Entscheidungsdatum
20.08.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W189 2182361-1/20E
W189 2182530-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb. XXXX und 2.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Ukraine, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.12.2017, Zlen. 1.) 430956205 und 2.) 1093781207, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.07.2019, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerden werden gemäß § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG, §§ 52 Abs. 2 Z 2, 52 Abs. 9 FPG und § 46 FPG sowie § 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Das Vorbringen der Beschwerdeführer steht in einem derartigen Zusammenhang bzw. ist soweit miteinander verknüpft, dass die Entscheidung unter Berücksichtigung des Vorbringens aller Beschwerdeführer abzuhandeln war. Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) ist die Mutter und gesetzliche Vertreterin der Zweitbeschwerdeführerin (BF2); gemeinsam werden sie als die BF bezeichnet.
1. Die BF1 und die BF2 sind Staatsangehörige der Ukraine. Die BF1 reiste erstmalig im Jahr 2007 nach Österreich ein und reiste im Jahr 2008 wieder in die Ukraine aus.
Im Jahr 2011 reiste die BF1 mit einem von 05.03.2011 bis zum 05.03.2012 gültigen Studentenvisum in Österreich wieder ein.
Die BF1 erhielt in der Folge ein "Visum D" für die Gültigkeitsdauer vom 18.04.2014 bis zum 17.08.2014. Am 30.12.2014 wurde der Antrag der BF1 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck "Studierende" abgewiesen, da die BF1 ihren visumspflichtigen Aufenthalt im Bundesgebiet überschritten habe.
2. Am 03.09.2015 stellte die BF1 für sich und die BF2 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung aus Gründen des Art. 8 EMRK. Begründend brachte die BF1 vor, dass sie seit 2007 durchgehend in Österreich sei und seit dem 01.03.2009 Studentin in Österreich sei. Sie habe in München eine Hochschulzugangsprüfung absolviert und habe am Prayner-Konservatorium 3 Semester Jazz-Gesang studiert und würde in einem Kirchenchor singen. Die BF1 sei im 9. Monat schwanger und würde im gemeinsamen Haushalt mit ihrem Partner leben.
Diesen Antrag hat die BF1 in der Folge wieder zurückgezogen.
3. Am XXXX wurde die BF2 in Österreich geboren. Mit gerichtlichen Beschluss des BG Leopoldstadt vom 23.05.2016, 55 FAM 42/15s, wurde ein in Österreich aufenthaltsberechtigter, irakischer Staatsangehöriger als Vater der BF2 festgestellt.
4. Am 08.08.2016 stellte die BF1 beim BG Leopoldstadt einen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung gegen den Kindsvater. Begründend brachte die BF1 dazu vor, dass sie vom Kindsvater im Dezember 2014 vergewaltigt worden sei. Anfang 2015 sei die BF1 vom Kindsvater bedroht worden und am Körper verletzt worden. Die BF1 sei in der Folge mehrmals von dem Kindsvater beschimpft und zur Abtreibung des gemeinsamen Kindes aufgefordert worden. Am 13.09.2016 wurde zwischen der BF1 und dem Kindsvater am BG Leopoldstadt ein Vergleich geschlossen, bei dem sich beide dazu verpflichten die gegenseitige Kontaktaufnahme zu unterlassen.
5. Am 13.10.2016 stellte die BF1 für sich und die BF2 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung "besonderer Schutz" gem. § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG.
6. Am 09.05.2017 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) eine Stellungnahme der LPD Wien ein, wonach Bedenken gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels für die BF1 nach § 57 AsylG bestehen würden, da das Strafverfahren gegen den Kindsvater eingestellt worden sei und ein Antrag auf Erlassung einer "einstweiligen Verfügung" gegenüber dem Kindsvater abgewiesen worden sei.
7. Am 03.08.2017 wurde die BF1 vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen und gab sie zu Protokoll, dass sie und die BF2 gesund seien. Ihre Mutter und ihr Bruder würden noch in der Ukraine leben. Ihr Vater sei bereits verstorben. Sonst habe sie nur noch ihre Großmutter in der Ukraine, zu der sie nur noch wenig Kontakt habe. Sie habe in der Ukraine nach der Matura ein Studium begonnen und sei im Jahr 2005 zum Studieren nach München gegangen.
Im Jahr 2007 sei die BF1 zum ersten Mal als Au-Pair nach Österreich gekommen. Nach ihrer Au-Pair-Tätigkeit sei sie wieder in die Ukraine ausgereist und sei dort bis 2011 geblieben. Im Jahr 2011 habe sie ein österreichisches Studentenvisum erhalten und sei legal in Österreich eingereist. Nach Ablauf ihres Studentenvisums im Jahr 2013 sei die BF1 in die Ukraine ausgereist und sei bis Juni 2014 nur zur Absolvierung ihrer Prüfungen nach Österreich gekommen. Nach Ablauf ihres Visums sei die BF1 in Österreich verblieben, da sie ihr Studium weiterführen wollte. Seit dieser Zeit sei sie ununterbrochen in Österreich.
Die BF1 gab an, dass sie seit 2014 mit einem türkischen Staatsangehörigen zusammenlebe. Sie habe in Österreich einen internationalen Freundeskreis und eine österreichische Freundin. Sie erhalte in Österreich keine Sozialleistungen und sei Mitglied in einem Kirchenchor. Im Wintersemester 2012/13 habe die BF1 am Konservatorium Wien Jazzgesang studiert. Sie verfüge zudem über ausreichende Deutschkenntnisse.
Bezüglich der behaupteten Bedrohung gemäß § 57 AsylG wurde der BF1 vorgehalten, dass am 13.09.2016 ein Vergleich des BG Leopoldstadt, GZ: 49C 309/16w, zwischen der BF1 und dem Vater der BF2 geschlossen worden sei. Die BF1 könne daher keine einstweilige Verfügung vorlegen. Zu den Gründen des Antrages brachte die BF1 vor, dass der Vater der BF2 drogenabhängig sei und ihr per SMS Gewalt angedroht habe.
8. Am 06.09.2017 gab die BF1 bei der PI Lasallestraße an, dass sie weiterhin Angst vor dem Vater der BF2 haben würde und ihr Aussage vom 14.08.2017 diesbezüglich ändern wolle.
9. Am 07.09.2017 legte die BF1 beim Bundesamt eine erneute Anzeige gegen den Vater der BF2 und einen weiteren Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung vor. Dieser Antrag wurde am 27.09.2017 vom BG Leopoldstadt abgewiesen, da die BF1 nicht glaubhaft machen konnte, dass sie tatsächlich Opfer von Gewalt durch den Vater der BF2 gewesen sei und widerstreitende Angaben bei der Polizei gemacht habe.
10. Mit Schreiben vom 30.09.2017 gab der Unterkunftgeber der BF1 bekannt, dass die BF1 bei ihm seit drei Jahren wohnen würde und keine Miete zahlen würde. Die BF1 sei ihm gegenüber mehrmals gewalttätig geworden und seien die Angaben über eine Lebensgemeinschaft zwischen ihm und der BF1 falsch und würden diese nur dem Zweck der Erlangung einer Aufenthaltsbewilligung dienen.
11. Mit Schreiben vom 02.10.2017 gab die LPD Wien bekannt, dass es am 02.10.2017 zu einem Vorfall gekommen sei, bei dem die BF1 ihren Unterkunftgeber und vermeintlichen Lebensgefährten nach dessen Angaben angegriffen habe soll und dabei seine Hand zerkratzt habe. Nach den Angaben der BF1 würde ihr Unterkunftgeber sie seit zwei Monaten versuchen zum Sex zu zwingen und hätte er sie am Hals gepackt und gewürgt. Eine Nachfrage der Polizei bei der Kinder- und Jugendhilfe hätte ergeben, dass die BF1 dort niemals Vorwürfe der Gewaltanwendung gegen ihren Unterkunftgeber erhoben habe und dass sie dort angegeben habe, dass er nicht ihr Lebensgefährte sei. In der Folge wurde die BF1 von einer Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendhilfe in ein Frauenhaus gebracht.
12. Mit Schreiben vom 03.10.2017 gab der Unterkunftgeber der BF1 an, dass er seine vorherigen Angaben nur aufgrund eines heftigen Streites mit der BF1 getätigt habe. Er sei neben der BF1 die einzige Bezugsperson der BF2 und sei die BF2 lediglich in Österreich aufgewachsen und spreche nur Deutsch.
13. Am 20.10.2017 wurde die BF1 neuerlich vor dem Bundesamt einvernommen und brachte dabei im Wesentlichen vor, dass sie seit 2014 mit einem türkischen Staatsangehörigen zusammen sei und auch mit der BF2 in seiner Wohnung wohnen würde. Auf Vorhalt, dass aus dem Amtsvermerk des LPD Wien vom 02.10.2017 hervorgehe, dass die BF1 gar nicht mit ihrem Unterkunftsgeber zusammen sei, gab die BF1 an, dass sie sich lediglich geschämt habe, da sie nicht verheiratet seien und er nicht der Vater ihres Kindes sei.
Die BF1 legte den Beschluss des BG Leopoldstadt vor und gab dazu an, dass die einstweilige Verfügung vom Gericht abgelehnt worden sei und die Richterin der BF1 vorgeworfen habe Konzentrationsschwierigkeiten zu haben.
Die BF1 gab weiters an, dass sie derzeit im Frauenhaus wohne und nicht vor habe zu ihrem Lebensgefährten zurückzuziehen. Sie würde mit ihrem Lebensgefährten seit diesem Sommer häufig streiten. Entgegen den Angaben bei der LPD Wien vom 02.10.2017 habe ihr Lebensgefährte sie jedoch nie vergewaltigt, sondern habe sie ihm nur den Sex verweigert.
14. Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 11.12.2017 wurde den BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 55 Abs. 1 - 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht vorliegen, da keine gültige einstweilige Verfügung vorliege und seitens der LPD Wien Bedenken gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels vorliegen würden, da das Strafverfahren gegen den Kindsvater eingestellt worden sei.
Bezüglich Spruchpunkt II. führte das Bundesamt begründend aus, dass die BF in Österreich über kein schützenswertes Familienleben verfügen würden. Die BF1 habe in Österreich keine Ausbildung abgeschlossen oder ein berufliches Engagement gezeigt. Die BF verfügen über keinen gesicherten Wohnsitz und würden die BF lediglich von freiwilliger finanzieller Unterstützung der Mutter der BF1 leben. Abgesehen von ihren Sprachkenntnissen habe die BF1 daher keine relevanten Integrationsschritte gesetzt und würde noch eine enge Bindung zum Heimatstaat bestehen, da die BF1 in der Ukraine aufgewachsen sei und über ein weitreichendes familiäres Umfeld verfüge.
Die BF2 verfüge zudem über kein bestehendes Familienleben mit ihrem leiblichen Vater und gehe aus dem Obsorgebeschluss hervor, dass der Vater der BF2 kein Interesse an persönlichem Kontakt habe und der BF1 auch das alleinige Obsorgerecht zukomme.
15. Gegen diese Bescheide wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und wurden diese zur Gänze angefochten. Insbesondere wurde nach Wiedergabe des Sachverhaltes vorgebracht, dass die Behörde ihrer Ermittlungspflicht nicht nachgegangen sei und es unterlassen habe den BF die Ermittlungsergebnisse insbesondere das Schreiben des Lebensgefährten der BF1 und die Stellungnahme der LPD Wien zu übermitteln. Die belangte Behörde habe daher den Grundsatz auf Einräumung von Parteiengehör verletzt und hätten diese Verfahrensmängel zu unrichtigen Feststellungen bzw. zu einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung geführt. Die BF1 habe in einem Frauenhaus Schutz gesucht und könne dieser Umstand nach herrschender Rechtsprechung des BVwG die Gewährung einer einstweiligen Verfügung ersetzen. Die BF1 werde mittlerweile seit einem halben Jahr in einem Frauenhaus betreut und sei gemeinsam mit der BF2 in einer geheimen Schutzwohnung untergebracht. Bezüglich des Schreibens des Lebensgefährten der BF1 sei zu sagen, dass es in Fällen von häuslicher Gewalt nicht unüblich sei, dass Gewalttäter als Schutzbehauptung das Naheverhältnis zu ihren Opfern abstreiten würden.
16. Mit Schreiben vom 08.01.2018 wurde dem Bundesamt von der Staatsanwaltschaft Wien mitgeteilt, dass gegen die BF1 wegen der vorsätzlich begangenen Straftaten der Körperverletzung und der falschen Zeugenaussage gemäß § 83 (1) StGB, §§ 288 (1), 288 (4), 297
(1) 1. Fall, 83 (1) StGB Anklage erhoben worden sei.
17. Mit Schreiben des LG für Strafsachen Wien vom 02.07.2018 wurde das Bundesamt darüber in Kenntnis gesetzt, dass die BF1 mit Urteil vom 15.01.2018, GZ: 115 Hv 149/17z, wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage und der Verleumdung zu einer auf drei Jahre bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde. Die Berufung der BF1 wurde mit Urteil des OLG Wien vom 07.06.2018, GZ: 23 Bs 105/18m, abgewiesen.
18. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte für den 11.04.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung an, welche in weiterer Folge mangels Behebung der Ladung durch die BF1 abberaumt werden musste. Die BF1, die zu diesem Zeitpunkt (gemeinsam mit der mj. BF2) keine amtliche Meldung im Bundesgebiet aufwies, ersuchte diesbezüglich um eine neue Ladung und gab - in Ermangelung einer Zustelladresse - ihre Mobiltelefonnummer bekannt. Trotz mehrmaliger Anrufe durch die Kanzleibediensteten des Bundesverwaltungsgerichtes konnte BF1 nicht erreicht werden.
19. Nachdem die BF1 mit Eingabe vom 24.5.2019 einen Meldezettel übermittelte, fand am 10.07.2019 vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu welcher die BF und die belangte Behörde ordnungsgemäß geladen wurden. Im Rahmen dessen wurde der BF1 Gelegenheit geboten, ausführlich zu ihrem Antrag und ihrer Situation in Österreich Stellung zu nehmen. Das Bundesamt nahm durch einen ausgewiesenen Vertreter an der mündlichen Verhandlung teil. Vorgelegt wurden ein Betreuungsvertrag der Kindergruppe "Aladin" betreffend die BF2. Die BF1 verweigerte in der Folge die Unterschrift auf dem Verhandlungsprotokoll.
20. Mit Schreiben vom 11.07.2019 wurden der BF1 Länderberichte der Staatendokumentation übermittelt und diese zur Abgabe einer Stellungnahme dazu aufgefordert. Am 16.07.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Unterstützungsschreiben betreffend die BF ein. Darin brachte der Unterkunftgeber der BF vor, dass er seit der Geburt der BF2 mit dieser im gemeinsamen Haushalt leben würde und sich um sie, wie um seine eigene Tochter kümmern würde. Die BF1 würde er seit 2012 kennen.
Die BF2 würde nur Deutsch sprechen und würden die BF Anspruch auf Erteilung eines humanitären Aufenthaltes nach Art. 8 EMRK haben. Er sei türkischer Staatsangehöriger und habe schon die österreichische Staatsbürgerschaft beantragt. Er arbeite als Zusteller und verdiene 1.230,-- EUR netto im Monat. Beiliegend übermittelte er Fotos von sich gemeinsam mit der BF2.
21. Mit Schreiben vom 24.07.2019 brachte die BF1 eine Stellungnahme ein. Darin wurde im Wesentlichen angemerkt, dass die Angaben im Protokoll zu der Verhandlung vom 16.07.2019 falsch wiedergegeben worden seien. Beiliegend übermittelte die BF1 ein Fotokonvolut, ein Unterstützungsschreiben, sowie diverse Integrationsunterlagen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Beweis wurde erhoben durch den Inhalt des vorliegenden Verwaltungsaktes der BF, beinhaltend die niederschriftlichen Einvernahme der BF1 vor dem Bundesamt am 03.08.2017 und am 20.10.2017, sowie der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 10.07.2019, und schließlich durch Einsicht in aktuelle Auszüge aus Strafregister, GVS und IZR sowie durch Einsichtnahme in das aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Ukraine.
1. Feststellungen:
1.1. Festgestellt wird, dass die BF Staatsangehörige der Ukraine und Zugehörige der Volksgruppe der Ukrainer sind. Die BF2 ist die minderjährige ledige Tochter der BF1. Die BF1 ist in der Mongolei geboren, hat in der Ukraine bis zur Matura die Schule besucht und danach ein Studium begonnen. Der Vater der BF1 ist bereits verstorben. Im Herkunftsstaat leben noch die Mutter der Bruder und die Großmutter der BF1. Zu der Mutter der BF1 besteht regelmäßiger Kontakt und lebt diese wirtschaftlich abgesichert. Die BF werden von der Mutter der BF1 mit 400 Euro im Monat finanziell unterstützt.
Die BF sind gesund.
Die BF1 erstattete am 23.04.2015 Anzeige bei der Polizei gegen den Vater der BF2 wegen des Verdachtes auf Körperverletzung und Verstößen gegen das SMG. Das Strafverfahren gegen den Vater der BF2 wurde in weiterer Folge eingestellt. Die BF1 stellte am 08.08.2016 einen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung gegen den Vater der BF2 beim BG Leopoldstadt. Bezüglich des Antrages wurde ein Vergleich abgeschlossen, demnach sich die BF1 und der Vater der BF2 zu einem gegenseitigen Wohnungsbetretungsverbot und Kontaktverbot verpflichtet haben.
1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass die BF im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Ukraine in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wären.
Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in ihrem Herkunftsstaat in eine existenzgefährdende Notlage geraten würden und ihnen die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
1.3. Die BF1 befindet sich seit 2014 durchgehend im Bundesgebiet und hat die BF1 keine Verwandten oder sonstigen Angehörigen in Österreich. Die BF2 verfügt in Österreich über ihren Vater, zu dem jedoch zu keinem Zeitpunkt ein aufrechtes Familienleben bestanden hat. Der Vater der BF2 hat weder die Obsorge noch ein Besuchsrecht bezüglich die BF2.
Die BF1 spricht sehr gut Deutsch und hat im Jahr 2005 ein Deutsch-Sprachprüfungszeugnis für den Hochschulzugang erfolgreich absolviert. Die BF1 war vom 01.03.2009 bis zum 30.11.2014 an der Universität Wien als ordentliche Studierende für das Bachelorstudium "Kultur- und Sozialanthropologie" gemeldet. Die BF1 hat einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet. Die BF leben von der finanziellen Unterstützung von Freunden und Verwandten und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Die BF sind nicht Mitglieder in Vereinen oder Organisationen und konnte eine überdurchschnittliche Integration der BF im Bundesgebiet nicht festgestellt werden. Die Mutter und der Bruder der BF1 leben weiterhin im Herkunftsland. Die BF werden durch die Mutter der BF1 regelmäßig finanziell unterstützt. Die BF1 verfügt auch noch über eine Großmutter in der Ukraine zu der sie nur selten Kontakt hat.
Die BF1 wurde wegen des Vergehens der Verleumdung und der falschen Beweisaussage zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt.
1.4. Zum Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:
KI vom 09.01.2019, Kriegsrecht beendet (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage)
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat wie angekündigt, das für Teile der Ukraine verhängte 30-tägige Kriegsrecht, nicht verlängert. Es lief damit wie geplant am 26.12.2018 um 13 Uhr (MEZ) aus. Der Präsident betonte, das Kriegsrecht habe in keiner Weise den Alltag der Zivilbevölkerung beeinflusst (ZO 26.12.2018; vgl. DW 26.12.2018).
KI vom 28.11.2018, 30 Tage Kriegsrecht für bestimmte Oblaste verhängt (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage)
Das ukrainische Parlament hat am 26. November dem Antrag von Präsident Poroschenko zugestimmt, in Teilen des Landes für 30 Tage das Kriegsrecht zu verhängen. Betroffen sind die "gegenüber russischer Aggression verwundbarsten Regionen" des Landes (siehe Karte) (RFE/RL 26.11.2018).
(RFE/RL 27.11.2018)
Das Kriegsrecht ermöglicht in den genannten Oblasten eine teilweise Mobilisierung, eine Stärkung der Luftverteidigung sowie eine nicht näher spezifizierte Stärkung des Konterspionage-, Konterterrorismus- und Kontersabotage-Regimes und der Informationssicherheit. Von den 450 Abgeordneten der Obersten Rada (ukrainisches Parlament) stimmten nach hitziger Debatte 276 für und 30 gegen den Antrag. Zuerst hatte Poroschenko die Maßnahme noch für 60 Tage gefordert, das aber später reduziert (RFE/RL 26.11.2018).
Anlass für diesen in der ukrainischen Geschichte beispiellosen Schritt, war ein Vorfall in der Meerenge von Kertsch (der einzigen Zufahrt zum Asowschen Meer) vom vergangenen Wochenende, bei dem die russische Küstenwache Patrouillenboote der ukrainischen Marine erst beschoss, einen Schlepper rammte und die Boote danach festsetzte und insgesamt 23 ukrainische Seeleute inhaftierte. Russland behauptet, die ukrainischen Seefahrzeuge hätten illegal russische Gewässer befahren. Seit die ukrainische Krimhalbinsel von Russland annektiert worden ist, gibt es gehäuft Probleme beim freien Zugang zum Asowschen Meer und damit zum für die ukrainische Wirtschaft so wichtigen Hafen Mariupol. Mittlerweile hat Russland auch eine Brücke über die Meerenge von Kertsch gebaut (RFE/RL 26.11.2018).
Präsident Poroschenko sagte vor der Debatte im Parlament, die Verhängung des Kriegsrechts sei nötig, damit die Ukraine unverzüglich die Verteidigung stärken kann, um im Falle einer Invasion schnell reagieren zu können. Dies bedeute jedoch nicht, dass die Ukraine offensive Operationen unternehmen wolle; es gehe ausschließlich um den Schutz des Territoriums und die Sicherheit der Bürger. Das Kriegsrecht sieht Dutzende Handlungsoptionen vor, die ergriffen werden können - aber nicht müssen. Diese müssen vor Inkrafttreten von der Regierung festgelegt werden. So gehen die Polizeiaufgaben in Kampfgebieten an die Armee über. Das Militär erhält erweiterte Rechte und ist beispielsweise berechtigt, Ausgangssperren zu verhängen sowie Wohnungsdurchsuchungen und Verkehrs- und Personenkontrollen vorzunehmen. Männer im wehrpflichtigen Alter unterliegen Meldeauflagen. Auch ist es während des Kriegsrechts verboten, Verfassungsänderungen, Parlaments- oder Präsidentenwahlen durchzuführen. Das Kriegsrecht lässt aber keine Folter zu. Bei Rechtsverstößen können nur reguläre Gerichte urteilen. Zusätzlich können weitere Maßnahmen getroffen werden wie Einschränkung der Pressefreiheit, Kontrollen oder Einschränkungen der Kommunikationsmittel usw. Im Gesetz ist festgehalten, dass das Kriegsrecht nach dem festgelegten Zeitraum enden muss. Eine Verlängerung würde dementsprechend einen erneuten Antrag des Präsidenten erfordern. Allerdings kann das Kriegsrecht auch frühzeitig beendet werden. Das derzeit geltende Kriegsrecht gilt für 30 Tage. Es trat am 28. November 2018, 9 Uhr morgens in Kraft und endet am 27. Dezember 2018 (SO 27.11.2018).
Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sind für den 21. März 2019 angesetzt und sollen wie geplant stattfinden (RFE/RL 26.11.2018).
KI vom 19.12.2017, Antikorruption (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage, Abschnitt 4/Rechtsschutz/Justizwesen und Abschnitt 7/Korruption)
Die Ukraine hat seit 2014 durchaus Maßnahmen gesetzt, um die Korruption zu bekämpfen, wie die Offenlegung der Beamtenvermögen und die Gründung des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU). Gemeinsam mit dem ebenfalls neu geschaffenen Antikorruptionsstaatsanwalt kann das NABU viele Fälle untersuchen und hat einige aufsehenerregende Anklagen vorbereitet, u.a. wurde der Sohn des ukrainischen Innenministers festgenommen. Doch ohne ein spezialisiertes Antikorruptionsgericht läuft die Arbeit der Ermittler ins Leere, so die Annahme der Kritiker, da an normalen Gerichten die Prozesse erfahrungsgemäß eher verschleppt werden können. Das Antikorruptionsgericht sollte eigentlich bis Ende 2017 seine Arbeit aufnehmen, wurde aber noch immer nicht formell geschaffen. Präsident Poroschenko äußerte unlängst die Idee, eine auf Korruption spezialisierte Kammer am Obersten Gerichtshof sei ausreichend und schneller einzurichten. Diesen Vorschlag lehnte jedoch der Internationale Währungsfonds (IWF) ab. Daher bot Poroschenko eine Doppellösung an: Zuerst solle die Kammer eingerichtet werden, später das unabhängige Gericht. Der Zeitplan dafür ist jedoch offen (NZZ 9.11.2017).
Kritiker sehen darin ein Indiz für eine Einflussnahme auf die Justiz durch den ukrainischen Präsident Poroschenko. Mit Juri Luzenko ist außerdem Poroschenkos Trauzeuge Chef der Generalstaatsanwaltschaft, welche von Transparency International als Behörde für politische Einflussnahme bezeichnet wird. Tatsächlich berichtet die ukrainische Korruptionsstaatsanwaltschaft von Druck und Einflussnahme auf ihre Ermittler (DS 30.10.2017).
Ende November 2017 brachten Abgeordnete der Regierungskoalition zudem einen Gesetzentwurf ein, der eine "parlamentarische Kontrolle" über das NABU vorsah und heftige Kritik der westlichen Partner und der ukrainischen Zivilgesellschaft auslöste (UA 13.12.2017). Daraufhin wurde der Gesetzesentwurf wieder von der Tagesordnung genommen (DS 7.12.2017), dafür aber der Vorsitzende des Komitees der Werchowna Rada zur Korruptionsbekämpfung entlassen, welcher die Ernennung des von der Regierung bevorzugten Kandidaten für das Amt des Auditors im NABU blockiert hatte (UA 13.12.2017).
Im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew haben zuletzt mehrere Tausend Menschen für eine Amtsenthebung von Präsident Petro Poroschenko demonstriert. Die Kundgebung wurde von Micheil Saakaschwili angeführt - Ex-Staatschef Georgiens und Ex-Gouverneur des ukrainischen Odessa, der ursprünglich von Präsident Poroschenko geholt worden war, um gegen die Korruption vorzugehen. Saakaschwili wirft Poroschenko mangelndes Engagement im Kampf gegen die Korruption vor und steht seit einigen Wochen an der Spitze einer Protestbewegung gegen den ukrainischen Präsidenten. Mit seinen Protesten will er vorgezogene Neuwahlen erzwingen. Saakaschwili war Anfang Dezember, nach einer vorläufigen Festnahme, von einem Gericht freigelassen worden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen Organisation eines Staatsstreiches (DS 17.12.2017).
Die EU hat jüngst die Auszahlung eines Hilfskredits über 600 Mio. €
an die Ukraine gestoppt, und der Internationale Währungsfonds (IWF) ist ebenfalls nicht zur Gewährung von weiteren Hilfskrediten bereit, solange der Kampf gegen die grassierende Korruption nicht vorankommt (NZZ 18.12.2017). Der IWF hat die Ukraine aufgefordert, die Unabhängigkeit von NABU und Korruptionsstaatsanwaltschaft zu gewährleisten und rasch einen gesetzeskonformen Antikorruptionsgerichtshof im Einklang mit den Empfehlungen der Venediger Kommission des Europarats zu schaffen (UA 13.12.2017).
KI vom 30.11.2017, Zeugen Jehovahs (relevant für Abschnitt 15/Religionsfreiheit)
In verschiedenen Regionen der Ukraine beklagen religiöse Minderheiten Diskriminierung durch lokale Behörden. Die ukrainischen Gesetze verbieten jedenfalls Diskriminierung aufgrund des Glaubens, und religiöse Gruppen haben auch Möglichkeiten im Gesetzgebungsprozess gehört zu werden. Ukrainische Gerichte haben an mehreren Orten Polizeistrafen aufgehoben, welche gegen Zeugen Jehovahs wegen der Verteilung ihrer Schriften an öffentlichen Orten verhängt worden waren. Es gibt Berichte von physischen Angriffen auf Zeugen Jehovahs und von Vandalenakten gegen ihre Einrichtungen. Für 2016 werden 21 Fälle von Vandalismus (davon drei Brandstiftungen) gegen Königreichhallen gezählt, während es 2015 noch 56 Fälle von Vandalismus (davon fünf Brandstiftungen) waren. Es gibt aber auch Berichte über behördliche Gegenmaßnahmen, etwa die Verurteilung von Tätern bei Körperverletzungen. 2015 hatte der Gemeinderat eines ukrainischen Dorfes im Oblast Kirovohrad alle Religionsgemeinschaften außer der lokalen orthodoxen Gemeinde verboten, darunter auch die Zeugen Jehovahs. Dieses Verbot wurde auf Intervention des Büros des Ombudsmanns zurückgenommen, was die Zeugen Jehovahs sehr begrüßten. (USDOS 15.8.2017a).
In früheren Jahren zählten die Zeugen Jehovahs 64 Körperverletzungen (2008-2014) und 190 Vandalenakte (2008-2013) bei, nach eigenen Angaben, 150.000 Mitgliedern. Sie beklagten die Passivität von Polizei und Gerichten bei der Verfolgung der Delikte (JW 28.7.2014). 2014-2016 zählten die Zeugen Jehovahs 115 Übergriffe; acht Täter wurden in diesem Zeitraum gerichtlich verurteilt. Auch beklagten sie Einmischung der Behörden bei der Errichtung von Königreichsälen (UNHRC 31.8.2017). Andererseits sehen die Zeugen Jehovahs in der Ukraine ihre Position im Land durch ein ukrainisches Gerichtsurteil gestärkt, das der Religionsgemeinschaft die Anmietung von Gebäuden erleichtert (JW 24.3.2017). Laut Bericht wurde der Tag der offenen Tür der Zeugen Jehovahs in Lemberg auch von Behördenvertretern besucht (JW 25.7.2017).
Die Zeugen Jehovas sind eine jener Religionsgemeinschaften, deren Angehörige in der Ukraine ausdrücklich für einen Wehrersatzdienst aus Gewissensgründen infrage kommen, was auch für den Mobilisierungsfall gilt, wie eindeutig gerichtlich bestätigt wurde (USDOS 10.8.2016) (siehe dazu Kap. 9.1. Wehrersatzdienst, Anm.).
Die Separatisten in den selbsternannten Volksrepubliken Donetsk (DPR) und Lugansk (LNR) sperrten unter anderem eine Reihe von Zeugen Jehovahs ein. Nachdem in der DPR ein Gesetz zum Verbot von Sekten erlassen wurde, wurden einige Königreichhallen der Zeugen Jehovas besetzt, zwei davon aber auch wieder zurückgegeben (USDOS 15.8.2017a). Auf der Krimhalbinsel wird faktisch russisches Recht umgesetzt (USDOS 15.8.2017b). Die Zeugen Jehovahs wurden auf der Krimhalbinsel im April 2017 durch Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts für illegal erklärt, weil sie eine extremistische Organisation seien. Am 1. Juni 2017 wurden alle 22 Gemeinden dieser Religionsgemeinschaft auf der Krim (geschätzte 8.000 Mitglieder) amtlich abgemeldet. Am 9. Juni 2017 wurde einem Zeugen Jehovahs auf der Krim erklärt, er habe als solcher in der Russischen Föderation kein Recht auf einen Wehrersatzdienst aus Glaubengründen. Am 27. Juni 2017 wurde das Oberhaupt einer Gemeinde der Zeugen Jehovahs wegen unerlaubter Missionierungstätigkeit vor Gericht geladen und starb später am Tag an einer Herzattacke (OHCHR 25.9.2017).
Politische Lage
Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Ihr Staatsoberhaupt ist seit 7.6.2014 Präsident Petro Poroschenko. Regierungschef ist seit 14.4.2016 Ministerpräsident Wolodymyr Hroisman. Das Parlament (Verkhovna Rada) der Ukraine besteht aus einer Kammer; 225 Sitze werden über ein Verhältniswahlsystem mit Listen vergeben, 225 weitere Sitze werden in Mehrheitswahl an Direktkandidaten in den Wahlkreisen vergeben. 27 Mandate bleiben aufgrund der Krim-Besetzung und des Konflikts in der Ost-Ukraine derzeit unbesetzt. Im Parlament sind folgende Fraktionen und Gruppen vertreten (mit Angabe der Zahl der Sitze):
Block von Petro Poroschenko (Blok Petra Poroschenka) 142
Volksfront (Narodny Front) 81
Oppositionsblock (Oposyzijny Blok) 43
Selbsthilfe (Samopomitsch) 26
Radikale Partei von Oleh Ljaschko (Radykalna Partija Oleha Ljaschka) 20
Vaterlandspartei (Batkiwschtschyna) 20
Gruppe Wolja Narodu 19
Gruppe Widrodshennja 24
Fraktionslose Abgeordnete 48
(AA 2.2017a)
Der nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch mit großer Mehrheit bereits im ersten Wahldurchgang zum Präsidenten gewählte Petro Poroschenko verfolgt seither mit unterschiedlichen Koalitionen eine europafreundliche Reformpolitik. Zu den Schwerpunkten des Regierungsprogramms gehören die Bekämpfung der Korruption sowie eine Verfassung- und Justizreform. Die Parteienlandschaft ist pluralistisch und reflektiert alle denkbaren Strömungen von national-konservativ bis links-sozialistisch. Die kommunistische Partei ist verboten. Die Regierung Hrojsman, die seit April 2016 im Amt ist, setzt den euroatlantischen Integrationskurs der Vorgängerregierung unter Arseni Jazenjuk fort und hat trotz zahlreicher koalitionsinterner Querelen und zum Teil großer Widerstände wichtige Reformen erfolgreich durchführen können. Gleichwohl sind die Erwartungen der Öffentlichkeit zu Umfang und Tempo der Reformen bei weitem nicht befriedigt (AA 7.2.2017).
Die Präsidentenwahlen des Jahres 2014 werden von internationalen und nationalen Beobachtern als frei und fair eingestuft (USDOS 3.3.2017a).
Ukrainische Bürger können seit 11. Juni 2017 ohne Visum bis zu 90 Tage in die Europäische Union reisen, wenn sie einen biometrischen Pass mit gespeichertem Fingerabdruck besitzen. Eine Arbeitserlaubnis ist damit nicht verbunden. Die Visabefreiung gilt für alle EU-Staaten mit Ausnahme Großbritanniens und Irlands (DS 11.6.2017).
Sicherheitslage
Der nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch vom mit großer Mehrheit bereits im ersten Wahlgang am 07.06.2014 direkt zum Präsidenten gewählte Petro Poroschenko verfolgt eine europafreundliche Reformpolitik, die von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wird. Diese Politik hat zu einer Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren geführt, obwohl Russland im März 2014 die Krim annektierte und seit Frühjahr 2014 separatistische "Volksrepubliken" im Osten der Ukraine unterstützt (AA 7.2.2017).
Die ukrainische Regierung steht für einen klaren Europa-Kurs der Ukraine und ein enges Verhältnis zu den USA. Das 2014 von der Ukraine unterzeichnete und ratifizierte Assoziierungsabkommen mit der EU ist zum Jahresbeginn 2016 in Kraft getreten und bildet die Grundlage der Beziehungen der Ukraine zur EU. Es sieht neben der gegenseitigen Marktöffnung die Übernahme rechtlicher und wirtschaftlicher EU-Standards durch die Ukraine vor. Das Verhältnis zu Russland ist für die Ukraine von zentraler Bedeutung. Im Vorfeld der ursprünglich für November 2013 geplanten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens übte Russland erheblichen Druck auf die damalige ukrainische Regierung aus, um sie von der EU-Assoziierung abzubringen und stattdessen einen Beitritt der Ukraine zur Zollunion/Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft herbeizuführen. Nach dem Scheitern dieses Versuchs und dem Sturz von Präsident Janukowytsch verschlechterte sich das russisch-ukrainische Verhältnis dramatisch. In Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen und bilateraler Verträge annektierte Russland im März 2014 die Krim und unterstützt bis heute die bewaffneten Separatisten im Osten der Ukraine (AA 2.2017c).
Die sogenannten "Freiwilligen-Bataillone" nehmen offiziell an der "Anti-Terror-Operation" der ukrainischen Streitkräfte teil. Sie sind nunmehr alle in die Nationalgarde eingegliedert und damit dem ukrainischen Innenministerium unterstellt. Offiziell werden sie nicht mehr an der Kontaktlinie eingesetzt, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, eventuell auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von allerdings teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse von UNHCHR, Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlung wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen (AA 7.2.2017).
Seit Ausbruch des Konflikts im Osten der Ukraine in den Regionen Lugansk und Donezk im April 2014 zählte das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der UN (OHCHR) 33.146 Opfer des Konflikts, davon
9.900 getötete und 23.246 verwundete Personen (inkl. Militär, Zivilbevölkerung und bewaffnete Gruppen). Der Konflikt wird von ausländischen Kämpfern und Waffen, die nach verschiedenen Angaben aus der Russischen Föderation in die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete (NGCA) gebracht werden, angeheizt. Zudem gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen sind betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Der bewaffnete Konflikt stellt einen Bruch des Internationalen Humanitären Rechts und der Menschenrechte dar. Der Konflikt wirkt sich auf die ganze Ukraine aus, da es viele Kriegsrückkehrern (vor allem Männer) gibt und die Zahl der Binnenflüchtlinge (IDPs) hoch ist. Viele Menschen haben Angehörige, die getötet oder entführt wurden oder weiterhin verschwunden sind. Laut der Special Monitoring Mission der OSZE sind täglich eine hohe Anzahl an Brüchen der Waffenruhe, die in den Minsker Abkommen vereinbart wurde, zu verzeichnen (ÖB 4.2017).
Russland kontrolliert das Gewaltniveau in der Ostukraine und intensiviert den Konflikt, wenn es russischen Interessen dient (USDOS 3.3.2017a).
Halbinsel Krim
Die Halbinsel Krim wurde 2014 von der Russischen Föderation besetzt. Das "Referendum" über den Anschluss an Russland, welches auf der Krim durchgeführt wurde, wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen für ungültig erklärt. Die Resolution 71/205 der Generalversammlung der UN bezeichnet die Russische Föderation als Okkupationsmacht auf der Krim. Seit 2014 sind konstant Menschenrechtsverletzungen seitens der Machthaber zu beobachten:
Gefangene legen Geständnisse ab, die durch Misshandlung und Folter erreicht wurden. Individuen bestimmter Gruppen werden in psychiatrische geschlossene Anstalten zwangseingewiesen. Anwälte können nicht uneingeschränkt ihrer Arbeit nachgehen. Menschen, die keinen russischen Pass haben, wird der Zugang zu staatlichen Dienstleistungen verwehrt. Weiters bestehen Diskriminierungen aufgrund von sexueller Orientierung und Genderidentität. Menschen mit anderer politischer Meinung werden verhaftet und unter Bezugnahme auf russische "Anti-Terror"-Gesetze zu Haftstrafen verurteilt. Auch werden Individuen entführt oder verschwinden plötzlich. Wenige bis keine dieser Fälle werden ausreichend investigativ und juristisch verfolgt. Besonders die ethnische Gruppe der Krimtataren, aber auch Ukrainer anderer ethnischer oder religiöser Gruppen, sind von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Der Mejlis, die krimtatarische gewählte Versammlung zur Repräsentation der Krimtataren, wurde am 18. April 2016 durch die lokalen Behörden suspendiert und am 26. April vom Russischen Obersten Gerichtshof als "extremistisch" eingestuft und verboten. Menschenrechtsorganisationen sowie Journalisten haben keinen uneingeschränkten Zugang zur Krim. Bestimmte Webseiten werden blockiert und unabhängige Medien mussten auf das ukrainische Festland übersiedeln. Die Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wird massiv eingeschränkt. Am 7. März 2016 wurden in Simferopol alle öffentlichen Versammlungen verboten, die nicht von den Machthabern organisiert wurden (ÖB 4.2017).
Auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Auf der Krim werden seit der völkerrechtswidrigen Annexion durch Russland im März 2014 staatliche Aufgaben von russischen Behörden ausgeübt. Die Einwohner wurden pauschal eingebürgert, es wurde begonnen, sie mit russischen Inlandspässen, seit September 2014 auch mit russischen Reisepässen, auszustatten. Einwohner der Krim, die ihr Widerspruchsrecht nutzten haben damit u.
a. den Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung verloren. Die Minderheit der Krimtataren unterliegt erheblichen Restriktionen. Besorgniserregend sind weiterhin Meldungen, wonach exponierte Vertreter der tatarischen Minderheit verschwinden, nicht mehr auf die Krim reisen dürfen bzw. vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Außerdem werden tatarische Vereine in ihrer Handlungsfähigkeit beschnitten und unter Druck gesetzt, teilweise auch kriminalisiert oder zur Auflösung gezwungen. Die gewählte Versammlung der Krimtataren, das Selbstverwaltungsorgan Medschlis, wird von den de-facto-Behörden als terroristische Vereinigung eingestuft, seine Mitglieder werden verfolgt. Versuche, die tatarische Minderheit in eine den de-facto-Behörden willfährige Parallelstruktur einzubinden, blieben bisher ohne nennenswerten Erfolg. Medien stehen unter Druck, eine offene Zivilgesellschaft gibt es nicht mehr. Dem unabhängigen Fernsehsender der Tataren ATR wurde die Lizenz entzogen; er hat seinen Sitz nach Kiew verlegt. Seine Sendungen können auf der Krim nur noch im Internet und dort sehr eingeschränkt verfolgt werden. Auch jüngste Berichte von UNHCR sowie Amnesty International listen eine Reihe von Verletzungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf der Krim auf, die von einer Einschränkung des Versammlungsrechts über willkürliche Verhaftungen bis hin zu Entführungen, Folter und Ermordung reicht. Versuche der Vereinten Nationen, der OSZE oder des Europarats eine kontinuierliche Beobachtung der Menschenrechtssituation auf der Krim vorzunehmen, sind bisher gescheitert (AA 7.2.2017).
Auf der Halbinsel Krim sind Dissidenten das Ziel systematischen Missbrauchs und der Verfolgung durch die russischen Behörden. Es gibt Berichte über Fälle von Verschwindenlassen. Internationalen und nationalen Menschenrechtsbeobachtern wird die Einreise auf die Krim verweigert. Wenn Gruppen versuchen dort tätig zu werden, werden sie zum Ziel erheblicher Drangsale und Einschüchterung (USDOS 3.3.2017a).
Im Feber 2014 besetzten russische Truppen die Halbinsel Krim militärisch. Im März wurde die Krim nach einem Scheinreferendum schließlich annektiert und zum Teil der Russischen Föderation erklärt. Die Vereinten Nationen verurteilten diesen Schritt und riefen Staaten und internationale Organisation auf, dies nicht anzuerkennen. Auf der Krim gilt seither de facto russisches Recht, es wurde eine russische Regierung installiert. Die russischen Sicherheitsbehörden konsolidieren ihre Kontrolle der Halbinsel weiterhin und beschränken die Menschenrechte durch unverhältnismäßige Anwendung repressiver russischer Gesetze. Abweichende und Meinungen und Opposition zur Annexion der Krim werden von den russischen Behörden durch Einschüchterung unterdrückt. Dazu gehören Entführungen, Verschwindenlassen, Misshandlung, politische Prozesse, wiederholte grundlose Vorladungen durch die Sicherheitsbehörden, gegenstandslose Festnahmen, usw. Bestimmte Gruppen, vor allem ethnische Ukrainer und Krimtataren werden systematisch diskriminiert und ihre Menschenrechte eingeschränkt. Der Selbstverwaltungskörper der krimtatarischen Minderheit, der demokratisch gewählte Mejlis, wurde als extremistische Organisation verboten. Personen, welche die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft verweigern, werden beim Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und Arbeitsmarkt diskriminiert. Es gibt auch Eingriffe in die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit, speziell durch Behinderung bei der Pflege des kulturellen Erbes und durch Einschränkung des Zugangs zu Unterricht in ukrainischer und krimtatarischer Sprache. Die Medienfreiheit auf der Krim wird ebenfalls eingeschränkt, unabhängige Medien gibt es nicht mehr. Die wenigen verbleibenden unabhängigen bzw. kritischen Journalisten wurden eingesperrt und wegen Extremismus angeklagt. Es kommt zu politischer Einmischung in gerichtliche Verfahren, Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Diskriminierung ethnischer und sexueller Minderheiten. Tausende Personen flüchteten als Binnenvertriebene in die Ukraine. Bei den russischen Behörden auf der Krim herrscht betreffend Menschenrechtsverletzungen ein Klima der Straflosigkeit. Fälle von Entführung oder Tötung von Einwohnern der Krim in den Jahren 2014 und 2015 werden nicht angemessen untersucht (USDOS 3.3.2017b).
Die Rechte der Bevölkerung der Krim, besonders der Krimtataren, werden weitgehend verletzt. Der krimtatarische Mejlis wurde verboten und krimtatarische Führungspersönlichkeiten dürfen die Krim nicht betreten oder sind inhaftiert (FH 29.3.2017).
Auf der Krim setzten die de-facto-Behörden ihre Maßnahmen zur Unterdrückung jeglicher pro-ukrainischer Opposition fort, wobei sie zunehmend auf russische Gesetze zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus zurückgriffen und Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Dutzende Personen anstrengten, die als illoyal betrachtet wurden. In keinem der Fälle von Verschwindenlassen, die sich im Anschluss an die russische Besetzung ereignet hatten, gab es gründliche Ermittlungen. Die russischen Behörden hielten Parlamentswahlen auf der Krim ab, die international nicht anerkannt wurden. Die bereits stark eingeschränkten Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurden 2016 noch weiter beschnitten. Die Websites einiger unabhängiger Medienkanäle, die in den Jahren zuvor gezwungen waren, ihren Sitz auf das ukrainische Festland zu verlegen, wurden von den De-facto-Behörden auf der Krim gesperrt. Am 7. März 2016 verbot der Bürgermeister von Simferopol, der Hauptstadt der Krim, alle öffentlichen Versammlungen, die nicht von den Behörden organisiert wurden. Ethnische Krimtataren waren von dem Bestreben der De-facto-Behörden zur Beseitigung jeglicher pro-ukrainischer Opposition nach wie vor besonders stark betroffen. Am 18. April wurde der Medschlis, eine von der krimtatarischen Volksversammlung Kurultai gewählte Vertretung, aufgelöst und am 26. April von einem Gericht als "extremistisch" verboten. Das Verbot wurde am 29. September vom Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation bestätigt (AI 22.2.2017).
Russland setzt Kritiker der Krim-Okkupation weiterhin politischer Strafverfolgung aus und schränkt die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit weiter ein. Krimtataren werden unter dem Vorwand der Extremismusbekämpfung verfolgt (HRW 12.1.2017).
Die im Zuge der Annexion der Halbinsel Krim bzw. im Zuge der Kampfhandlungen im Osten bekanntgewordenen und nicht zuletzt durch OSZE-Beobachter wiederholt thematisierten Verschleppungen von Journalisten durch Separatisten sowie die Behinderung objektiver Berichterstattung gaben ebenfalls zu verstärkter Sorge Anlass (ÖB 4.2017).
Seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim häufen sich Berichte über den Versuch der systematischen Einschränkung der Versammlungsfreiheit unter dem Vorwand sicherheitspolitischer Erwägungen. Dies wirkt sich insbesondere auf die Aktivitäten der Krimtataren aus. Exemplarisch sei auf das Argument verwiesen, wonach Parkflächen während der Schulferien für Kinderaktivitäten freizuhalten und dementsprechend öffentliche kulturelle Veranstaltungen der Krimtataren aus Anlass des Tags der Flagge der Krimtataren in Simferopol am 26. Juni 2014 zu untersagen seien (ÖB 4.2017).
Ostukraine
Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim durch Russland im März 2014 rissen pro-russische Separatisten in einigen Gebieten der Ost-Ukraine die Macht an sich und riefen, unterstützt von russischen Staatsangehörigen, die "Volksrepublik Donezk" und die "Volksrepublik Lugansk" aus. Der ukrainische Staat begann daraufhin eine sogenannte Antiterroroperation (ATO), um die staatliche Kontrolle wiederherzustellen. Bis August 2014 erzielten die ukrainischen Kräfte stetige Fortschritte, danach erlitten sie jedoch - bedingt durch militärische Unterstützung der Separatisten aus Russland - zum Teil schwerwiegende Verluste. Die trilaterale Kontaktgruppe mit Vertretern der Ukraine, Russlands und der OSZE bemüht sich darum, den militärischen Konflikt zu beenden. Das Minsker Protokoll vom 5. September 2014, das Minsker Memorandum vom 19. September 2014 und das Minsker Maßnahmenpaket vom 12. Februar 2015 sehen unter anderem eine Feuerpause, den Abzug schwerer Waffen, die Gewährung eines "Sonderstatus" für einige Teile der Ost-Ukraine, die Durchführung von Lokalwahlen und die vollständige Wiederherstellung der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze vor. Die von der OSZE-Beobachtermission SMM überwachte Umsetzung, etwa des Truppenabzugs, erfolgt jedoch schleppend. Die Sicherheitslage im Osten des Landes bleibt volatil (AA 2.2017b).
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten der Oblaste Donezk und Lugansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Berichte der OSZE-Beobachtermission, von Amnesty International sowie weiteren NGOs lassen den Schluss zu, dass es nach Ausbruch des Konflikts im März 2014 in den von Separatisten kontrollierten Gebieten zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Dazu zählen extralegale Tötungen auf Befehl örtlicher Kommandeure ebenso wie Freiheitsberaubung, Erpressung, Raub, Entführung, Scheinhinrichtungen und Vergewaltigungen. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte spricht von einem "vollständigen Zusammenbruch von Recht und Ordnung", von einem "unter den Bewohnern vorherrschenden Gefühl der Angst, besonders ausgeprägt in der Region Lugansk", sowie einer durch "fortgesetzte Beschränkungen der Grundrechte, die die Isolation der in diesen Regionen lebenden Bevölkerung verschärft, sowie des Zugangs zu Informationen" gekennzeichneten Menschenrechtslage. Die Zivilbevölkerung ist der Willkür der Soldateska schutzlos ausgeliefert, Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit sind faktisch suspendiert. Nach UN-Angaben sind seit Beginn des bewaffneten Konflikts über 10.000 Menschen umgekommen. Es sind rund 1,7 Mio. Binnenflüchtlinge registriert und ca. 1,5 Mio. Menschen sind in Nachbarländer geflohen. Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt: Die Sicherheitslage hat sich verbessert, auch wenn Waffenstillstandsverletzungen an der Tagesordnung bleiben. Der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland) stockt jedoch trotz hochrangiger Unterstützung im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt neben den Lokalwahlen im besetzten Donbas der Dezentralisierungsprozess für den Donbas, den die Rada noch nicht abgeschlossen hat. In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Lugansk wird die staatliche Ordnung erhalten oder wieder hergestellt, um Wiederaufbau sowie humanitäre Versorgung der Bevölkerung zu ermöglichen (AA 7.2.2017).
Die von Russland unterstützten Separatisten im Donbas verüben weiterhin Entführungen, Folter und unrechtmäßige Inhaftierung, rekrutieren Kindersoldaten, unterdrücken abweichende Meinungen und schränken humanitäre Hilfe ein. Trotzdem dies offiziell weiterhin abgestritten wird, kontrolliert Russland das Ausmaß der Gewalt in der Ostukraine und eskaliert den Konflikt nach eigenem politischen Gutdünken. Die separatistischen bewaffneten Gruppen werden weiterhin von Russland trainiert, bewaffnet, geführt und gegebenenfalls direkt im Einsatz unterstützt. Die Arbeit internationaler Beobachter wird dabei nach Kräften behindert. Geschätzte 70 Quadratkilometer landwirtschaftlicher Flächen in der Ostukraine wurden von den beiden Seiten vermint, speziell nahe der sogenannten Kontaktlinie. Diese Verminungen sind oft schlecht markiert und stellen eine Gefahr für Zivilisten dar. Bis zu 2.000 Zivilisten sollen im ostukrainischen Konfliktgebiet umgekommen sein, meist durch Artilleriebeschuss bewohnter Gebiete. Die Zahl derer, die durch Folter und andere Menschenrechtsverletzungen umgekommen sein dürften, geht in die Dutzende. 498 Personen (darunter 347 Zivilisten) bleiben vermisst. Die von Russland unterstützten Separatisten begingen systematisch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen (Schläge, Zwangsarbeit, Folter, Erniedrigung, sexuelle Gewalt, Verschwindenlassen aber auch Tötungen) sowohl zur Aufrechterhaltung der Kontrolle als auch zur Bereicherung. Sie entführen regelmäßig Personen für politische Zwecke oder zur Erpressung von Lösegeld, besonders an Checkpoints. Es kommt zu willkürlichen Inhaftierungen von Zivilpersonen bei völligem Fehlen jeglicher rechtsstaatlicher Kontrolle. Diese Entführungen führen wegen ihrer willkürlichen Natur zu großer Angst unter der Zivilbevölkerung. Von einem "Kollaps von Recht und Ordnung" in den Separatistengebieten wird berichtet. Internationalen und nationalen Menschenrechtsbeobachtern wird die Einreise in die Separatistengebiete verweigert. Wenn Gruppen versuchen dort tätig zu werden, werden sie zum Ziel erheblicher Drangsale und Einschüchterung. Journalisten werden willkürlich inhaftiert und misshandelt. Die separatistischen bewaffneten Gruppen beeinflussen direkt die Medienberichterstattung in den selbsternannten Volksrepubliken. Freie (kritische) Meinungsäußerung ist nicht möglich. Da die separatistischen Machthaber die Einfuhr von humanitären Gütern durch ukrainische oder internationale Organisationen stark einschränken, sind die Anwohner der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk mit starken Preisanstiegen konfrontiert. An Medikamenten herrscht ein erheblicher Mangel. Das erschwert auch die Behandlung von HIV und Tuberkulose. Mehr als 6.000 HIV-positive Personen in der Region leiden unter dem Mangel an Medikamenten und Medizinern (USDOS 3.3.2017a).
In den ostukrainischen Konfliktgebieten begingen Berichten zufolge auch Regierungstruppen bzw. mit ihnen verbündete Gruppen Menschenrechtsverletzungen. Der ukrainische Geheimdienst (SBU) soll Personen geheim festhalten bzw. festgehalten haben (USDOS 3.3.2017a). Nach einem Bericht über illegale Haft und Folter, sowohl durch den ukrainischen SBU sowie durch prorussische Separatisten, reagierte im Juli 2016 der SBU mit der Entlassung von 13 Personen aus der Haft (die Illegalität der Haft wurde aber abgestritten). Von der separatistischen Seite ist nichts dergleichen berichtet, obwohl deren Vergehen viel zahlreicher waren (FH 1.2017; vgl. HRW 12.1.2017).
Trotz des Abkommens von Minsk ist in der Ostukraine immer noch kein tragfähiger Waffenstillstand zustande gekommen. Russland liefert weiterhin Waffen und stellt militärisches Personal als "Freiwillige". 2016 haben sich die lokalen Verwaltungen in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk institutionell konsolidiert und der Aufbau russisch kontrollierter Staatsgebilde ist überwiegend abgeschlossen. Unabhängige politische Aktivitäten und politische Parteien sind jedoch verboten, NGOs arbeiten dort nicht, und eine freie Presse ist nicht vorhanden (FH 29.3.2017).
Nach wie vor kam es im Osten der Ukraine auf beiden Seiten zu sporadischen Verstößen gegen den vereinbarten Waffenstillstand. Sowohl die ukrainischen Streitkräfte als auch die pro-russischen Separatisten verübten Verletzungen des humanitären Völkerrechts, darunter Kriegsverbrechen wie Folter, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. In der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk wurden Personen, die der Unterstützung der jeweils anderen Seite verdächtigt wurden, rechtswidrig inhaftiert, auch zum Zwecke des Gefangenenaustauschs. Sowohl seitens der ukrainischen Behörden als auch der separatistischen Kräfte im Osten der Ukraine kam es auf den von der jeweiligen Seite kontrollierten Gebieten zu rechtswidrigen Inhaftierungen. Zivilpersonen, die als Sympathisanten der anderen Seite galten, wurden als Geiseln für den Gefangenenaustausch benutzt. Wer für einen Gefangenenaustausch nicht in Frage kam, blieb häufig monatelang inoffiziell in Haft, ohne Rechtsbehelf oder Aussicht auf Freilassung. In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk setzten lokale "Ministerien für Staatssicherheit" die ihnen im Rahmen lokaler "Verordnungen" verliehenen Befugnisse dazu ein, Personen bis zu 30 Tage lang willkürlich zu inhaftieren und diese Haftdauer wiederholt zu verlängern. Die ukrainischen Behörden schränkten den Personenverkehr zwischen den von den Separatisten kontrollierten Regionen Donezk und Lugansk und den von der Ukraine kontrollierten Gebieten weiterhin stark ein (AI 22.2.2017).
In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk agieren lokale Sicherheitsdienste in einem vollkommenen rechtlichen Vakuum, wodurch die von ihnen festgenommenen Personen jeglicher Rechtssicherheit oder Beschwerdemöglichkeiten beraubt (HRW 12.1.2017).
In den von pro-russischen Kräften besetzten Gebieten im Osten der Ukraine kann in keinster Weise von einer freien, gar kritischen Presse die Rede sein. Die im Zuge der Annexion der Halbinsel Krim bzw. im Zuge der Kampfhandlungen im Osten bekanntgewordenen und nicht zuletzt durch OSZE-Beobachter wiederholt thematisierten Verschleppungen von Journalisten durch Separatisten sowie die Behinderung objektiver Berichterstattung gaben ebenfalls zu verstärkter Sorge Anlass (ÖB 4.2017).
Pro-russische Separatisten in der Ostukraine entführen, inhaftieren, schlagen und bedrohen Mitglieder der ukrainisch-orthodoxen Kirche Kiewer Patriarchats, Zeugen Jehovas und Angehörige protestantischer Kirchen. Auch antisemitische Rhetorik und Handlungen werden berichtet. Sie verwüsten oder beschlagnahmen weiterhin Kirchenvermögen und geben vor, nur "offizielle Kirchen" dürften tätig werden. Faktisch werden religiöse Gruppen außer der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats systematisch diskriminiert (USDOS 10.8.2016).
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