RS Vfgh 2018/12/1 G308/2018 (G308/2018-8)

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Veröffentlicht am 01.12.2018
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Index

L9200 Sozialhilfe, Grundsicherung, Mindestsicherung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art12 Abs1 Z1
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
BVG über die Rechte von Kindern Art1
Bgld MindestsicherungsG §10a, §10b
Genfer Flüchtlingskonvention Art23
Statusrichtlinie 2011/95/EU Art29
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Keine sachliche Rechtfertigung für unterschiedlich hohe Mindestsicherungsansprüche nach dem Bgld MindestsicherungsG durch Anknüpfung an eine 6-jährige Aufenthaltsdauer im Inland; mangelnde Berücksichtigung der Personenanzahl und des Bedarfs von mehreren in einem Haushalt lebenden Personen durch Deckelung des Mindeststandards pro Haushalt mit einem Fixbetrag von € 1.500,– ohne entsprechende Mindestabsicherung pro hinzukommender Person unsachlich

Rechtssatz

Aufhebung von §10a und §10b Bgld MindestsicherungsG (Bgld MSG), LGBl 20/2017.

Verstoß des §10a Bgld MSG gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art7 B-VG und ArtI Abs1 BVG-Rassendiskriminierung):

Nach dem Bgld MSG ist der Kreis der anspruchsberechtigten ausländischen Staatsangehörigen auf Fremde begrenzt, die zu einem dauernden Aufenthalt im Inland berechtigt sind (vgl §4 Abs1 Bgld MSG). Damit verhindert das Bgld MSG, dass Personen ausschließlich zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen nach Österreich migrieren. Ein Ausschluss solcher Personen ist - auch im Hinblick auf Unionsbürger - unbedenklich: Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen steht es grundsätzlich frei, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren, um Sozialleistungen ihres Herkunftsstaats, nach den dort geltenden Vorgaben, in Anspruch zu nehmen.

Im Unterschied zu dieser Personengruppe haben Asylberechtigte ihr Herkunftsland nicht aus freiem Entschluss verlassen und ihren Wohnsitz in Österreich nicht frei gewählt. Asylberechtige mussten ihr Herkunftsland wegen "wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden", verlassen und können aus denselben Gründen (derzeit) nicht dorthin zurückkehren. Schon dies begründet einen Unterschied im Tatsächlichen, der es im Lichte des Gleichheitsgrundsatzes verbietet, Asylberechtigte gleich wie die vorhin umschriebene Personengruppe zu behandeln, die jederzeit in ihren Herkunftsstaat zurückkehren kann. Dieser besonderen Situation der Asylberechtigten trägt auch das Genfer Abkommen vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: GFK) Rechnung, das für Österreich verbindlich ist: Art23 GFK verlangt eine nach Art und Höhe gleich ausgestaltete öffentliche Unterstützung und Hilfeleistung für Asylberechtigte und Staatsbürger. Österreich hat die - innerstaatlich im Rang eines einfachen Bundesgesetzes stehende - GFK mit der Maßgabe ratifiziert, dass unter den in Art23 GFK angeführten "Öffentlichen Unterstützungen und Hilfeleistungen" nur Zuwendungen aus der öffentlichen Fürsorge (Armenversorgung) zu verstehen sind. Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sind jedenfalls Zuwendungen aus der öffentlichen Fürsorge ("Armenwesen" iSv Art12 Abs1 Z1 B-VG).

Zur Vereinbarkeit des §10a Bgld MSG sowohl mit Art23 GFK als auch mit Art29 Status-RL, weist der VfGH darauf hin, dass diese Bestimmungen im vorliegenden Verfahren gemäß Art140 B-VG keinen Maßstab für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von §10a Bgld MSG bilden. Soweit der VfGH auf diese Bestimmungen Bezug nimmt, dient dies lediglich der Erläuterung der Rechtslage, die auch für die Beurteilung der Regelung anhand des Gleichheitsgrundsatzes maßgeblich ist.

§10a Bgld MSG sieht vor, dass Asylberechtigte ebenso wie Unionsbürger und Drittstaatsangehörige je nach der Aufenthaltsdauer in den letzten sechs Jahren in Österreich eine unterschiedlich hohe Mindestsicherung erhalten. Für diese (nicht nach der Staatsangehörigkeit differenzierende) Regelung fehlt - auch im Hinblick auf Asylberechtigte - eine sachliche Rechtfertigung.

Unsachlichkeit des §10b Bgld MSG:

Kein Abgehen von der Rsp des VfGH soweit in VfSlg 11662/1988 erkannt wurde, dass kein sachlicher Grund zu erkennen ist, richtsatzmäßige Geldleistungen für eine Haushaltsgemeinschaft ab dem dritten Haushaltsangehörigen abrupt zu kürzen und eine Höchstgrenze in solchen Fällen verfehlt ist, in denen allfällige weitere Haushaltsangehörige keine Familienbeihilfe beziehen sowie von VfSlg 19698/2012 soweit der Zweck der Aufgabenstellung eines Sicherungssystems offensichtlich verfehlt wird, wenn das Existenzminimum für ein menschenwürdiges Leben durch die erforderlichen Mindeststandards nicht gewährleistet ist.

Es steht dem Gesetzgeber frei, besondere Regelungen für Haushaltsgemeinschaften zu schaffen, weil hier grundsätzlich ein anderer Bedarf vorliegt als bei Einpersonenhaushalten. So haben in Haushaltsgemeinschaft lebende Personen geringere Wohnkosten und - in einem gewissen Ausmaß - auch geringere Lebenshaltungskosten, die sich beispielsweise in degressiven Mindeststandards niederschlagen können (vgl VfGH 12.12.2017, V101/2017).

Die prozentuelle Kürzung der Mindeststandards der Haushaltsmitglieder gemäß §10b Abs2 Bgld MSG ändert nichts daran, dass ihnen nach Maßgabe der Deckelung insgesamt nur € 1.500,- zustehen, und zwar unabhängig davon, wie viele und welche Personen tatsächlich im Haushalt leben und wie hoch deren konkreter Bedarf ist. Auch wenn die Lebenshaltungskosten pro Person bei zunehmender Größe der Haushaltsgemeinschaft abnehmen mögen, so ist doch immer noch je weitere Person ein Aufwand in einiger Höhe erforderlich. Die gemäß §9 Abs4 Bgld MSG bzw gemäß §§15 ff Bgld SozialhilfeG geschaffenen Möglichkeiten, Zusatzleistungen in Form des Privatrechts zu erbringen, können diese Systemwidrigkeit des §10b Bgld MSG nicht ausgleichen.

Der VfGH geht weiterhin davon aus, dass es zulässig ist, den Grundbetrag der Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag bei der Bemessung von Leistungen beim Anspruchsberechtigten aus der Mindestsicherung zu berücksichtigen (vgl VfSlg 19913/2014). Der Lebensunterhalt einer hinzukommenden Person - etwa eines dritten Kindes - kann aber in der Regel nicht mit der Familienbeihilfe allein bestritten werden. Da die Deckelung vor allem Haushalte mit einer größeren Anzahl von Kindern trifft, wodurch die Bedarfsdeckung besonders bei Kindern nicht mehr gewährleistet ist, ist in diesem Zusammenhang auch Art1 BVG über die Rechte von Kindern zu beachten. Danach hat jedes Kind Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung sowie auf die Wahrung seiner Interessen auch unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Die verfassungsrechtliche Vorgabe, bei Kinder betreffenden Maßnahmen das Kindeswohl als vorrangige Erwägung zu berücksichtigen, bindet auch den Gesetzgeber, wenn er die Grundlagen für solche Maßnahmen normiert (VfSlg 20018/2015). Die Ausgestaltung des §10b Bgld MSG, die es verhindert, den konkreten Bedarf von Personen wahrzunehmen, die in einer Haushaltsgemeinschaft leben, ist daher - auch in Anbetracht des Art1 BVG über die Rechte von Kindern - verfassungswidrig.

Soweit §10b Bgld MSG eine "relative Deckelung" ausschließlich für volljährige erwerbsfähige Personen darstelle, sah auch die mit E v 07.03.2018, G136/2017 ua, aufgehobene Bestimmung des NÖ MSG eine Ausnahme für Personen vor, die Pflegegeld oder erhöhte Familienbeihilfe bezogen haben bzw dauerhaft arbeitsunfähig waren. Der VfGH ist weiterhin der Ansicht, dass derartige Ausnahmeregelungen nicht geeignet sind, eine betragsmäßig fixe Deckelung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung, ohne entsprechende Mindestabsicherung pro hinzukommender Person, bei den von der Deckelung erfassten Anspruchsberechtigten zu rechtfertigen.

Gemäß §7 Bgld MSG haben arbeitsfähige Personen, die Bedarfsorientierte Mindestsicherung beziehen, ihre Arbeitskraft im Rahmen ihrer Möglichkeiten einzusetzen und sich um entsprechende Erwerbstätigkeiten zu bemühen. Soweit dieser Verpflichtung nicht nachgekommen wird, können die Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung um bis 50 % gekürzt werden, bei beharrlicher Weigerung auch darüber hinaus.

Die Deckelung gemäß §10b Bgld MSG ist nur anzuwenden, soweit bei arbeitsfähigen, volljährigen Personen, denen der Einsatz ihrer Arbeitskraft zumutbar ist, keine Anrechnung von Einkommen stattfindet. Daraus folgt, dass etwa Haushalte, in denen Erwerbseinkommen erwirtschaftet wird, genauso wie Haushalte in denen Versicherungsleistungen (insbesondere Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe) bezogen werden, von der Deckelung ausgenommen sind. Der Burgenländische Landesgesetzgeber geht sohin davon aus, dass Personen, die in größeren Haushaltsgemeinschaften leben, grundsätzlich einen stärkeren Anreiz zur Arbeitsaufnahme benötigen. Sofern innerhalb eines Haushalts auch nur eine Person etwa Erwerbseinkommen oder eine Versicherungsleistung bezieht - so die Burgenländische Landesregierung -, sei dieser verstärkte Arbeitsanreiz nicht mehr notwendig. Der VfGH weist zunächst darauf hin, dass die Mindestsicherung ein System steuerfinanzierter Transferleistungen darstellt und diesem keine Anwartschaften oder Beitragsleistungen der berechtigten Personen gegenüberstehen. Es ist daher unsachlich, die Leistungshöhe der Mindestsicherung vom Bezug von Versicherungsleistungen abhängig zu machen.

Soweit §10b Bgld MSG unangewendet bleibt, wenn Erwerbseinkommen bezogen wird, ist diese Regelung auch nicht geeignet, die Deckelung zu rechtfertigen: Für den VfGH ist nicht erkennbar, inwiefern die Kürzung durch die Deckelung zu einem verstärkten Arbeitsanreiz führen soll, zumal §10b Bgld MSG nicht auf die Arbeitswilligkeit einer Person abstellt, sondern auf deren Wohnverhältnisse.

Das mit §10b Bgld MSG geschaffene System nimmt keine Durchschnittsbetrachtung vor, sondern verhindert die Berücksichtigung des konkreten Bedarfes von in Haushaltsgemeinschaft lebenden Personen. Dadurch verfehlt dieses System der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ab einer bestimmten Haushaltsgröße seinen eigentlichen Zweck, nämlich die Vermeidung und Bekämpfung von sozialen Notlagen bei hilfsbedürftigen Personen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Mindestsicherung, Kinder, Armenwesen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:G308.2018

Zuletzt aktualisiert am

09.03.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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