Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AVG §37;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Wetzel und die Hofräte Dr. Kremla und Dr. Holeschofsky als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.Böhm, über die Beschwerde des B gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 12. Jänner 1999, Zl. Senat-SB-97-049, betreffend Übertretung der Straßenverkehrsordnung 1960 (mitbeteiligte Partei: JG), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Scheibbs vom 30. September 1997 war der Mitbeteiligte für schuldig befunden worden, er sei als Lenker eines dem Kennzeichen nach bestimmten Kraftfahrzeuges an einem näher bezeichneten Ort am 24. August 1997 um 19.40 Uhr an einem Verkehrsunfall beteiligt gewesen und habe, obwohl sein Verhalten am Unfallsort mit dem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang gestanden sei, 1.) nicht sofort angehalten und 2.) es unterlassen, ohne unnötigen Aufschub die nächste Polizei- oder Gendarmeriedienststelle zu verständigen, obwohl ein Identitätsnachweis nicht erfolgt sei. Der Mitbeteiligte habe dadurch zu 1.) § 4 Abs. 1 lit. a Straßenverkehrsordnung 1960 und zu 2.) § 4 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung 1960 verletzt, weshalb über ihn gemäß § 99 Abs. 3 lit. b leg. cit. Geldstrafen im Gesamtausmaß von S 3.000,-- (Ersatzfreiheitsstrafen insgesamt 132 Stunden) zu verhängen gewesen seien.
Mit dem auf Grund der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom 12. Jänner 1999 wurde gemäß § 66 Abs. 4 AVG in Stattgebung der Berufung das erstinstanzliche Straferkenntnis aufgehoben und gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG die Einstellung des Strafverfahrens verfügt. Begründend führte die belangte Behörde im wesentlichen aus, einem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten eines Amtssachverständigen für Medizin folgend sei davon auszugehen, daß der Mitbeteiligte infolge einer leidensbedingten, durch die Streßsituation ausgelösten Stuhlentleerung zur Tatzeit nicht zurechnungsfähig gewesen sei und sich daher nicht den Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung 1960 gemäß verhalten habe, weshalb er gemäß § 3 Abs. 1 VStG nicht strafbar sei.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gemäß Art. 131 Abs. 1 Z 2 B-VG erhobene, Rechtswidrigkeit seines Inhaltes geltend machende Beschwerde erwogen:
Gemäß § 3 Abs. 1 VStG ist nicht strafbar, wer zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig war, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln.
Die Frage, ob der Täter zur Zeit der Tat zurechnungsfähig war oder seine Zurechnungsfähigkeit in hohem Grad vermindert war, ist eine Rechtsfrage, die von der Behörde in freier Beweiswürdigung mit Hilfe eines ärztlichen Sachverständigen zu lösen ist, wobei in der Regel die Beiziehung eines Sachverständigen aus dem Sachgebiet der Psychiatrie erforderlich sein wird (vgl. die bei Hauer-Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens5, S 752f zitierte Judikatur).
Die belangte Behörde hat ihre Entscheidung im wesentlichen auf das im Zuge der von ihr durchgeführten mündlichen Verhandlung eingeholte Gutachten eines Amtssachverständigen für Medizin gestützt. Dieser führte aus, auf Grund des Befundes über das Leiden des Mitbeteiligten sei die Darstellung des Mitbeteiligten, daß es zum Zeitpunkt des Unfalles zu einer unwillkürlichen, nicht zurückhaltbaren Darmentleerung gekommen sei, medizinisch nachvollziehbar. Des weiteren sei es nachvollziehbar, daß der Mitbeteiligte in dieser Situation in erster Linie an seine körperliche Verunreinigung und daran, wie diese möglichst schnell zu beseitigen sei, gedacht habe und daher von seiner Verpflichtung zum Anhalten abgelenkt worden sei. Durch diese Situation sei sicherlich seine Zurechnungsfähigkeit zur Tatzeit aus medizinischer Sicht nicht gegeben gewesen.
Dem beschwerdeführenden Bundesminister ist zunächst bereits darin zu folgen, daß dieses Gutachten sich nur auf den unmittelbaren, auf den Verkehrsunfall folgenden Zeitraum und auf die Verpflichtung zum Anhalten bezog. Hinsichtlich der Frage, ob der Beschwerdeführer auch gehindert war, in Erfüllung der Verpflichtung des § 4 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung 1960 die nächste Polizei- oder Gendarmeriedienststelle vom Verkehrsunfall ohne unnötigen Aufschub zu verständigen, kann diesem Gutachten keinerlei Anhaltspunkt entnommen werden. Hinsichtlich der Einstellung des Strafverfahrens wegen der Übertretung des § 4 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung 1960 leidet der angefochtene Bescheid somit an einem Begründungsmangel.
Was die Übertretung der in § 4 Abs. 1 lit. a Straßenverkehrsordnung 1960 normierten Anhaltepflicht nach einem Verkehrsunfall anbelangt, kann dem Gutachten entnommen werden, daß der Amtssachverständige für Medizin es lediglich für nachvollziehbar erachtet hat, daß es beim Mitbeteiligten im Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen zu einer Stuhlentleerung gekommen ist. Dieser somit auf einer Annahme beruhenden Feststellung des Gutachters stehen zunächst die Aussagen des Mitbeteiligten im erstinstanzlichen Strafverfahren und in der Berufung gegenüber, in denen er angab, er sei auf die andere Seite der Erlauf über die Brücke gefahren, "da ich die Notdurft verrichten mußte" und er infolge einer unfallsbedingten Unterleibsquetschung "die Notdurft nicht verschieben" könne bzw. daß er wegen dieser Verletzung "unmittelbar nach dem Verkehrsunfall aus gesundheitlichen Gründen nicht sofort an der Unfallstelle anhalten" habe können. Die unfallsbeteiligte Zeugin T. R. hat weiters ausgesagt, daß der Mitbeteiligte unmittelbar nach dem Verkehrsunfall keine Erwähnung gemacht habe, er müsse seine Notdurft verrichten, und daß er dies auch weder während dieses Gespräches noch bei ihrem Wegfahren getan habe.
Angesichts dieser Beweislage und mit Rücksicht auf den Umstand, daß die erste Verantwortung eines Beschuldigten grundsätzlich glaubwürdiger ist als ein diesbezügliches späteres Vorbringen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. November 1988, Zl. 88/02/0145), durfte die belangte Behörde aber nicht das lediglich auf einer als nachvollziehbar erklärten Annahme aufbauende Gutachten des Amtssachverständigen für Medizin allein ihrer Entscheidung zugrunde legen. Vielmehr hätte sie zunächst unter Vorhalt seiner im erstinstanzlichen Verfahren abgegebenen Äußerungen den Mitbeteiligte über das tatsächliche maßgebende Geschehen - allenfalls unter Gegenüberstellung mit der unfallsbeteiligten Zeugin - ergänzend befragen müssen. Sodann wäre es, falls das Geschehen im Sinne der letzten Verantwortung des Mitbeteiligten als erwiesen anzusehen gewesen wäre, im Sinne der angeführten hg. Judikatur angebracht gewesen, das Gutachten eines weiteren Sachverständigen etwa auf dem Gebiet der Psychiatrie hinsichtlich der Frage, ob durch ein derartiges Geschehen die Zurechnungsfähigkeit des Mitbeteiligten - auch unter Einbeziehung des Umstandes, daß diesem seine Schwäche bereits seit dem Unfall im Jahre 1968 bekannt sein mußte - ausgeschaltet werden konnte, einzuholen.
Da somit der angefochtene Bescheid an einem Begründungsmangel leidet und der entscheidungswesentliche Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, sodaß nicht ausgeschlossen werden kann, daß die belangte Behörde bei Vermeidung des dargelegten Verfahrensmangels zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können, war der angefochtene Bescheid im Hinblick darauf, daß der Verwaltungsgerichtshof wesentliche Mängel des Verwaltungsverfahrens auch ohne Antrag in der Beschwerde wahrzunehmen hat, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Wien, am 25. Juni 1999
Schlagworte
Gutachten ErgänzungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1999:1999020076.X00Im RIS seit
12.06.2001