Entscheidungsdatum
06.09.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L526 2140713-1/19E
L526 2140715-1/20E
L526 2140711-1/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
1.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien, vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung am XXXX 2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
2.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien und Russische Föderation, vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung am XXXX .2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkte II und III zu lauten haben:
II. Gemäß § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wird Ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen.
III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß §§ 57 nicht zuerkannt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 nach Armenien zulässig ist.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
3.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien, gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , diese vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung am XXXX .2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
BESCHLUSS
1.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien, vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , beschlossen:
A) Der Antrag auf Kostenersatz wird als unzulässig zurückgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
2.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien und Russische Föderation, vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , beschlossen:
A) Der Antrag auf Kostenersatz wird als unzulässig zurückgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
3.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien, gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , diese vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Herbert POCHIESER gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , beschlossen:
A) Der Antrag auf Kostenersatz wird als unzulässig zurückgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrenshergang
I.1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz "BF" oder gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch als "BF1" bis "BF3" bezeichnet) brachten nach rechtswidriger Einreise in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union Anträge auf internationalen Schutz ein. BF1 und BF2 sind Ehegatten. BF3 ist ihr gemeinsamer Sohn. Alle BF sind Staatsangehörige der Republik Armenien; BF2 ist auch Staatsbürger der Russischen Föderation.
BF1 und BF3 reisten zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt mit einem polnischen Touristenvisum von XXXX über Moskau nach Wien und stellten am 11.8.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Anlässlich ihrer Erstbefragung nach dem Asylgesetz gab BF1 zu ihren Ausreisegründen an, sie sei Hilfskrankenschwester in XXXX gewesen, wo sie mit einem Zahnarzt zusammengearbeitet habe. Dieser habe kurz nach ihrer Einstellung angefangen, sie sexuell zu belästigen. Nach acht Arbeitsmonaten habe sie dort gekündigt. Anschließend habe sie noch Anrufe von dem Zahnarzt erhalten, welcher sie damit erpresst habe, dass er alles ihrem Mann erzählen würde, wobei es sich jedoch um Unwahrheiten gehandelt habe. Die Ereignisse hätten sie nervlich krank gemacht, sodass sie von zu Hause weggelaufen sei und auch zwei Mal versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Daraufhin sei sie von ihrem Mann in die Psychiatrie gebracht worden, wo sie vierundzwanzig Tage stationär behandelt worden sei; das sei im März 2013 gewesen. Nach ihrer Entlassung habe sie immer wieder zur Kontrolle in das Krankenhaus gehen müssen. Sie nehme nach wie vor Medikamente gegen ihre Beschwerden. Einen Monat später sei ihr Mann nach Russland gefahren, um dort zu arbeiten und habe sich dann bei ihr nicht mehr gemeldet. Sie habe in XXXX bei ihrer alten und kranken Großmutter gelebt. Da sie selbst auch krank gewesen sei und ihren Sohn nicht selbst habe versorgen können, hätte sie zu ihren Eltern nach Österreich reisen müssen.
Zu ihren Rückkehrbefürchtungen gab BF1 an, dass ihre Großmutter alt und krank sei und sie ihr Mann verlassen habe. Da sie an einer schweren Psychose leide, brauche sie die Eltern, damit diese für sie und ihren Sohn sorgen können.
Zu ihrem Reisepass gab BF1 an, dass sie ihren und jenen des Sohnes dem Rat des Schleppers folgend vernichtet habe.
Zum Akt gegeben wurden eine Heirats- und Geburtsurkunde, jeweils in armenischer Sprache
I.2. BF2 reiste mit einem Touristenvisum von Moskau über Ungarn nach Wien und stellte am 28.12.2015 seinen Antrag auf internationalen Schutz. BF2 gab bei seiner Erstbefragung an, dass seine Ehefrau gesundheitliche Probleme habe und seit 2012 in Österreich lebe. Er wolle bei ihr und dem gemeinsamen Sohn leben.
I.3. Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der nunmehr belangten Behörde (in weiterer Folge auch kurz "bB" genannt) gab BF1 am 4.11.2014 zusammengefasst Folgendes an:
Sie habe zehn Jahre lang die Schule besucht und danach an der Universität Rechnungswesen studiert. Danach habe sie acht Monate als Krankenschwester und auch im Büro der Aufnahme gearbeitet. Sie habe mit ihrer Großmutter, ihrem Gatten und dem gemeinsamen Sohn in der Eigentumswohnung der Großmutter gelebt. Die Ausreise habe sie sich mit Geld aus einem Schmuckverkauf finanziert. Die Großmutter lebe noch in der Eigentumswohnung; finanziell gehe es dieser gut. Ihre Eltern würden in Österreich leben. Diese hätten den Status der subsidiär Schutzberechtigten erhalten; der Vater habe eine genetische Krankheit. Sie besuche die Eltern sehr oft und telefoniere auch jeden Tag mit ihnen.
Zu ihren Ausreisegründen gab BF1 zusammengefasst an, sie habe im Jahr 2012 in einem Krankenhaus zu arbeiten begonnen und mit einem Zahnarzt gearbeitet. Ihre Probleme hätten mit ihm begonnen. Er habe sie sexuell belästigt. Er habe sie begrapscht, sie sei ihm ausgewichen. Einmal sei er sehr aufdringlich geworden. Er sei wie ein Besessener, wie ein Tier geworden. Dieser Mann sei sehr reich gewesen. Er habe auch sexuelle Probleme gehabt und sie habe erfahren, dass er sein eigenes Kind sexuell missbraucht habe. Ihre Kolleginnen hätten sie vor ihm gewarnt. Einmal habe er die Türe versperrt, sodass sie nicht mehr hinauskönnen habe. Er habe ihr die Kleidung zerreißen, sie auf den Boden legen und küsse wollen. Er sei aggressiver geworden, je mehr sie sich gewehrt habe. Sie habe gedroht, zur Polizei zu gehen, da sie dort Verwandte habe, er habe aber gemeint, er habe so viel Geld, dass er diese kaufen könne und sie werde sich nur selber schaden. Er habe auch gedroht, alles ihrem Mann zu erzählen und ihrem Kind zu schaden, wenn sie zur Polizei gehen würde. Sie habe Psychosen bekommen und Stimmen gehört. Es sei ihr so vorgekommen, als leide sie an HIV und Syphilis und würde dieser Mann ihre Gedanken kontrollieren, sodass sie niemandem etwas erzählen könne. Sie habe ungefähr acht Monate dort gearbeitet. Die Belästigungen hätten nach etwa fünf Monaten begonnen. Sie sei ungefähr drei Mal in der Woche belästigt worden, wobei sie begrapscht worden sei - beispielsweise habe er sie von hinten gepackt und stark an sich gedrückt; er habe ihre Brüste und die Genitalien angefasst; wenn sie einen Rock getragen habe, habe er diesen hinuntergezogen, er sei von hinten gekommen und habe sie gegen ihren Willen geküsst - und dieser Mann ihr auch unanständige Angebote gemacht habe. Der erwähnte Übergriff, als der Zahnarzt die Türe versperrt habe, sei gegen 20 oder 21 Uhr erfolgt. Er sei von hinten gekommen, als sie am Tisch saß und habe sie ausziehen wollen. Er habe sie mit Gewalt auf den Behandlungsstuhl gelegt und habe versucht, sie an ihren Genitalien zu küssen. Während sie auf dem Stuhl gelegen sei, habe sie nach Gegenständen gesucht, mit denen sie den Mann hätte schlagen können und schließlich sei ihr das auch mit einer Plastikdose gelungen. Sie habe ihn auch getreten, jedoch sei er stärker als sie gewesen und er habe ihr auch den Mund zugehalten. Sie habe dann einen Erstickungsanfall vorgetäuscht, weshalb er seine Hand wieder von ihrem Mund genommen habe. Er habe es dann wohl mit der Angst zu tun bekommen und habe sich, nachdem sie zu schreien begann, schließlich zurückgezogen, woraufhin sie habe flüchten können. Das sei ihr letzter Arbeitstag gewesen. Wie lange genau sie danach die Heimat verlassen habe, wisse sie nicht, sie glaube aber, dass das ungefähr ein Jahr später gewesen sei.
Nach diesem Vorfall habe sie einige Tage nichts gegessen. Ihr Mann habe seine Tante angerufen, die auch in diesem Krankenhaus gearbeitet habe. Diese sei mit ihr zu einem Psychologen gegangen. Die Medikamente, die sie bekommen habe, hätten ihre Psychose jedoch nur akuter gemacht und danach sei es ihr schlechter gegangen. Es sei ihr vorgekommen, als habe dieser Mann ihre Gedanken kontrolliert. Sie sei von zu Hause weggelaufen, sei jedoch wieder gefunden worden. Sie habe, wie ihr die Großmutter erzählt habe, jeden für einen Feind gehalten und versucht, sich mit einem Messer zu verletzten. Ihr Mann habe verhindert, dass sie sich umbringt. Dann sei sie in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht worden, wo sie für vierundzwanzig Tage lang geblieben sei. Danach habe sie die Eltern gebraucht und den Entschluss gefasst, zu ihnen zu kommen. Ihr Mann habe seine Arbeit gekündigt und sei, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, nach Russland gezogen. Sie habe keinen Geschlechtsverkehr mehr haben könne. Sie wissen nicht, ob er deshalb weggegangen sei oder wegen ihres Gesundheitszustandes, jedenfalls habe er sie verlassen. Ihr Mann habe sie etwa einen Monat nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus verlassen und sie habe danach noch ungefähr ein Jahr lang ohne ihn in der Heimat gelebt. Von diesem Arzt, der sie belästigt habe, habe sie in diesem Jahr nichts mehr gehört. Die Belästigungen habe sie nicht bei der Polizei angezeigt, weil er ihr gedroht habe. Sie sei in sehr schlechtem Zustand gewesen und habe bei der Großmutter mit ihrem Sohn gelebt. Den Sohn habe sie nicht mehr beaufsichtigen und versorgen können. Ihre Eltern und ihre Schwester hätten sie finanziell unterstützt, aber sie habe Hilfe gebraucht. Sie habe sich alleine gefühlt und immer wieder Selbstmordgedanken gehabt.
Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus sei es auch zu Streitigkeiten mit ihrem Mann gekommen, da zu ihren Eltern wollen und von ihm eine Einverständniserklärung verlangt habe. Sie habe kein Geld gehabt, um auszureisen.
Befragt, was der eigentliche Grund für ihre Reise nach Österreich war und konfrontiert mit der Feststellung, dass die Belästigungen nach ihrer Entlassung aufgehört hätten und sie auch in Armenien hätte bleiben können, gab BF1 an: "Ich bin zu meinen Eltern gekommen. Hier gelten Gesetze. Niemand kann mir hier Schaden zufügen, ohne dafür bestraft zu werden." Nochmals damit konfrontiert, dass ihre Erzählung dahingehend gedeutet werden kann, dass sie in Armenien hätte weiterleben können und dieser Mann sie nicht verfolgt habe, führte BF1 aus: "Ja, dieser Mann hat mich nicht verfolgt. Aber ich hätte in diesem Haus, in dieser Umgebung, dieser Atmosphäre nicht weiterleben können. Ich kann nicht in einem Land leben, in dem diese Person weiterhin arbeitet und mein Leben zerstört ist."
Zur Möglichkeit einer Rückkehr nach Armenien angesprochen, gab BF1 schließlich an, dass sie die Unterstützung ihrer Eltern benötige, Personen die ihr nahe stehen; sie könne ohne ihre Eltern nicht leben.
Die Frage, ob sie politisch engagiert sei, verneinte die BF.
Zum Akt gegeben wurden folgende Dokumente:
- Eine Meldebestätigung, in welcher unter anderem die Daten eines der BF1 im Jahr 2009 in Armenien ausgestellten Reisepasses festgehalten sind
- Ein fachärztlicher Befundbericht vom 9.10.2014 mit der Diagnose "depressive Episode, massive exogene Belastungsfaktoren"
- Ein Patientenbrief eines Krankenhauses vom 18.11.2013 mit der Diagnose "V.a. Gastritis, Depressio mit Somatisierungstandenz"
- Folgende Unterlagen der psychiatrischen Klinik XXXX in Armenien in armenischer Sprache samt Übersetzungen:
o Bescheinigung vom 13.9.2012 über einen Aufhalt in der geschlossenen Abteilung der genannten Klinik
o Auszug aus der ambulanten Patientenkarte und Krankengeschichte vom 15.7.2013
o Auszug aus der abmulanten, stationären Patientenkarte (Auszug Nr. 214)
- Zertifikat der Moskow State University of Service über den Abschluss der BF1 auf dem Gebiet des Rechnungswesens, der Analyse und Auditierung
- "Bestätigung" vom 18.10.2013, in welcher dargelegt wird, dass aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten ein Dolmetscher gebraucht wird
- Überweisungsschreiben vom 20.10.2016 und vom 3.5.2016
- Behandungsbestätigung vom 18.10.2013 mit der Diagnose "Reaktive Depression"
Am 27.9.2016 wurde BF1 neuerlich einer Befragung durch die bB unterzogen und gab anlässlich dessen zusammengefasst Folgendes an:
Sie leide unter Depressionen und Angstzuständen. Im Dezember sei sie im Krankenhaus gewesen, momentan nehme sie Medikamente. Im Dezember sei ihre Psychose wieder akut geworden und sie sei ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Eltern hätten sie in ein normales Krankenhaus gebracht und nicht in eine psychiatrische Klinik. Beim letzten Mal habe sie vergessen zu erzählen, dass sie doch noch belästigt worden sei. Diese Frage habe sie verneint, weil sie die Frage so verstanden habe, ob sie physisch belästigt worden sei. Sie sei aber psychisch durch zwei Anrufe von besagtem Zahnarzt weiter belästigt worden. Die Belästigungen hätten innerhalb von zwei Wochen einmal wöchentlich stattgefunden. Der Zahnarzt habe gesagt, wenn sie irgendwelche Schritte unternehme und sich an die Polizei wende, werde er sie umbringen. Außerdem habe er gesagt, dass er viel Geld habe und alle kaufen könne. Befragt, wie lange Zeit danach sie das Land verlassen hätte, gab BF1 an, dass sie etwa ein halbes Jahr Geld gesammelt hätte, vielleicht auch etwas länger. Lange Zeit habe sie keine finanziellen Mittel auftreiben können. Danach habe sie ihren ganzen Goldschmuck verkauft.
Befragt, warum nun ihr Ehegatte, von dem BF1 gesagt habe, dass er sie verlassen hätte, zurückgekehrt sei, gab BF1 an, sie habe keine Kontakt mehr zu ihm haben wollen, da sie im Dezember krank geworden sei; er sei gekommen und wolle jetzt zusammen mit ihnen leben.
Zu ihren privaten Interessen und ihrer Integration befragt, gab BF1 an, sie lerne Deutsch, sie zeichne und male zu Hause. Eine ehrenamtliche Tätigkeit habe sie bislang noch nicht ausgeübt, wiewohl sie das gerne möchte. Zu ihren familiären Verhältnissen gab BF1, sie habe eine Schwester in Polen.
I.4. BF2 gab vor der bB an lässlich seiner Einvernahme am 27.9.2016 im Wesentlichen an, dass er vor seiner Ausreise sowohl in Armenien als auch in Moskau gelebt habe. In Moskau habe er zwei bis drei Jahre gelebt. Er sei immer hin und her gereist. In den Jahren von 2006 bis 2015 habe er mehr in Russland als in Armenien gelebt. Er habe die russische Staatsbürgerschaft angenommen und habe, soweit er wisse, die Doppelstaatsbürgerschaft. Aus Armenien sei er nicht geflohen, er sei nach Russland gezogen und habe dort gelebt. Ende des Jahres 2012 habe er Armenien endgültig verlassen und sei seitdem nicht mehr in dort gewesen. Einen Reisepass habe er besessen, wobei er diesen vernichtet habe. Politisch engagiere er sich nicht und habe auch kein Problem mit den Behörden gehabt. Zu seinem Lebenslauf gab er an, dass er zehn Jahre lang die Schule besucht und als Taxifahrer und Goldschmied gearbeitet habe. Die Berufe habe er abwechselnd ausgeübt. Seine Mutter sowie ein Onkel und eine Tante würden noch in Armenien leben, eine Schwester lebe in Moskau. Die Mutter habe eine eigene Landwirtschaft und ein eigenes Grundstück. Die finanzielle Situation der Familie sei mittelmäßig. Er habe regelmäßig Kontakt zu den Verwandten, hauptsächlich zur Mutter.
Er befinde sich hier in der Grundversorgung. Er sei nach Österreich gekommen, da seine Familie hier sei. Sofern seine Frau angegeben habe, er habe sie verlassen, merke er an, dass dies gar nicht so gewesen sei. Er sei nach Moskau gegangen, um Arbeit zu finden. Seine Frau habe keinen Kontakt mehr wollen, weil sie krank geworden sei.
Zu seinen privaten Interessen und seiner Integration befragt, gab BF2 an, er besuche einen Deutschkurs und arbeite ehrenamtlich beim Roten Kreuz. Zu seinen familiären Interessen gab er an, dass er keine Angehörige in einem EU Staat habe.
I.5. Die Anträge der BF auf internationalen Schutz wurden folglich mit im Spruch genannten Bescheiden der bB gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und ihnen der Status der Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien (BF1 und BF3) bzw. die Russische Föderation (BF2) nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Armenien (BF1 und BF3) bzw. in die Russische Föderation (BF2) gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung.
Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die bB das Vorbringen der BF in Bezug auf die Existenz einer aktuellen Gefahr einer Verfolgung als nicht glaubhaft und führte hierzu im Wesentlichen Folgendes aus: Zwar werde BF1 geglaubt, dass sie psychische Probleme habe und deshalb bereits seit dem Jahr 2012 in Behandlung gestanden sei und auch immer noch behandelt werde. Sie habe auch glaubhaft angegeben, dass sie nach Österreich gekommen sei, um in der Nähe ihrer Eltern zu sein. Nicht nachvollziehbar seien jedoch die Schilderungen in Bezug auf die persönliche Verfolgung durch einen Zahnarzt. Zwar habe BF1 die Belästigungen sehr nachvollziehbar geschildert, sodass an der Glaubwürdigkeit des diesbezüglichen Vorbringens auch nicht gezweifelt werde und werde BF1 auch geglaubt, dass ihr labiler psychischer Zustand die Folge dieser Ereignisse sei, jedoch habe BF1 auch vorgebracht, sie habe danach noch fast ein Jahr lang in Armenien leben können, ohne dass er sich wieder gemeldet hätte, eine aktuelle individuelle Bedrohung sei demnach nicht ersichtlich. Auch sei darauf Bedacht zu nehmen, dass derartige Übergriffe auch in Armenien eine mit hoher Strafe geahndete Tat darstelle und den Länderinformationen zufolge sowohl die Schutzfähigkeit als auch die Schutzwilligkeit des armenischen Staates gegeben sei. Wiewohl es menschlich verständlich sei, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und zu den Eltern nach Österreich zu kommen, fehle des doch an asylrelevanten Gründen.
In Bezug auf BF3 wurde sinngemäß argumentiert.
In Bezug auf BF2 wurde ausgeführt, dass er keinerlei persönlich gegen ihn gerichtete Bedrohung oder Verfolgung geltend gemacht habe; er sei nach Österreich zu seiner Gattin und seinem Sohn gekommen. Eine Gefährdung im Falle der Rückkehr habe weder in Bezug auf Armenien noch auf die Russische Föderation festgestellt werden können. BF2 sei es auch leicht möglich, als ehemaliger armenischer Staatsangehöriger in Armenien ein Aufenthaltsrecht zu bekommen. Auch wäre es seiner Gattin und dem Sohn möglich, mit BF2 ihr Familienleben in der Russischen Föderation fortzusetzten.
Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Armenien und der Russischen Föderation traf die belangte Behörde ausführliche und schlüssige Feststellungen.
Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam. Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar.
I.6. Mit Verfahrensanordnung vom 7.11.2016 wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein kostenloser Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
I.7. Gegen den genannten Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde in vollem Umfang erhoben. Darin wurde zusammengefasst vorgebracht, dass BF1 in Armenien "sexuell verfolgt" würde und sie einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sei. Nach Wiedergabe ihres Vorbringens in Bezug auf die sexuellen Übergriffe und ihrer psychischen Probleme, die seit diesen Übergriffen vorlägen und derentwegen sie die Unterstützung ihrer Eltern bräuchte, wird ausgeführt, die Behörde sei richtigerweise davon ausgegangen, dass sie Opfer sexueller Übergriffe gewesen sei und habe richtigerweise auch die psychische Erkrankung auf die traumatischen Erlebnisse zurückgeführt. BF1 habe Furcht und aufgrund der daraus resultierenden psychischen Erkrankung auch versucht, sich das Leben zu nehmen. Die bB gelange zu unrichtigen Tatsachenfeststellungen, wenn sie feststelle, dass die Schilderungen in Bezug auf die Verfolgungshandlungen des Zahnarztes nicht nachvollziehbar und schlüssig gewesen seien. Dass sich der Zahnarzt lediglich zwei Mal telefonisch gemeldet hätte, entspreche nicht den Tatsachen und sei nicht ersichtlich, worauf die Behörde diese Annahme stütze. Den letzten Anruf habe sie kurz vor ihrer Ausreise aus Armenien erhalten. Über ein halbes Jahr lang habe BF1 Geld gesammelt, um ausreisen zu können und habe auch ihren Schmuck verkauft.
Zu den in Art. 2 und 3 EMRK verbrieften Rechten wird ausgeführt, dass die bB die Sach- und Rechtslage verkenne, wenn sie ausführt, dass BF1 im Falle ihrer Rückkehr nach Armenien keiner unmenschlichen Behandlung unterworfen wäre und widerspreche dies auch ihren eigenen Feststellungen, wonach sie dem Vorbringen in Bezug auf die sexuellen Übergriffe zweifelsfrei für glaubhaft erachtet habe. Ferner wird auf die Länderfeststellungen und die im Land vorherrschende Korruption hingewiesen und in Bezug auf BF1 ausgeführt, dass es keine Garantie gebe, dass sie vor weiteren Übergriffen beschützt würde.
Zur den Möglichkeiten einer Behandlung in Armenien verkenne die bB, dass BF1 wegen einer Verfolgung geflüchtet sei und das Umfeld, auf welches ihre psychischen Probleme zurückzuführen seien, verlassen habe müssen. Die Behandlung ihrer psychischen Erkrankung sei in Armenien nicht möglich. Eine Abschiebung verletzte BF1 sohin in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK.
Nach allgemeinen Ausführungen zu Art. 8 EMRK und den damit in Bezug stehenden Normen des innerstaatlichen Rechts wird ferner dargelegt, dass eine Ausweisung auf unzulässige Weise in das Recht auf Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens eingreife. Zu ihren in Österreich lebenden Eltern bestehe ein Abhängigkeitsverhältnis, als sie finanziell von diesen unterstützt werde, diese sich um den Sohn der BF1 kümmerten und vor allem mentale Unterstützung bieten würden. Eine Abhängigkeit aus gesundheitlichen Gründen begründe nach der Rechtsprechung ein schützenswertes Familienleben gleich wie eine finanzielle Abhängigkeit. Die bB habe es unterlassen, diesbezüglich Ermittlungen anzustellen. Die Rückkehrentscheidung wäre daher für auf Dauer unzulässig zu erklären gewesen.
In Bezug auf die Rückkehrsituation kreiere die Behörde aus unerfindlichen Gründen Tatsachen, nämlich in Bezug auf den Familen- bzw. Stammesverband, welche nicht vorlägen; in Armenien habe BF1 lediglich eine Großmutter.
Unter Anführungen der Integrationsbemühungen der BF wird dargelegt, dass es sich in gegenständlichem Fall um einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes handle, wonach der Grad der Integration insbesondere an der Selbsterhaltungsfähigkeit, der schulischen und beruflichen Ausbildung, der Beschäftigung und Kenntnisse der deutschen Sprache zu bemessen sei. Die bB führe in ihrem Bescheid bloß textbausteinmäßig und unreflektiert aus, dass eine Interessensabwägung vorzunehmen sei, habe dies aber tatsächlich unterlassen. Die Rückkehrentscheidung stelle einen Eingriff in Art. 8 EMRK dar und verkenne die bB dies in eklatanter und gröblicher Weise.
In Bezug auf das Verfahren wird unter Anführung der einschlägigen Normen ausgeführt, dass die bB der amtswegigen Ermittlungspflicht in keinster Weise nachgekommen sei. Die bB wäre verpflichtet gewesen, die individuelle und persönliche Situation der BF zu ermitteln und in weiterer Folge Feststellungen hinsichtlich der persönlichen Lebensumstände zu treffen. Dies betreffe insbesondere den Umstand, dass die bB sich nicht mit dem Gesundheitszustand der BF und den Folgen einer Abschiebung nach Armenien beschäftigt habe. Ferner seien keine Ermittlungen im Hinblick auf das schützenswerte Privatleben und die Abhängigkeit von den Eltern der BF1 vorgenommen worden. Hätte die bB die notwendigen Ermittlungsschritte gesetzt, wäre sie zum Ergebnis gekommen, dass die Rechte im Sinne des Artikel 8 EMRK verletzt würden und eine Rückkehr nach Afghanistan (gemeint ist wohl Armenien) auch eine Verletzung des Art. 2 und 3 EMRK zur Folge hätte.
Ferner wurde ein Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes zitiert, wonach es nicht nachvollziehbar sei, dass in einer Maßnahmenbeschwerde ein Aufwandersatz bestehen solle, nicht jedoch für eine Schubhaftbeschwerde und wurde dargelegt, dass das auch in vorliegendem Fall gelten würde. Es wurde der Antrag gestellt, dem Rechtsträger der bB gemäß § 35 VwGVG den Ersatz der entstandenen Verfahrenskosten im gesetzlichen Ausmaß binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution aufzutragen.
Der Beschwerde wurden die bereits vorgelegten ärztlichen Berichte neuerlich beigeschlossen.
I.8. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 16.10.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L523 abgenommen und der Gerichtsabteilung L515 zugewiesen. Aufgrund einer Einrede wegen Unzuständigkeit infolge eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß § 20 Asylgesetz wurde die Rechtssache am 5.11.2019 der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen.
I.9. Am 28.2.2019 wurden folgende Unterlagen vorgelegt:
- Eine Bestätigung des Roten Kreuzes vom 21.12.2018, woraus hervorgeht, dass BF1 und BF2 regelmäßig bei der "Team Österreich Tafel" teilnehmen und ihre Arbeit jeweils zur vollsten Zufriedenheit erledigen würden
- Ein Dienstausweis des BF2 für das Rote Kreuz
- Drei Kursbestätigungen des "bfi" für die Zeiträume vom 11.8.2017 bis 25.10.2017, 30.10.2017 bis 14.12.2017 und 15.1.2018 bis 1.3.2018 für BF2, aus denen hervorgeht, dass dieser das 112-stündige Basis Modul in Rahmen der Basisbildung besucht habe
I.10. Am 1.7.2019 wurde ein Fristsetzungsantrag gemäß Art. 132 B-VG und § 38 VwGG gestellt.
I.11. Am 31.7.2019 erging eine Stellungnahme zu den vom Bundesverwaltungsgericht zusammen mit einer Einladung zu einer mündlichen Verhandlung übermittelten Länderfeststellungen; beiden BF wurden jeweils Länderberichte zu Armenien und der Russischen Föderation übermittelt. Zudem wurde auf das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul Konvention) hingewiesen. Dazu wurde ausgeführt, dass dem erläuternden Bericht zu dieser Konvention zufolge die Vertragsparteien angehalten seien, anzuerkennen, dass geschlechterspezifische Gewalt eine Form der Verfolgung darstelle und zu Vergabe eines Flüchtlingsstatus führen könne. Nach der Konvention bilde dies einen Fluchtgrund im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Österreich habe diese Konvention ratifiziert, Armenien habe sie unterzeichnet, jedoch noch nicht ratifiziert. Unter Anführung verschiedener Berichte wird im Weiteren dargelegt, dass in Armenien nicht vom Schutz vor Gewalt gegen Frauen, wie er in der genannten Konvention vorgesehen ist, ausgegangen werden könne.
Unter Zitierung verschiedener Berichte aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation wird ferner dargelegt, dass sich, wie die Berichte aufzeigten, die Situation der Frauen in Armenien nicht verbessert habe. Ferner wird unter Anführung weiterer Berichte ausgeführt, dass der Herkunftsstaat auch nicht Willens sei, der BF zu helfen. Auch gehe aus den Länderinformationen hervor, dass eine psychiatrische Behandlung keinesfalls gesichert ist, zumal für einen großen Teil der Bevölkerung die Finanzierung der kostenpflichtigen ärztlichen Behandlung extrem schwierig geworden sei. Eine erzwungene Rückkehr würde eine Re-Traumatisierung und eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bedeuten.
Ferner wurden Ausführungen zur Situation in der russischen Föderation getätigt und, ebenfalls unter Zitierung von Berichten aus den Länderberichten der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, auf die im Land vorherrschenden Korruption und Menschenrechtsverletzungen hingewiesen.
Der Stellungnahme wurden Artikel über häusliche Gewalt und dem Umgang mit Vergewaltigungen in Armenien beigeschlossen und folgende Integrationsunterlagen vorgelegt:
- Eine Bestätigung des Österreichischen Roten Kreuzes, wonach BF1 seit 2018 regelmäßig für das "Team Österreich Tafel" tätig sei
- Ein Jahreszeugnis und Urkunden über die erfolgreiche Teilnahme des BF3 an einem Wettbewerb
- Bestätigungen über die Teilnahme an einem Werte- und Orientierungskurs aus Mai 2019 betreffend BF1 und BF2
I.12. Am 7.7.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung abgehalten, in welcher die BF in Anwesenheit ihrer gewillkürten Rechtsvertretung sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Armenisch und Vertreter der bB nochmals die Gelegenheit erhielten, über ihre Ausreisemotive, Rückkehrbefürchtungen, ihre privaten und familiären Interessen sowie ihre Integration zu berichten. In dieser Verhandlung hielten die BF ihr Vorbringen im Wesentlichen aufrecht.
Ein Vertreter der bB brachte in dieser Verhandlung vor, dass eine Abfrage von Visa Daten keinen Treffer für BF2 ergeben habe, woraus der Schluss zu ziehen sei, dass BF2 illegal eingereist sei oder über seine Identität täusche. Ferner wurde die Frage im Hinblick auf eine mögliche Doppelstaatsbürgerschaft des BF2 erörtert.
I.13. Am 13.8.2019 teilte die bB mit, dass eine Abfrage mit geändertem Wortlaut einen Treffer in der Visa-Datenbank ergeben habe. Eine Anfrage im Polizeikooperationszentrum Nikelsdorf habe zudem ergeben, dass eine Person namens XXXX , XXXX , männlich, StA. Russische Föderation, die Grenze am XXXX übertreten habe.
I.14. Am 13.8.2019 langte eine Stellungnahme der BF ein, mit welcher Unterlagen vorgelegt wurden, die die Einreise des BF2 dokumentiere; insbesondere wurde eine Reiseversicherung vorgelegt, auf welcher sich der Hinweis finde, dass der BF bei seiner Einreise in Europa über ein gültiges Visum verfügte. Ferner wurden Unterlagen über den Abschluss eines Studiums des BF2 und ein Absageschreiben des Magistrates der Stadt XXXX , ZMR-Auszüge betreffend die Eltern der BF1 sowie ein "Kurzbefund" über den gesundheitlichen Zustand der BF1 vorgelegt. Zudem wurde ein Antrag auf Fristverlängerung bis 2.9.2019 gestellt, um die Anmeldung der BF1 an einem Pflegekurs zu belegen. Die Verlängerung der Frist zur Vorlage der Anmeldebestätigung wurde unter Hinweis auf die der Gerichtsabteilung gesetzten Frist nicht gewährt.
I.15. Am 22.8.2019 wurde eine Note der armenischen Botschaft nachgereicht, aus welcher hervorgeht, dass BF1 armenischer Staatsbürger ist und ihm im Jahr 2007 ein armenischer Reisepass ausgestellt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
II.1.1. Die beschwerdeführenden Parteien
Die BF sind ethnische Armenier. BF2 besitzt neben der armenischen auch die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation. BF1 und BF3 besitzen ausschließlich die armenische Staatsbürgerschaft.
BF1 studierte von 2002 bis 2007 an der Moscow State University of Service im Bereich Rechnungswesen, Analyse und Auditierung. BF2 verfügt ebenfalls über einen Universitätsabschluss in Wirtschaftslehre. BF1 und BF2 lebten etwa drei Jahre lang gemeinsam in Moskau und dann weiter in Armenien, wo ihr Sohn geboren wurde. Im Jahr 2012 ging BF2 alleine nach Moskau, um dort zu leben und zu arbeiten.
BF1 und BF3 lebten vor der Ausreise in Armenien. Sie halten sich seit einem unbekannten Zeitpunkt in Österreich auf und stellten im August des Jahres 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz. BF2 reiste im Dezember 2015 aus der Russischen Föderation aus und in Österreich ein, wo er am 28.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Die BF reisten jeweils mit einem erschlichenen Visum das Bundesgebiet ein.
Die Identität der BF steht fest. BF2 hat die Behörden und das Bundesverwaltungsgericht nicht über seine Identität getäuscht.
Die BF sind seit dem Zeitpunkt ihrer jeweiligen Antragstellung Asylwerber und verfügen über keinen anderen Aufenthaltstitel.
BF1 und BF2 sind nach ihrer Ausbildung jeweils einer Beschäftigung nachgegangen. BF1 hat in einem Krankenhaus gearbeitet, BF2 hat den Beruf eines Goldschmiedes erlernt, welchen er auch in der Russischen Föderation ausübte. Er war auch als Taxifahrer beschäftigt.
BF1 leidet an keiner unmittelbar mit Lebensgefährdung oder einem schweren Leiden verbunden Krankheit. Sie leidet auch nicht an keiner Krankheit, welche in Armenien nicht behandelbar wäre. BF1 nimmt Medikamente ein. Die BF haben Zugang zum armenischen Gesundheitssystem.
Die BF verfügen über eine, wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich, gesicherte Existenzgrundlage in Armenien.
BF1 und BF2 sind junge, arbeitsfähige Menschen mit bestehenden familiären und verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkten in Armenien, dies in Form der Großmutter der BF1, der Mutter, der Tante und der Schwester des BF2. Die Tante arbeitet als Krankenschwester, die Mutter hat eine Landwirtschaft und ein eigenes Grundstück. Zu beiden hält BF2 auch Kontakt.
Die Pflege und Obsorge des minderjährigen BF ist durch seine Eltern gesichert.
Alle BF sprechen Armenisch und Russisch. BF1 spricht auch Polnisch und Englisch.
Die Eltern der BF1 leben in Österreich, in der Nähe des Wohnortes der BF. Eine Schwester der BF1 lebt in Polen und eine Tante des BF2 lebt in Frankreich. Sonst haben die BF keine Verwandten außerhalb Armeniens oder der Russischen Föderation.
Die BF leben in Österreich von der Grundversorgung. Sie sind strafrechtlich unbescholten.
Alle BF verfügen bereits über gute Deutschkenntnisse. Sie möchten offensichtlich ihr künftiges Leben in Österreich gestalten. Sie haben sich in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut und arbeiten ehrenamtlich für das Rote Kreuz.
Die BF gingen darüber hinaus noch keiner legalen Erwerbstätigkeit nach. BF1 und BF2 haben sich jeweils um eine Stelle beim Magistrat der Stadt XXXX beworben, welche jedoch abschlägig behandelt wurde. BF2 verfügt über zwei Einstellungszusagen. BF1 möchte beim Roten Kreuz einen Pflegehilfekurs besuchen und später eine entsprechende Stelle finden.
Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Armenien
Zur Lage im Herkunftsstaat Armenien werden folgende Feststellungen getroffen (die Quellen wurden den BF gegenüber offen gelegt):
Politische Lage
Armenien (arm.: Hayastan) umfasst knapp 29.800 km² und hatte im ersten Quartal 2019 eine Einwohnerzahl von 2,96 Millionen, was einen Rückgang von 0,3% zum Vergleichszeitraum des Vorjahres ausmachte (ArmStat 7.5.2019). Davon sind laut der Volkszählung von 2011 98,1% ethnische Armenier. Den Rest bilden kleinere Ethnien wie Jesiden und Russen (CIA 14.2.2019).
Armenien ist seit September 1991 eine unabhängige Republik. Die Verfassung von 2005 wurde zuletzt durch Referendum vom 6.12.2015 weitreichend geändert. Durch die Verfassungsreform wurde das semi-präsidentielle in ein parlamentarisches System umgewandelt. Das Ein-Kammer-Parlament (Nationalversammlung) hat nun 105 Mitglieder (zuvor 131) und wird alle fünf Jahre gewählt (AA 7.5.2019a).
Oppositionsführer Nikol Pashinyan wurde im Mai 2018 vom Parlament zum Premierminister gewählt, nachdem er wochenlange Massenproteste gegen die Regierungspartei angeführt und damit die politische Landschaft des Landes verändert hatte. Er hatte Druck auf die regierende Republikanische Partei durch eine beispiellose Kampagne des zivilen Ungehorsams ausgeübt, was zum schockartigen Rücktritt Serzh Sargsyans führte, der kurz zuvor das verfassungsmäßig gestärkte Amt des Premierministers übernommen hatte, nachdem er zehn Jahre lang als Präsident gedient hatte (BBC 20.12.2018).
Am 9.12.2018 fanden vorgezogene Parlamentswahlen statt, welche unter Achtung der Grundfreiheiten ein breites öffentliches Vertrauen genossen. Die offene politische Debatte, auch in den Medien, trug zu einem lebhaften Wahlkampf bei. Das generelle Fehlen von Verstößen gegen die Wahlordnung, einschließlich des Kaufs von Stimmen und des Drucks auf die Wähler, ermöglichte einen unverfälschten Wettbewerb (OSCE/ODIHR 10.12.2018). Die Allianz des amtierenden Premierministers Nikol Pashinyan unter dem Namen "Mein Schritt" erzielte einen Erdrutschsieg und erreichte 70,4% der Stimmen. Die ehemalige mit absoluter Mehrheit regierende Republikanische Partei (HHK) erreichte nur 4,7% und verpasste die 5-Prozent-Marke, um in die 101-Sitze umfassende Nationalversammlung einzuziehen. Die Partei "Blühendes Armenien" (BHK) des Geschäftsmannes Gagik Tsarukyan gewann 8,3%. An dritter Stelle lag die liberale, pro-westliche Partei "Leuchtendes Armenien" unter Führung Edmon Maruyian, des einstigen Verbündeten von Pashinyan, mit 6,4% (RFE/RL 10.12.2018; vgl. ARMENPRESS 10.12.2018).
Zu den primären Zielen der Regierung unter Premierminister Pashinyan gehören die Bekämpfung der Korruption und Wirtschaftsreformen (RFL/RL 14.1.2019) sowie die Schaffung einer unabhängigen Justiz (168hours 20.7.2018).
Sicherheitslage
Hinsichtlich Bergkarabach - das sowohl von Armenien als auch von Aserbaidschan beansprucht wird - besteht die Gefahr erneuter Feindseligkeiten aufgrund des Scheiterns der Vermittlungsbemühungen, der zunehmenden Militarisierung und häufiger Verletzungen des Waffenstillstands. Im Oktober 2017 trafen sich die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans unter der Schirmherrschaft der Minsk-Gruppe, einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geleiteten Vermittlungsgruppe, in Genf und begannen eine Reihe von Gesprächen über eine mögliche Lösung des Konflikts. In den letzten Jahren haben Artilleriebeschüsse und kleinere Gefechte zwischen aserbaidschanischen und armenischen Truppen Hunderte von Toten gefordert. Anfang April 2016 gab es die heftigsten Kämpfe seit 1994. (CFR 20.3.2019). Die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach dauern an. Die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan ist geschlossen. Im Jahr 2018 fanden mehrere Waffenstillstandsverletzungen entlang der Kontaktlinie zwischen den gegnerischen Streitkräften und anderswo an der zwischenstaatlichen Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien statt, die zu einer Reihe von Todesfällen und Verlusten führten (gov.uk 21.3.2019, vgl. EDA 7.5.2019).
Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev und der armenische Premierminister Nikol Pashinyan vereinbarten bei ihrem ersten Treffen am Rande des Gipfels der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der am 27. und 28. September 2018 in Duschanbe stattfand, mehrere Schritte zum Abbau der Spannungen zwischen den armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften, wie z.B. die Installierung einer direkten "operativen" Kommunikationslinie zwischen den beiden Seiten und die Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts (Eurasianet 1.10.2018).
Regionale Problemzone: Bergkarabach (Nagorny Karabach)
Die sogenannte "Republik Bergkarabach" ("RBK", russ.: Nagorny Karabach; in Armenien auch Arzach genannt) wird von keinem Staat völkerrechtlich anerkannt. Die aserbaidschanische Regierung besitzt faktisch jedoch keine Kontrolle über das Gebiet. Auch Armenien erkennt die "Republik Bergkarabach" offiziell nicht an, praktisch sind beide aber wirtschaftlich und rechtlich stark verflochten. Die Bewohner von Bergkarabach erhalten neben ihrem RBK-Pass auch armenische Pässe (AA 7.4.2019).
Laut Angaben der selbsternannten Republik von Nagorny Karabach (auch Republik Artsach), umfasst das Gebiet mehr als 12.000 km², wobei hiervon 1.041 km² unter aserbaidschanischer Okkupation stünden. Die Bevölkerung belief sich 2013 auf rund 147.000 Einwohner, wovon 95% Armenier sind, nebst Russen, Ukrainern, Griechen, Georgiern und Aseri (NKR 21.3.2019).
Die sog. Republik Bergkarabach kontrolliert das in Aserbaidschan früher als Autonome Region Bergkarabach verwaltete Gebiet sowie weitere sieben Provinzen Aserbaidschans in den Grenzgebieten zu Armenien und Iran und in der Region um Agdam. Der Kreis Shahumyan nördlich der früheren Autonomen Region ist unter aserbaidschanischer Kontrolle, wird aber ebenfalls von der "RBK" beansprucht, da es sich nach deren Logik um "von Aserbaidschan besetztes Gebiet" mit ehemals armenischer Bevölkerungsmehrheit handelt. Insgesamt befindet sich etwa 13% des Staatsgebiets von Aserbaidschan unter armenischer Kontrolle, d.h. der sog. Republik Bergkarabach (AA 7.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019).
Der amtierende Präsident Sahakyan, dessen zweite Amtszeit zu Ende ging, wurde im Juli 2017 mit 28 von 33 Stimmen zum Übergangspräsidenten gewählt. Er besiegte Eduard Agabekyan, den Vorsitzenden der oppositionellen "Bewegung 88". Nach der neuen Verfassung ist der Präsident sowohl Staats- als auch Regierungschef und hat die volle Autorität, Kabinettsmitglieder zu ernennen und zu entlassen. Nach der Einweihung von Sahakyan im September 2017 wurde das Amt des Premierministers abgeschafft (FH 1.2018).
Die Justiz ist in der Praxis nicht unabhängig und die Gerichte werden von der Exekutive sowie von mächtigen politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Gruppen beeinflusst. Die Verfassung garantiert grundlegende Verfahrensrechte, aber Polizei und Gerichte halten diese in der Praxis nicht immer ein. Die Regierung kontrolliert viele der Medien und die öffentlichen Fernseh- und Radiosender haben keine lokale Konkurrenz. Die meisten Journalisten praktizieren Selbstzensur, insbesondere bei Themen im Zusammenhang mit dem Friedensprozess. Die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit, lässt aber Einschränkungen im Namen der Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und anderer staatlicher Interessen zu. In der Verfassung ist die Armenische Apostolische Kirche als "nationale Kirche" des armenischen Volkes verankert. Die Religionsfreiheit anderer Gruppen wird in der Praxis eingeschränkt. Proteste sind in der Praxis relativ selten. Die Behörden blockieren Versammlungen und Demonstrationen, wenn sie diese als Bedrohung der öffentlichen Ordnung wahrnehmen, einschließlich Veranstaltungen, die von armenischen Aktivisten der Opposition geplant sind. Proteste, die die diplomatischen und sicherheitspolitischen Interessen des Territoriums unterstützen oder bestimmte wirtschaftliche Missstände anprangern, werden eher toleriert (FH 1.2018).
Es gibt keine Erkenntnisse, wonach Personen bei Bekanntwerden einer (auch) aserbaidschanischen Herkunft mit staatlichen Übergriffen zu rechnen hätten. In Bergkarabach gelten den armenischen Regelungen vergleichbare Vorschriften zur kostenlosen medizinischen Behandlung. Im Sozialwesen gibt es "behördliche" Unterstützung. Die wirtschaftliche Situation in Bergkarabach ist nach allgemeiner Einschätzung besser als in Armenien (AA 7.4.2019).
Rechtsschutz / Justizwesen
Es gibt immer wieder glaubhafte Berichte von Anwälten über die Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze durch Gerichte. Die Unschuldsvermutung werde nicht eingehalten, rechtliches Gehör nicht gewährt, Verweigerungsrechte von Zeugen nicht beachtet und Verteidiger oft ohne Rechtsgrundlage abgelehnt. Nach bisher vorliegenden Informationen hat sich die Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis seit Mitte 2018 verbessert. Die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter wurde bisher durch Nepotismus, finanzielle Abhängigkeiten und weit verbreitete Korruption konterkariert. Es gibt Anzeichen, dass allein der Regierungswechsel im Mai 2019 zu weniger Korruption in der Justiz geführt hat. Hinsichtlich des Zugangs zur Justiz gab es bereits Fortschritte, dass die Zahl der Pflichtverteidiger erhöht wurde und einer breiteren Bevölkerung als bisher kostenlose Rechtshilfe zuteil wird (AA 7.4.2019). Zwar muss von Gesetzes wegen Angeklagten ein Rechtsbeistand gewährt werden, doch führt der Mangel an Pflichtverteidigern außerhalb Jerewans dazu, dass dieses Recht den Betroffenen verwehrt wird (USDOS 13.3.2019).
Richter stehen unter systemischem politischem Druck und Justizbehörden werden durch Korruption untergraben. Berichten zufolge fühlen sich die Richter unter Druck gesetzt, mit Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, um Angeklagte zu verurteilen. Der Anteil an Freisprüchen ist extrem niedrig (FH 4.2.2019). Allerdings entließen viele Richter nach der "Samtenen Revolution" im Frühjahr 2018 etliche Verdächtige in politisch sensiblen Fällen aus der Untersuchungshaft, was die Ansicht von Menschenrechtsgruppen bestätigte, dass vor den Ereignissen im April/Mai 2018 gerichtliche Entscheidungen politisch konnotiert waren, diese Verdächtigen in Haft zu halten, statt gegen Kaution freizulassen (USDOS 13.3.2019).
Trotz gegenteiliger Gesetzesbestimmungen zeigt die Gerichtsbarkeit keine umfassende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verwaltungsgerichte sind hingegen verglichen zu den anderen Gerichten unabhängiger. Sie leiden allerdings unter Personalmangel. Nach dem Regierungswechsel im Mai 2018 setzte sich das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Richter fort, und einige Menschenrechtsanwälte erklärten, es gebe keine rechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz. Anwälte berichteten, dass das Kassationsgericht in der Vergangenheit das Ergebnis aller wichtigen Rechtssachen an niedere Richter diktiert habe. Im Februar wurde mit der Umsetzung der Verfassungsänderungen 2015 der Oberste Justizrat (HJC) gebildet. Viele Beobachter gaben dem HJC die Schuld für Machtmissbrauch und die Ernennung von Richtern, die mit der früheren Regierungspartei verbunden waren. Anwälte erklärten auch, dass die Kontrolle der HJC über die Ernennung, Beförderung und Verlegung von Richtern die Unabhängigkeit der Justiz geschwächt habe. NGOs berichten, dass Richter die Behauptungen der Angeklagten, ihre Aussage sei durch körperlichen Übergriffe erzwungen worden, routinemäßig ignorieren (USDOS 13.3.2019).
Die Verfassung und die Gesetze sehen das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess vor, aber die Justiz hat dieses Recht nicht durchgesetzt. Zwar sieht das Gesetz die Unschuldsvermutung vor, Verdächtigen wird dieses Recht jedoch in der Regel nicht zugesprochen. Das Gesetz verlangt, dass die meisten Prozesse öffentlich sind, erlaubt aber Ausnahmen, auch im Interesse der "Moral", der nationalen Sicherheit und des "Schutzes des Privatlebens der Teilnehmer". Gemäß dem Gesetz können Angeklagte Zeugen konfrontieren, Beweise präsentieren und den Behördenakt vor einem Prozess einsehen. Allerdings haben Angeklagte und ihre Anwälte kaum Möglichkeiten, die Aussagen von Behördenzeugen oder der Polizei anzufechten. Die Gerichte neigen währenddessen dazu, routinemäßig Beweismaterial zur Strafverfolgung anzunehmen. Zusätzlich verbietet das Gesetz Polizeibeamten, in ihrer offiziellen Funktion auszusagen, es sei denn, sie waren Zeugen oder Opfer (USDOS 13.3.2019).
Sicherheitsbehörden
Die Polizei ist für die innere Sicherheit zuständig, während der Nationale Sicherheitsdienst (NSD oder eng. NSS) für die nationale Sicherheit, die Geheimdienstaktivitäten und die Grenzkontrolle zuständig ist (USDOS 13.3.2019, vgl. AA 7.4.2019). Beide Behörden sind direkt der Regierung unterstellt. Ein eigenes Innenministerium gibt es nicht. Die Beamten des NSD dürfen auch Verhaftungen durchführen. Hin und wieder treten Kompetenzstreitigkeiten auf, z.B. wenn ein vom NSD verhafteter Verdächtiger ebenfalls von der Polizei gesucht wird (AA 7.4.2019).
Der Sonderermittlungsdienst führt Voruntersuchungen in Strafsachen durch, die sich auf Delikte von Beamten der Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Justizorgane beziehen und von Personen, die einen staatlichen Sonderdienst ausüben. Auf Verlangen kann der Generalstaatsanwalt solche Fälle an die Ermittler des Sonderermittlungsdienstes weiterleiten (SIS o.D., vgl. USDOS 13.3.2019). Der NSD und die Polizeichefs berichten direkt an den Premierminister. NSD, SIS, die Polizei und das Untersuchungskomitee unterliegen demzufolge der Kontrolle der zivilen Behörden (USDOS 13.3.2019).
Obwohl das Gesetz von den Gesetzesvollzugsorganen die Erlangung eines Haftbefehls verlangt oder zumindest das Vorliegen eines begründeten Verdachts für die Festnahme, nahmen die Behörden gelegentlich Verdächtige fest oder sperrten diese ein, ohne dass ein Haftbefehl oder ein begründeter Verdacht vorlag. Nach 72 Stunden muss laut Gesetz die Freilassung oder ein richterlicher Haftbefehl erwirkt werden. Richter verweigern der Polizei ebenso selten einen Haftbefehl, wie sie kaum das Verhalten der Polizei während der Arrestzeit überprüfen. Angeklagte haben ab dem Zeitpunkt der Verhaftung Anspruch auf Vertretung durch einen Anwalt bzw. Pflichtverteidiger. Die Polizei vermeidet es oft, betroffene Personen über ihre Rechte aufzuklären. Statt Personen formell zu verhaften, werden diese vorgeladen und unter dem Vorwand festhalten, eher wichtige Zeugen denn Verdächtige zu sein. Hierdurch ist die Polizei in der Lage, Personen zu befragen, ohne das das Recht auf einen Anwalt eingeräumt wird (USDOS 13.3.2019).
Folter und unmenschliche Behandlung
Das Gesetz verbietet solche Folter und andere formen von Misshandlungen. Dennoch gab es Berichte, dass Mitglieder der Sicherheitskräfte Personen in ihrer Haft gefoltert oder anderweitig missbraucht haben. Laut Menschenrechtsanwälten definiert und kriminalisiert das Strafgesetzbuch zwar Folter, aber die einschlägigen Bestimmungen kriminalisieren keine unmenschliche und erniedrigende Behandlungen (USDOS 13.3.2019). Menschenrechtsorganisationen haben bis zur "Samtenen Revolution" immer wieder glaubwürdig von Fällen berichtet, in denen es bei Verhaftungen oder Verhören zu unverhältnismäßiger Gewaltanwendung gekommen sein soll. Folteropfer können den Rechtsweg nutzen, einschließlich der Möglichkeit, sich an den Verfassungsgerichtshof bzw. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu wenden (AA 7.4.2019).
Misshandlungen finden auf Polizeistationen statt, die im Gegensatz zu Gefängnissen und Polizeigefängnissen nicht der öffentlichen Kontrolle unterliegen. Nach Ansicht von Menschenrechtsanwälten gab es keine ausreichenden verfahrensrechtlichen Garantien gegen Misshandlungen bei polizeilichen Vernehmungen, wie z.B. den Zugang zu einem Anwalt durch die zur Polizei als Zeugen geladenen Personen sowie die Unzulässigkeit von Beweisen, die durch Gewalt- oder Verfahrensverletzungen gewonnen wurden (USDOS 13.3.2019). In einem Antwortschreiben an die Helsinki Komitee Armeniens bezifferte der Special Investigation Service (SIS) die Anzahl der strafrechtlichen Untersuchungen bezüglich des Vorwurfes von Folter im Zeitraum zwischen dem 1.1. und dem 20.12.2018 auf 49 (HCA 1.2019).
Korruption
Armenien verfügt nicht über wirksame Schutzmaßnahmen gegen Korruption. Dem bis 2018 an der Macht befindlichen Parlament gehörten einige der wohlhabendsten Wirtschaftsführer des Landes an, die trotz Interessenkonflikten ihre privatwirtschaftlichen Aktivitäten fortsetzten. Auch die Beziehungen zwischen Politikern und anderen Oligarchen haben die Politik historisch beeinflusst und zu einer selektiven Anwendung des Gesetzes beigetragen. Die Berichte über systemische Korruption, auch in allen drei Staatsgewalten, gingen jedoch weiter. Nach der "Samtenen Revolution" im Mai 2018 leitete die neue Regierung Untersuchungen zur Bekämpfung der Korruption ein, die systemische Korruption in den meisten Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens aufdeckte. Das SIS leitete zahlreiche Strafverfahren gegen mutmaßliche Korruption durch ehemalige Regierungsbeamte und deren Angehörige sowie Parlamentarier ein, deren Fälle von einigen tausend bis zu Millionen von US-Dollar reichten (USDOS 13.3.2019, vgl. FH 4.2.2019).
Ministerpräsident Pashinyan, für dessen Regierung die Korruptionsbekämpfung ein hochrangiges Ziel darstellt, berichtete im Juli 2018, dass innerhalb zweier Monate bereits 20,6 Milliarden Armenische Dram (36,8 Millionen Euro) an Geldern aus Steuerhinterziehungen sichergestellt wurden. Betroffen waren 73 Unternehmen, denen Steuerhinterziehung vorgeworfen wird. Die Summe bezog sich ausschließlich auf die Steuerschuld (Haypress 13.7.2018, vgl. JAMnews 24.7.2018). Während die meisten Beobachter der Meinung sind, dass es reichlich Beweise für Fehlverhalten gibt, warnten einige, dass es eine schmale Linie zwischen soliden Rechtsfällen und politisch motivierten gibt. Die mit der ehemaligen, langjährigen Regierungspartei verbündeten Eliten zeigten erheblichen Widerstand gegen diese Ermittlungen und schienen den Antikorruptionskurs der neuen Regierung zu erschweren (FH 4.2.2019).
Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex 2017 belegte Armenien den Rang 105 von 180 Ländern (2017: 107 von 180 Staaten) und erhielt wie 2017 einen Wert von 35 auf einer Skala von 100 [100 ist der beste, 0 der schlechteste Wert] bezüglich der Korruption im öffentlichen Sektor (TI 2018).
NGOs und Menschrechtsaktvisten
Die Zivilgesellschaft ist in Armenien aktiv und weitgehend in der Lage, frei zu agieren. Das Gesetz über öffentliche Unternehmen und das Stiftungsrecht wurden kürzlich mit einer Reihe positiver Änderungen verabschiedet, darunter die Möglichkeit, direkt einkommensschaffende oder unternehmerische Aktivitäten durchzuführen; weiters die Möglichkeit von Freiwilligenarbeit sowie die Möglichkeit für Umweltorganisationen, die Interessen ihrer Mitglieder in Umweltfragen vor Gerichten zu vertreten. Es gibt jedoch noch eine Reihe von Herausforderungen. Zum Beispiel die gesetzlichen Bestimmungen in Bezug auf Steuerverpflichtungen im Zusammenhang mit der Erzielung von Einnahmen, das Fehlen klarer Regeln für den Zugang zu öffentlichen Mitteln sowie klarer Regelung für die Verwendung privater Daten. Einschränkungen gibt es für zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit sensiblen Themen wie den Rechten von Minderheiten und einigen Gender-spezifischen Fragen arbeiten (OHCHR 16.11.2018). Nichtregierungsorganisationen (NGOs) fehlen lokale Mittel und sind weitgehend auf ausländische Geber angewiesen (FH 4.2.2019).
Die Zivilgesellschaft war sehr aktiv bei den Protesten 2018, den anschließenden Konsultationen mit der Regierung in politischen Fragen und bei der Überwachung der Aktivitäten im Zusammenhang mit den Wahlen im Dezember 2018 (FH 4.2.2019).
Ombudsperson
Die vom Parlament gewählte und als unabhängige Institution in der Verfassung verankerte "Ombudsperson für Menschenrechte" muss einen schwierigen Spagat zwischen Exekutive und den Rechtsschutz suchenden Bürgern vollziehen (AA 7.4.2019).
Mit den im März 2017 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen wurde der Zuständigkeitsbereich des Büros der Bürgerbeauftragten erweitert. Es kann Gesetzesvorschläge einbringen, Rechtsvorschriften aus Menschenrechtssicht überprüfen, förmliche Gutachten durchführen und Empfehlungen zu Rechts- und Rechtsvollzugsmängeln abgeben. Experten zufolge reichten jedoch der Grad der Ermächtigung und die Ressourcen des Büros der Ombudsperson nicht aus, um das neue Mandat des Büros umzusetzen (USDOS 20.4.2018).
Die Zivilgesellschaft hat die Arbeit des Büros der Ombudsperson während der Proteste von April bis Mai 2018 allgemein als gut erachtet. Nach Angaben der Website des Menschenrechtsverteidigers arbeitete das Büro bei Protesten 24 Stunden am Tag, um den Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten. In der ersten Jahreshälfte 2018 meldete das Büro eine beispiellose Zahl von Bürgerbeschwerden und -besuchen, die es auf ein gestiegenes Vertrauen in die Institution und neue Erwartungen der Öffentlichkeit zurückführte (USDOS 13.3.2019).
Wehrdienst und Rekrutierungen
Männer armenischer Staatsangehörigkeit unterliegen vom 18. bis zum 27. Lebensjahr der allgemeinen Wehrpflicht (24 Monate). Auf Antrag besteht die Möglichkeit der Befreiung oder Zurückstellung vom Wehrdienst sowie der Ableistung eines militärischen oder zivilen Ersatzdienstes. Bei der Zurückstellung vom Militärdienst aus sozialen Gründen (z.B. pflegebedürftige Eltern, zwei oder mehr Kinder) muss bei Wegfall der Gründe der Betreffende bis zum 27. Lebensjahr noch einrücken. Wenn die Gründe nach dem 27. Lebensjahr noch bestehen, ist eine Einrückung in Friedenszeiten nicht mehr vorgesehen. Derjenige muss sich allerdings als Reservist zur Verfügung stellen. Armenische Rekruten werden auch an der Waffenstillstandslinie um Bergkarabach eingesetzt. Männliche Armenier ab 16 Jahren sind zur Wehrregistrierung verpflichtet. Sofern sie sich im Ausland aufhalten und sich nicht vor dem Erreichen des 16. Lebensjahres aus Armenien abgemeldet haben, müssen sie zur Musterung nach Armenien zurückkehren; andernfalls darf ihnen kein Reisepass ausgestellt werden. Nach der Musterung kann die Rückkehr ins Ausland erfolgen. Mit der Ende 2017 erfolgten Novellierung des Wehrpflichtgesetzes bietet das armenische Verteidigungsministerium im Rahmen des Konzepts "Armee-Nation" zwei neue Optionen für den Wehrdienst. Das Programm "Jawohl" ermöglicht den Rekruten einen flexiblen Wehrdienst von insgesamt drei Jahren mit mehrmonatigen Unterbrech