TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/24 L524 2226360-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.02.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

24.02.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §15b Abs1
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L524 2226360-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Veronika Sanglhuber LL.B. über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.10.2019, Zl. 1246889001-190977205/BMI-EAST_WEST, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG und dem FPG, zu Recht:

A) Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis VI. wird als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt VII. stattgegeben und dieser ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Am 22.09.2019 wurde dem Beschwerdeführer, einem türkischen Staatsangehörigen, die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verweigert. Er wurde am 23.09.2019 gemäß § 39 FPG festgenommen und über ihn die Schubhaft verhängt. Nachdem der Beschwerdeführer am 24.09.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, wurde er aus der Schubhaft entlassen.

2. Bei der am 25.09.2019 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte er vor, er sei Kurde und Türke, ledig und konfessionslos. Er habe in XXXX in der Provinz Kahramanmara? gelebt. Er habe vier Jahre die Volksschule, drei Jahre die Hauptschule und drei Jahre eine Allgemeinbildende Höhere Schule besucht und zuletzt als Baufacharbeiter gearbeitet. In der Türkei würden noch seine Eltern, vier Schwestern und ein Bruder leben. Zwei Cousins würden in Deutschland leben. Der Beschwerdeführer habe die Türkei am 28.07.2019 legal verlassen. Hinsichtlich seines Fluchtgrundes gab er an, dass er die Türkei aus politischen Gründen verlassen habe, da er in das Heim eines angeblichen Terroristen gegangen sei. Er befürchte, im Falle der Rückkehr inhaftiert zu werden, da er den Personalausweis seiner Schwestern gefälscht und sie bei der Flucht unterstützt habe.

3. Bei der ersten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 02.10.2019 gab der Beschwerdeführer an, dass er nach dem Schulabschluss 16 Jahre im Bausektor gearbeitet habe und Meister für Planprojekte sei. Zuletzt habe er für eine Firma im Bezirk XXXX in der Provinz Aydin gearbeitet und dabei etwa 3.500 Türkische Lira verdient. Von 2003 oder 2004 bis 2016 oder 2017 sei er in Nordzypern gewesen und habe dort gearbeitet. Er sei in Nordzypern 32 Monate im Gefängnis gewesen, weil er einem Freund bei einer Suchtgiftübergabe geholfen habe. Nach seiner Rückkehr habe er seiner Schwester, die Direktorin in einem Heim für Mädchen unter dem Namen Gülen gewesen sei, deren Ehemann und gemeinsamer Tochter sowie seinem Bruder, der von seiner Funktion beim türkischen Militär suspendiert worden sei, zur Flucht nach XXXX verholfen, indem er ihnen gefälschte Personalausweise beschafft habe. Seine Geschwister seien als Staatsverräter bezeichnet worden. Der Beschwerdeführer sei in XXXX als Wehrdienstverweigerer erwischt worden, habe deshalb zwischen 2017 und 2018 eine Geldstrafe von 10.400 Türkischen Lira erhalten und habe den gesamten Wehrdienst ableisten müssen.

Vor seiner Ausreise aus der Türkei sei er nicht bedroht worden. Im Falle einer Rückkehr befürchte er bedroht zu werden, weil er für seine Geschwister Dokumente habe fälschen lassen und in einem Heim von Gülen untergebracht gewesen sei. Er vermute, deswegen 15 Jahre in Haft verbringen zu müssen, vielleicht aber auch acht oder elf Jahre. Ob wegen der gefälschten Dokumente gegen ihn ermittelt werde, wisse er nicht. Während seiner letzten beruflichen Tätigkeit für eine Firma in XXXX sei er mit der Abholzung mehrerer Bäume auf einem Grundstück beauftragt worden. Im Nachhinein habe sich herausgestellt, dass der Auftraggeber dieses Projektes, der Gülen-Anhänger sei, nicht der Eigentümer des Grundstückes gewesen sei. Dieses habe vielmehr dem türkischen Staat gehört. Dieses Ereignis habe das Fass zum Überlaufen gebracht und er sei mit seinen Freunden geflüchtet.

4. Am 10.10.2019 erfolgte eine weitere Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem BFA. Der Beschwerdeführer wurde zu seiner Inhaftierung, zum Wehrdienst und einer verhängten Geldstrafe befragt. Seine Schwester sei Direktorin eines Internats einer Fethullah-Gülen-Mädchen Schule und ihr Ehegatte Direktor einer Fethullah-Gülen Schule in der Provinz Kütahya gewesen. Es seien keine normalen Schulen, sondern Internatsgebäude. Wegen dieser Tätigkeit hätten sie sich vor Gericht verantworten müssen und auch eine gerichtliche Strafe erhalten. Der Beschwerdeführer selbst sei kein Mitglied der Gülen-Bewegung und auch kein Sympathisant. Er habe auch ansonsten, mit Ausnahme seiner zweijährigen Unterbringung in einem Gülen-Internat in seiner Kindheit, keine Verbindungen zur Gülen-Bewegung. Er befürchte wegen seines Internatsaufenthalts, des Umstandes, dass er gefälschte Dokumente für seine Schwester und seinen Schwager beschafft habe und wegen der illegalen Abholzung eines Grundstückes des türkischen Staates im Auftrag seines ehemaligen Dienstgebers verfolgt zu werden.

5. Mit Bescheid des BFA vom 31.10.2019, Zl. 1246889001-190977205/BMI-EAST_WEST, wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 15b Abs. 1 AsylG wurde dem Beschwerdeführer aufgetragen ab 26.09.2019 im Quartier „ XXXX “ Unterkunft zu nehmen.

Begründend wurde ausgeführt, dass den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründen jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen gewesen sei. Es hätten sich keine Hinweise auf das Vorliegen eines Sachverhaltes, welcher zur Gewährung von subsidiärem Schutz führen würde ergeben. Nach Abwägung aller Interessen ergebe sich, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.

II. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, Kurde und konfessionslos. Er ist gesund, ledig und hat keine Kinder. Der Beschwerdeführer wurde in XXXX , in der Provinz Kahramanmara?, geboren. Er besuchte dort vier Jahre die Volksschule, drei Jahre die Hauptschule und drei Jahre eine Allgemeinbildende Höhere Schule. Den Schulbesuch schloss er im Jahr 2001 ab.

Ab ca. 2003/2004 bis ca. 2016/2017 lebte und arbeitete der Beschwerdeführer in Nordzypern. Der Beschwerdeführer wurde in Nordzypern wegen eines Drogendelikts zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Aus der Haft wurde er vorzeitig, nach 32 Monaten, entlassen.

Nach seiner Rückkehr in die Türkei leistete der Beschwerdeführer den 12-monatigen Wehrdienst ab und war danach wieder berufstätig. Es kann nicht festgestellt werden, welche konkreten Berufe der Beschwerdeführer ausgeübt hat. Der Beschwerdeführer lebte und arbeitete zuletzt in der Provinz Aydin. Seine Eltern, vier Schwestern und ein Bruder leben nach wie vor in der Türkei.

Der Beschwerdeführer verließ ca. im Juli 2019 legal die Türkei und reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein. Am 22.09.2019 wurde dem Beschwerdeführer die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verweigert. Er wurde am 23.09.2019 gem. § 39 FPG festgenommen und die Schubhaft über ihn verhängt. Am 24.09.2019 stellte er den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und wurde aus der Schubhaft entlassen.

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe, wonach er wegen seines Aufenthalts in seiner Kindheit in einem Gülen-Heim, der Beschaffung von gefälschten Dokumenten bzw. der Fälschung von Dokumenten für seine Schwester, seinen Schwager und seinen Bruder und wegen der illegalen Abholzung eines Grundstückes, das im Eigentum des türkischen Staates steht, verfolgt werde, sind nicht glaubhaft. Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied der Gülen-Bewegung.

Der Beschwerdeführer ist gesund und verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte. Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer über Deutschkenntnisse verfügt. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Zur Lage in der Türkei:

KI vom 27.6.2019, neues Wehrgesetz

Am 25.6.2019 trat ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wird von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Gemäß dem neuen Gesetz müssen männliche türkische Staatsbürger im Alter von über 20 Jahren (bis 41) eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von 31.000 Lira (ca. 4.725 €) freikaufen. Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten, haben die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Über 100.000 Soldaten werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes vorzeitig entlassen [da sie bereits sechs oder mehr Monate gedient haben], während etwa 460.000 Männer berechtigt sind sich frei zu kaufen. Das Gesetz sieht überdies vor, dass Wehrpflichtige nach den sechs Monaten ihren Militärdienst freiwillig gegen ein monatliches Gehalt von 2.000 Lira verlängern können. Leisten die Betreffenden ihre zusätzlichen sechs Monate in den südöstlichen und östlichen Provinzen wie Gaziantep, ??rnak und Hakkari ab, erhalten sie zusätzlich monatlich 1.000 Lira. Der Staatspräsident ist befugt, die Dauer der Wehrpflicht zu ändern, wobei die gegebenen sechs Monate nicht unterschritten werden dürfen (HDN 25.6.2019, vgl. DS 25.6.2019, IPA News 26.6.2019).

Quellen:

•        DS – Daily Sabah (25.6.2019): New military service law approved, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475, Zugriff 27.6.2019

•        HDN - Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, https://www.dailysabah.com/turkey/2019/06/25/parliament-adopts-bill-reducing-conscription-making-paid-military-service-exemption-permanent, Zugriff 27.6.2019

•        IPA News (26.6.2019): Parliament brings major changes for Turkey’s military service law, https://ipa.news/2019/06/26/parliament-brings-major-changes-for-turkeys-military-service-law/,

KI vom 24.6.2019, Wahlen in Istanbul

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdo?an mehrmals erklärt: wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem ?mamo?lu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl, wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees, annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54% bzw. mit einem Vorsprung von fast 800.000 Stimmen auf den Kandidaten der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, der 45% erreichte (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren), sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Quellen:

•        Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613, Zugriff 24.6.2019

•        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html, Zugriff 24.6.2019

•        Der Standard (1.4.2019): Erdo?ans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-die-tuerkischen-Grossstaedte, Zugriff 24.6.2019

•        Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https://derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung-in-Istanbul-in-Fuehrungin-Istanbul, Zugriff 24.6.2019

•        NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidat-imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.1490981, Zugriff 24.9.2019

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen „Volksbündnis“, verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit „Rechtskraft“ zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

•        AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html,

•        AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018

•        EC – European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

•        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018

•        HDN – Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018

•        HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018

•        HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018

•        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273,

•        OSCE – Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018

•        OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018

•        OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey – Early Presidential and Parliamentary Elections – 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 19.9.2018

•        SCF – Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov’t investigates 612,347 people over ‘armed terror organization’ links in 2 years, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terror-organization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018

•        TP – Turkey Purge (29.8.2018): Turkey’s post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/, Zugriff 10.10.2018

•        TP – Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov’t, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terror-investigations-in-turkey-in-past-2-years-govt,

•        ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.9.2018

Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als „eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist“ (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdo?ans, als letzterer die Macht übernahm. Erdo?an nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdo?an Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).

Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdo?an, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Muižnieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Muižnieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).

Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).

Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).

Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).

Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes „ByLock“ (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung „Zaman“ oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).

Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung „ByLock“ aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).

Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).

Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Ayd?ner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018).

Präsident Erdo?an hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).

Quellen:

•        Anadolu (24.9.2018): Turkey: Over 20 FETO suspects arrested in Istanbul, https://www.aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-over-20-feto-suspects-arrested-in-istanbul/126289, Zugriff 24.9.2018

•        BBC News (21.7.2016): Turkey coup: What is Gulen movement and what does it want? http://www.bbc.com/news/world-europe-36855846, Zugriff 20.9.2018

•        bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (1.9.2014): Die Gülen-Bewegung in der Türkei und Deutschland, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184979/guelen-bewegung, Zugriff 20.9.2018

•        bpb - Bundeszentrale für politische Bildung. Dohrn, Kristina (27.2.2017): Aus Politik und Zeitgeschichte – Türkei: DIE GÜLEN-BEWEGUNG – Entstehung und Entwicklung eines muslimischen Netzwerks, http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/ApuZ_2017-09-10_online.pdf, Zugriff 20.9.2018

•        CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (7.10.2016): Memorandum on the human rights implications of the measures taken under the state of emergency in Turkey [CommDH(2016)35], https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016806db6f1,

•        DS – Daily Sabah (11.2.2018): Depositing money in Bank Asya on Gülen’s order proof of FETÖ membership, https://www.dailysabah.com/investigations/2018/02/12/depositing-money-in-bank-asya-on-gulens-order-proof-of-feto-membership-1518386092, Zugriff 21.9.2018

•        EC – European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

•        GM – Gülen Movement (o.D.): What is the Gülen Movement, http://www.gulenmovement.us/gulen-movement/what-is-the-gulen-movement, Zugriff 20.9.2018

•        HDN – Hürriyet Daily News (27.5.2016): Turkey to add Gülen movement to list of terror groups: President, http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-to-add-gulen-movement-to-list-of-terror-groups-president-.aspx?pageID=238&nID=99762&NewsCatID=338, Zugriff 20.9.2018

•        NYT – New York Times (13.4.2017): Inside Turkey’s Purge, https://www.nytimes.com/2017/04/13/magazine/inside-turkeys-purge.html, Zugriff 24.9.2018

•        NYT – New York Times (5.4.2018): Turkish Secret Agents Seized 80 People in 18 Countries, Official Says, https://www.nytimes.com/2018/04/05/world/europe/turkey-coup-arrests-extraditions.html?module=inline,

•        PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Ad hoc Sub-Committee on recent developments in Turkey (15.12.2016): Report on the fact-finding visit to Ankara (21-23 November 2016)[ AS/Pol (2016) 18rev], http://website-pace.net/documents/18848/2197130/20161215-Apdoc18.pdf/35656836-5385-4f88-86bd-17dd5b8b9d8f, Zugriff 20.9.2018

•        Der Standard (30.11.2017): EU sieht in Gülen-Bewegung keine Terrororganisation, https://derstandard.at/2000068784722/EU-sieht-in-Guelen-Bewegung-keine-Terrororganisation,

•        Der Standard (20.12.2014): Haftbefehl gegen Erdogan-Feind Gülen, https://derstandard.at/2000009628933/hTuerkischer-Zaman-Chefredakteur-unter-Auflagen-frei#,

•        Der Standard (3.10.2018): Polizeieinsatz vor Haus des Erdo?an-Gegners Gülen in Pennsylvania, https://derstandard.at/2000088624065/Polizeieinsatz-vor-Haus-des-Erdogan-Gegners-Guelen-in-Pennsylvania,

•        SCF – Stockholm Center for Freedom (28.4.2018): Turkish gov’t jailed 77,081 people since controversial coup attempt in 2016 over alleged links to Gülen movement, https://stockholmcf.org/turkish-govt-jailed-77081-people-since-controversial-coup-attempt-in-2016-over-alleged-links-to-gulen-movement/, Zugriff 21.9.2018

•        SCF – Stockholm Center for Freedom (20.6.2018): Turkish gov’t investigates 203,518 people over links to Gülen movement thus far, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-203518-people-over-links-to-gulen-movement-thus-far/,

•        taz.gazete (9.2.2018): 7 Jahre Knast wegen 1 Dollar, https://gazete.taz.de/article/?article=!5483559,

•        TM - Turkish Minute (27.11.2017): Turkey detains close to 6,000 over Gülen links in last two months, https://www.turkishminute.com/2017/11/27/turkey-detains-close-to-6000-over-gulen-links-in-last-two-months/,

•        TM – (30.5.2018): Detention warrants issued for 59 Bank Asya customers over alleged Gülen links, https://www.turkishminute.com/2018/05/30/detention-warrants-issued-for-59-bank-asya-customers-over-alleged-gulen-links/,

•        TP – Turkey Purge (2.9.2018): 445,000 people in Turkey faced investigation over Gulen links so far: ministry, https://turkeypurge.com/445000-people-in-turkey-faced-investigation-over-gulen-links-so-far-ministry,

•        VB -Verbindunsbeamter (VB) des BM.I für die Türkei (26.9.2018): Auskunft des VB per Mail

Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 „Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte“, HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdo?an Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führten zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 3.8.2018).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte), und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi). Die Staatssicherheitsgerichte (Devlet Güvenlik Mahkemeleri-DGM) wurden im Zuge der Reformen für die EU-Beitrittsverhandlungen 2004 abgeschafft und die laufenden Fälle an die Großen Strafkammern (A??r Ceza Mahkemeleri) abgegeben (ÖB 10.2017).

Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC 17.4.2018, vgl. AI 22.2.2018).

Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).

Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden (FH 1.2018).

Insgesamt wurden seit dem Putschversuch über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern entlassen, von denen 454 später vom HSK wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden. Gegenwärtig gibt es über 4.000 Richter und Staatsanwälte, gegen die rechtliche Schritte eingeleitet wurden (Entlassung oder Suspendierung). Richter und Staatsanwälte, die sich in Untersuchungshaft befanden, blieben im Durchschnitt mehr als ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (EC 17.4.2018).

Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), eine unabhängige Vereinigung der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert (PACE 15.12.2016, vgl. AM 9.11.2016). YARSAV gehörte zu den ersten, die auf internationaler Ebene über die Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei sprachen, und alsbald als einzige türkische Organisation der Internationalen Richtervereinigung sowie den „Europäischen Richtern für Demokratie und Freiheitsrechte“ (MEDEL) beitrat. Obwohl YARSAV sich einst vehement gegen die Aufnahme von Gülen-Mitgliedern in die Justiz ausgesprochen hatte, wurde die Schließung von YARSAV mit der Nähe zur Gülen-Bewegung begründet (AM 9.11.2016).

Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen (AA 3.8.2018).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten (AA 3.8.2018).

Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre (ÖB 10.2017).

Während des Ausnahmezustandes hat der Ministerrat mehr als 30 Dekrete erlassen, die nach der Verfassung "rechtskräftig" sind. Diese Notverordnungen betrafen die Einschränkung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte, der Ausweitung der Polizeibefugnisse und der Befugnisse der Staatsanwälte für Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen, die massiven Entlassungen von Beamten und die Schließung von Körperschaften sowie die Liquidation ihres Vermögens durch den Staat. Sie betreffen zudem Schlüsselrechte im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbeistand und das Recht auf Schutz des Eigentums. Sie enthalten Änderungen für andere wichtige Rechtsmaterien, die auch nach dem Ausnahmezustand Wirkung zeigen werden, insbesondere in Bezug auf Eigentumsrechte, lokale Behörden, öffentliche Verwaltung und Telekommunikation. Die Dekrete werfen ernsthafte Fragen die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen betreffend auf. Sie wurden vom Parlament nicht sorgfältig und wirksam geprüft und zudem verspätet verabschiedet. Folglich standen die Dekrete lange Zeit nicht der gerichtlichen Überprüfung offen, da die Verabschiedung durch das Parlament ein notwendiger Schritt vor jeder rechtlichen Anfechtung vor dem Verfassungsgericht ist. Keines der Dekrete war bisher Gegenstand einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (EC 17.4.2018).

Ein am 9.12.2016 von den Verfassungsrechtsexperten des Europarates – der Venedig-Kommission – verabschiedetes Gutachten kommt zum Schluss, dass die türkischen Behörden zwar „mit einer gefährlichen bewaffneten Verschwörung“ konfrontiert waren und „gute Gründe“ hatten, den Ausnahmezustand auszurufen, doch dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen über das hinausgingen, was gemäß der türkischen Verfassung und dem Völkerrecht zulässig ist. Obwohl die Bestimmungen der türkischen Verfassung zur Ausrufung des Ausnahmezustands in Einklang mit den europäischen Normen zu stehen scheinen, übte die Regierung ihre Notstandsbefugnisse mithilfe einer Anlassgesetzgebung aus. Etwa die Massenentlassungen zehntausender Beamter auf der Grundlage von den Notdekreten beigefügten Listen, erwecken stark den Anschein von Willkür. Der Begriff der Verbindung (zur Gülen-Bewegung) ist zu vage definiert, und selbst wenn Mitglieder des Gülen-Netzwerks an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt waren, sollte dieser Umstand nicht dazu verwendet werden, gegen alle Personen vorzugehen, die in der Vergangenheit mit dem Netz irgendwie in Kontakt standen (CoE-VC 9.12.2016).

Die Verfassung sieht das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, obwohl Anwaltsverbände und Rechtsvereinigungen geltend machten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und Maßnahmen der Regierung durch Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährdet hätten. Richter können den Zugang von Rechtsanwälten zu den Akten der Angeklagten während der Strafverfolgungsphase einschränken. Zwar haben Angeklagte das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und rechtzeitig einen Anwalt hinzuzuziehen, doch stellten Beobachter fest, dass die Gerichte es insbesondere in hochkarätigen Fällen verabsäumen, den Angeklagten diese Rechte auch einzuräumen (USDOS 20.4.2018).

Die Regierung setzte auch ihre groß angelegte Entlassung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst fort. Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden insgesamt 115.158 Beamte, Richter und Staatsanwälte entlassen. Das breite Spektrum und der kollektive Charakter dieser Maßnahmen wirft ernsthafte Fragen im Hinblick auf die mangelnde Transparenz der Verwaltungsverfahren, die zur Entlassung aus dem öffentlichen Dienst führen, und die Unklarheit der Kriterien für die Bestimmung angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und die persönliche Beteiligung am Putschversuch auf. Von den Entlassungen waren vor allem das Innen- und Bildungsministerium betroffen. Tausende von Polizeibeamten, Lehrern, Akademikern, Gesundheitspersonal und Angehörigen der Justiz gehören zu denen, die aus dem Amt entfernt wurden (EC 17.4.2018).

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen, die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereinen und Firmen entgegenzunehmen (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017, vgl. EC 17.4.2018). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017). Bis zur Einsetzung der Kommission wurden 3.604 Personen per Dekret wieder ins Amt eingesetzt, während weitere 36.000 Wiedereinsetzungen nach einem unklaren und undurchsichtigen Verwaltungsverfahren in verschiedenen Institutionen erfolgten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch etwa 28.000 bei ihm eingegangene Beschwerden an die Berufungskommission weitergeleitet. Infolgedessen hat die Beschwerdekommission bis Anfang März 2018 insgesamt rund 107.000 Beschwerdeanträge erhalten. Die Urteilsverkündungen begannen im Dezember 2017. Bis Anfang März 2018 wurden insgesamt 6.400 Fälle untersucht, darunter 1.984 vorläufige Prüfungsentscheidungen zu Personen, die per Dekret wieder eingegliedert wurden. Die Beschwerdekommission hat über 4.400 Prüfungsentscheidungen getroffen. Von diesen waren 100 positiv und 4.316 wurden abgelehnt. Es bedarf laut Europäischer Kommission einer größeren Transparenz der Arbeit der Beschwerdekommission und einer klaren Begründung für ihre Entscheidungen auf der Basis einer individuellen Prüfung jeder Akte nach ihren eigenen Gesichtspunkten (EC 17.4.2018).

Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht, welches u. a. die Straffreiheit von Zivilisten regelt, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Hierbei wurde Artikel 121 des Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017). Kritiker befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste (FNS 31.12.2017; vgl. OHCHR 3.2018). Der türkische Justizminister bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vgl. FNS 31.12.2017).

288 Prozesse wurden landesweit wegen des Putschversuches durchgeführt, bei denen die Gerichte 180 Urteile gefällt haben. 636 Verdächtige erhielten eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe, während 888 zu lebenslangen und 653 zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren verurteilt wurden. In den Prozessen wegen des Putschversuches wurden 1.552 Verdächtige freigesprochen, und in 595 Fällen wurde eine sog. Nichtverfolgungsentscheidung getroffen (SCF 20.6.2018, HDN 7.6.2018). So verhängte ein Gericht in Izmir gegen 104 der 280 Angeklagten wegen "versuchten Umsturzes der Verfassungsordnung" sogenannte "verschärfte" lebenslange Haftstrafen. 21 weitere Angeklagte wurden zu zwanzigjährigen Haftstrafen wegen der versuchten Ermordung von Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdo?an verurteilt. 31 Angeklagte müssen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" für zehneinhalb Jahre in Haft. Alle Angeklagten seien frühere Angehörige des Militärs gewesen, darunter mehrere Generäle und ranghohe Offiziere (ZO 21.5.2018).

Per Dekret wurde Staatspräsident Erdo?an im August 2017 ermächtigt, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen (HB 28.8.2017). Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen (AM 30.8.2017).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

•        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html, Zugriff 19.9.2018

•        AM – Al Monitor (9.11.2016): AKP targets judicial independence in latest post-coup takedown, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/11/turkey-silenced-critical-judges.html, Zugriff 19.9.2018

•        AM – Al Monitor (30.8.2017): E

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten