu einer Schmälerung der regelmäßig zur Verfügung stehenden festen Einkünfte führen; dies trifft allerdings auf die hier in Rede stehenden im Allgemeinen üblichen Ausgaben für die Benützung eines Verkehrsmittels des öffentlichen Nahverkehrs ebenso wenig zu wie auf die Gebühren, die für den Betrieb von Rundfunkempfangseinrichtungen im Sinn des Rundfunkgebührengesetzes anfallen. Die genannten finanziellen Belastungen bewegen sich weder ihrer Art noch ihrer Höhe nach außerhalb des Rahmens der bei einer Durchschnittbetrachtung zu erwartenden Lebensführungskosten.

21       Die gegenständlichen Ausgaben unterscheiden sich daher auch maßgeblich von den in § 11 Abs. 5 NAG beispielhaft aufgelisteten Aufwendungen für Miete, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Sie treten nämlich anders als besonders hohe Mietzahlungen, Kreditbelastungen, etc. nicht zu jenen Kosten hinzu, die im Regelfall für die Lebensführung des Fremden ohnehin zu erwarten sind.

22       Die Kosten für die Wiener Linien und die GIS-Gebühren sind auch nicht - so wie in der Regel Mietzahlungen, Verpflichtungen für Kredite, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte - einer kurzfristigen Disposition des Fremden im Prinzip entzogen, sodass einerseits eine Reduktion dieser Ausgaben (beispielsweise abhängig von den dem Fremden zum jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen) jederzeit möglich wäre und andererseits nicht notwendigerweise davon auszugehen ist, dass die betreffenden Kosten während der Gültigkeitsdauer des in Rede stehenden Aufenthaltstitels quasi zwingend, ohne dass der Fremde darauf unverzüglich einseitig Einfluss nehmen könnte, anfallen würden.

23       Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Ausgaben für die Benützung eines innerstädtischen öffentlichen Verkehrsmittels sowie für den Betrieb von Rundfunkempfangseinrichtungen mit den nach § 11 Abs. 5 NAG heranzuziehenden Richtsätzen des § 293 ASVG der Höhe nach abgedeckt sind. Es ist der Revision somit darin beizupflichten, dass die Kosten der Ehegattin des Revisionswerbers für eine Netzkarte der Wiener Linien sowie für die GIS-Gebühren nicht zu jenen außergewöhnlichen Aufwendungen zählen, die bei der Ermittlung der dem Fremden frei zur Verfügung stehenden festen und regelmäßigen Einkünfte gemäß § 11 Abs. 5 zweiter Satz NAG in Abzug zu bringen wären (siehe hingegen zu den Ausgaben für Strom und Gas bzw. zu Betriebskosten, die von dem in § 11 Abs. 5 NAG verwendeten Begriff der Mietbelastungen umfasst sind, etwa VwGH 30.3.2020, Ra 2019/22/0210, Rn. 12).

24       Die Revision ist auch damit im Recht, dass eine Berücksichtigung der Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) die Maßgeblichkeit der §§ 47 und 49 Fremdengesetz 1997 (FrG) nach sich zöge (zu den sich bei Anwendbarkeit dieser Bestimmungen für die Prüfung von Unterhaltsmitteln ergebenden Konsequenzen VwGH 16.11.2020, Ra 2019/22/0194, Rn. 14).

25       Das Verwaltungsgericht Wien, das von einem Nachweis von Deutschkenntnissen des Revisionswerbers unter Hinweis auf „die Stillhalteklausel“ absah, setzte ohne nähere Begründung und ohne jegliche Grundlage in seinen Feststellungen die Anwendbarkeit „einer“ Stillhalteklausel voraus. Es fehlen dem angefochtenen Erkenntnis jedoch hinsichtlich der Anwendungsvoraussetzungen einer assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel die erforderlichen Feststellungen, und zwar betreffend eine allfällige (konkret unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit und/oder die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr fallende) tatsächlich bestehende Erwerbsabsicht des Revisionswerbers (dazu VwGH 20.4.2021, Ra 2020/21/0505, Rn. 10; 18.4.2018, Ra 2018/22/0004, Rn. 10).

26       Ungeachtet dessen liegt dem angefochtenen Erkenntnis nach dem zuvor Gesagten auch in diesem Zusammenhang eine Verkennung der Rechtslage zugrunde, weshalb es letztlich gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen prävalierender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.

27       Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 9. September 2021

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021220029.L00

Im RIS seit

09.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.10.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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