TE Lvwg Erkenntnis 2018/4/26 VGW-151/071/8471/2017

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.04.2018
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Entscheidungsdatum

26.04.2018

Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
E2D Assoziierung Türkei
E2D E02401013
E2D E05204000
E2D E11401020
60/04 Arbeitsrecht allgemein
62 Arbeitsmarktverwaltung

Norm

NAG §8 Abs1 Z2
NAG §24 Abs1
NAG §24 Abs2
ARB 1/80 Art. 6 Abs1
ARB 1/80 Art. 6 Abs2
AuslBG §3 Abs2

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Verwaltungsgericht Wien hat durch den Richter Mag. Ivica Kvasina über die Beschwerde des Herrn E. B., vertreten durch Rechtsanwältin in Wien, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien, Magistratsabteilung 35 - Einwanderung und Staatsbürgerschaft, vom 05.04.2017, Zl. MA 35-9/2858136-08, mit welchem 1.) der Zweckänderungsantrag gemäß § 26 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF iVm Art. 6 Abs. 1 und 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980, abgewiesen wurde und 2.) der Verlängerungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck "Studierender" gemäß § 64 Abs. 3 NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF iVm § 8 Z 7 lit. b Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - Durchführungsverordnung (NAG-DV), BGBl. II Nr. 451/2005 idgF iVm § 75 Universitätsgesetz, BGBl. I Nr. 120/2002 idgF, abgewiesen wurde

zu Recht erkannt:

I. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG wird der Beschwerde stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben.

II. Dem Beschwerdeführer wird in Anwendung des § 24 Abs. 4 NAG nach den Bestimmungen des Niederlassungs-und Aufenthaltsgesetzes ein Aufenthaltstitel “Rot-Weiß-Rot –Karte plus“ (§ 8 Abs. 1 Z 2 NAG) für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.

Entscheidungsgründe

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Zweckänderungsantrag des nunmehrigen Beschwerdeführers vom 02.08.2016 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ nach Art 6 Abs. 1 des ARB Nr. 1/80 abgewiesen. Begründend führte die Behörde zusammengefasst sinngemäß aus (Spruchpunkt 1.), dass der Beschwerdeführer keine Rechte nach Art 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des ARB Nr. 1/80 ableiten könne, zumal der Beschwerdeführer bereits 2 (mehr als einjährige) Beschäftigungsverhältnisse bei zwei verschiedenen Arbeitgebern vorweisen könne, jedoch im Entscheidungszeitpunkt diese Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr aufrecht seien und der Beschwerdeführer bei einem anderen Arbeitgeber beschäftigt sei.

Mit Spruchpunkt 2.) wies die belangte Behörde den Verlängerungsantrag des Beschwerdeführers vom 09.11.2015 auf Verlängerung der Gültigkeit seines Aufenthaltstitels „Studierende“ wegen mangelnden Studienerfolges ab.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer rechtzeitig eine Beschwerde und verweis im Wesentlichen auf seine aus dem Art 6 Abs. 1 des ARB Nr. 1/80 erwachsenen Rechte auf.

Die Beschwerde wurde mit 16.06.2017 (einlangend) unter Anschluss des bezughabenden Aktes an das Verwaltungsgericht Wien zur Entscheidung weitergeleitet.

Das Verwaltungsgericht Wien nahm Einsicht in das Zentrale Melderegister, den Versicherungsdatenauszug der Österreichischen Sozialversicherung, das Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister des Bundesministeriums für Inneres, das Verwaltungsstrafregister, das AMS-Behördenportal, sowie das Strafregister der Republik Österreich und tätigte eine Anfrage an das AMS Wien.

Aus dem den Beschwerdeführer betreffenden fremdenrechtlichen Administrativakt der belangten Behörde, den vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumenten und Unterlagen sowie den vom Verwaltungsgericht Wien getätigten Abfragen ergibt sich folgender, entscheidungswesentlicher Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger der Republik Türkei, ledig, unbescholten und verfügt über eine türkische Geburtsurkunde und einen türkischen Reisepass, gültig bis 07.11.2027.

Laut Einsicht in den Versicherungsdatenauszug vom 26.04.2018 ist er seit 10.06.2016 ununterbrochen bei der „F.-GesmbH“ als Arbeiter beschäftigt. Für diese Erwerbstätigkeit wurde ihm mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Wien vom 06.06.2016 eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Kellner für die Zeit vom 10.06.2016 bis 09.06.2017 erteilt. Diese Beschäftigungsbewilligung wurde mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Wien vom 31.05.2017 für die Zeit vom 10.06.2017 bis 09.06.2018 beim selben Arbeitgeber für die weitere berufliche Tätigkeit als Kellner verlängert.

Bisher wurde ihm seitens des Landeshauptmannes von Wien Aufenthaltsbewilligungen „Studierender“ erteilt, zuletzt mit Gültigkeit vom 12.11.2014 bis 12.11.2015. Diesbezüglich hat er am 09.11.2015 einen Verlängerungsantrag und am 02.08.2016 einen Zweckänderungsantrag auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels “Rot-Weiß-Rot –Karte plus“ in Anwendung der Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) gestellt.

Das Verwaltungsgericht hat erwogen:

Gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG Z 1 erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

§ 28 Abs. 1 und 2 VwGVG lauten:

(1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Im Bescheidbeschwerdeverfahren vor den Verwaltungsgerichten besteht kein Neuerungsverbot; es kann also sowohl ein neues Tatsachenvorbringen als auch ein ergänzendes Beweisanbot erstattet werden (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsverfahren (2013), § 9 VwGVG Anm 8 und § 10 VwGVG Anm 1; Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte (2013), § 10 VwGVG K 2; Claudia Fuchs, ÖJZ 2013/110, 949 (950) mit weiteren Hinweisen).

Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 NAG berechtigt der Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ zur befristeten Niederlassung und zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 AuslBG.

Gemäß § 24 Abs. 1 NAG sind Verlängerungsanträge (§ 2 Abs. 1 Z 11) vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels, frühestens jedoch drei Monate vor diesem Zeitpunkt, bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen; § 23 gilt. Danach gelten Anträge als Erstanträge. Nach Stellung eines Verlängerungsantrages ist der Antragsteller, unbeschadet der Bestimmungen nach dem FPG, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag weiterhin rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig.

Gemäß § 24 Abs. 4 NAG kann mit einem Verlängerungsantrag bis zur Erlassung des Bescheides ein Antrag auf Änderung des Aufenthaltszwecks des bisher innegehabten Aufenthaltstitels oder auf Änderung des Aufenthaltstitels verbunden werden. Sind die Voraussetzungen für den beantragten anderen Aufenthaltszweck oder Aufenthaltstitel nicht erfüllt, ist darüber gesondert mit Bescheid abzusprechen und der bisherige Aufenthaltstitel mit dem gleichen Aufenthaltszweck zu verlängern, soweit die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen.

Gemäß § 3 Abs. 2 des Ausländerbeschäftigungsgesetzes darf ein Ausländer, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, eine Beschäftigung nur antreten und ausüben, wenn für ihn eine Beschäftigungsbewilligung oder Entsendebewilligung erteilt oder eine Anzeigebestätigung ausgestellt wurde oder wenn er eine für diese Beschäftigung gültige „Rot-Weiß-Rot – Karte“, „Blaue Karte EU“ oder „Aufenthaltsbewilligung – Künstler“ oder eine „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“, eine „Aufenthaltsberechtigung plus“, einen Befreiungsschein (§ 4c) oder einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ oder „Daueraufenthalt – EU“ besitzt.

Gemäß Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat

-              nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

-              nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung -vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedsstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

-              nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

Gemäß Art. 6 Abs. 2 des ARB 1/80 werden der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeiten erworbenen Ansprüche.

Die Behörde stützte die Abweisung des gegenständlichen Ansuchens auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer keine Rechte nach Art 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des ARB Nr. 1/80 ableiten könne, zumal der Beschwerdeführer bereits 2 (mehr als einjährige) Beschäftigungsverhältnisse bei zwei verschiedenen Arbeitgebern vorweisen könne, jedoch im Entscheidungszeitpunkt diese Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr aufrecht seien und der Beschwerdeführer bei einem anderen Arbeitgeber beschäftigt sei.

Zu untersuchen ist im gegebenen Zusammenhang somit, ob dem Beschwerdeführer eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zukommt, somit ob er ad personam eine Berechtigung nach dem Art. 6 Abs. 1 und 2 dieses Beschlusses erworben hat.

Im Hinblick auf die oben getätigten unstrittigen Sachverhaltsfeststellungen war somit zu prüfen, ob der Beschwerdeführer Rechte aus dem zitierten ARB 1/80 und damit ein aus dem Unionsrecht ableitbares, unmittelbare Wirkung entfaltendes Recht auf Zugang zur Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat erworben hat. Die praktische Wirksamkeit dieses Rechts setzt zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, das ebenfalls auf dem Gemeinschaftsrecht beruht und vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig ist. Denn das in Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehene, durch keine Voraussetzungen - nicht einmal durch einen Vorrang der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - eingeschränkte Recht des Betroffenen, eine frei von ihm gewählte Beschäftigung aufzunehmen, würde ausgehöhlt, wenn die zuständigen nationalen Behörden die Möglichkeit hätten, die Ausübung der dem türkischen Migranten unmittelbar durch den Beschluss Nr. 1/80 verliehenen, genau bestimmten Rechte an Bedingungen zu knüpfen oder in irgendeiner Weise einzuschränken (vgl. VwGH vom 8. November 2001, Zl. 97/21/0111 mit Hinweisen auf die Judikatur des EuGH).

Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 regelt nunmehr die Voraussetzungen unter denen ein türkischer Arbeitnehmer, der rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und dort die Erlaubnis erhalten hat, eine Beschäftigung auszuüben, seine Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat ausüben kann. Danach darf der türkische Arbeitnehmer nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung weiterhin bei demselben Arbeitgeber arbeiten (erster Spiegelstrich) und nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung kann er sich - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten einzuräumenden Vorrangs - für den gleichen Beruf auf ein Stellenangebot eines anderen Arbeitgebers bewerben (zweiter Spiegelstrich). Im Gegensatz dazu verleiht Abs. 1 dritter Spiegelstrich nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung dem türkischen Arbeitnehmer nicht nur das Recht, sich auf ein vorliegendes Stellenangebot zu bewerben, sondern auch uneingeschränkten Zugang zu jeder von ihm frei gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis (vgl. EuGH Urteil vom 7. Juli 2005, Rs C-383/03, Dogan; EuGH Urteil vom 10. Jänner 2006, Rs C-230/03, Sedef).

Des Weiteren kommt türkischen Staatsangehörigen, die dem Anwendungsbereich des Assoziationsabkommens unterliegen, nach der Rechtsprechung ein unmittelbar aus dem Assoziationsrecht herrührendes Aufenthaltsrecht zu, zumal aus der unmittelbaren Wirkung des Art. 6 ARB 1/80 nicht nur folgt, dass der Betroffene hinsichtlich der Beschäftigung ein individuelles Recht unmittelbar daraus herleiten kann, sondern dass die praktische Wirksamkeit dieses Rechts außerdem zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraussetzt (vgl. etwa VwGH vom 15. März 2012, Zl. 2009/01/0036 mwN und unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH vom 7. Juli 2005, Rs C-383/03, Dogan, vom 29. Oktober 2006, Rs-4/05, Güzeli und vom 29. September 2011, Rs C-187/10, Unal). Im Fall des Bestehens einer aus Art. 6 ARB 1/80 erfließenden Rechtsposition kommt einer Aufenthaltsberechtigung bloß deklaratorische Bedeutung zu.

Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt ist dabei die Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit in der Eigenschaft als Arbeitnehmer, wobei solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die wegen ihres geringen Umfanges völlig untergeordnet und unwesentlich sind. Dabei besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH vom 24. Jänner 2008, Rs C-294/06, Payir et. al, EuGH vom 19. November 2002, Rs C-188/00, Bülent Kurz, geb. Yüce).

Eine Berechtigung nach Art. 6 ARB 1/80 kommt somit nur solchen türkischen Arbeitnehmern zu, die während bestimmter Zeiträume eine gesicherte und nicht nur eine vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt innehaben. Während dieser Zeiträume muss sowohl die Beschäftigung des betroffenen türkischen Arbeitnehmers im Einklang mit den arbeitsrechtlichen, als auch sein Aufenthalt mit den nicht nur eine vorübergehende Position sichernden aufenthaltsrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates gestanden sein (VwGH vom 24. Februar 2009, Zl 2008/22/0410 mwN, EuGH vom 19. November 2002, Rs C-188/00, Bülent Kurz, geb. Yüce).

Aus der soeben wiedergegebenen Judikatur folgt somit, dass nicht jeder Student, der türkischer Staatsangehöriger ist und während seines Studiums einer Erwerbstätigkeit nachgeht, sich auf Art. 6 Abs 1 ARB 1/80 berufen kann. Vielmehr müssen die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen in einer Form erfüllt sein, wie sie vom Gerichtshof der Europäischen Union im Urteil vom 24. Jänner 2008, C 294/06 (Rs. Payir ua), in den Rz 27 ff näher dargestellt wurden (vgl. VwGH vom 18. Juni 2009, Zl. 2008/22/0796). Danach wird die Zugehörigkeit zum „regulären Arbeitsmarkt“ aufgrund einer „gesicherten“ und nicht nur „vorläufigen Position“ sowie die Ausübung einer „tatsächlichen und echten“ und nicht nur „wegen ihres geringen Umfanges völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit“ im erforderlichen zeitlichen Ausmaß gefordert (vgl. auch VwGH vom 25. Februar 2010, Zl. 2007/21/0429).

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, ist rechtmäßig nach Österreich eingereist und hält sich auf Grund des rechtzeitig vor Ablauf des letzten Aufenthaltstitels „Studierender“ gültig bis 12.11.2015, eingebrachten Verlängerungsantrages verbunden mit einem Zweckänderungsantrag gemäß § 24 Abs. 4 NAG rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Er geht aufgrund einer ihm erteilten Beschäftigungsbewilligung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nach und beabsichtigt auch weiterhin einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Er kann sich somit auf Art. 13 ARB 1/80 berufen.

Aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ergibt sich wie dargestellt, dass türkische Staatsangehörige nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung weiterhin bei demselben Arbeitgeber arbeiten dürfen (erster Spiegelstrich). Da der Beschwerdeführer seit 10.06.2016, somit mehr als ein Jahr durchgehend, einer nicht bloß untergeordneten unselbstständigen Erwerbstätigkeit als Kellner im Ausmaß von 30 Wochenstunden beim selben Arbeitgeber nachgeht und auch weiterhin beabsichtigt, dieser Beschäftigung als Kellner beim selben Arbeitgeber nachzugehen, erfüllt er seit Ablauf des 10.06.2017 die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 und hat demnach Anspruch auf die Verlängerung seiner arbeitsmarktrechtlichen Bewilligung und auf ein entsprechendes Aufenthaltsrecht zwecks Durchsetzung seiner beschäftigungsrechtlichen Position. Dementsprechend wurde die Beschäftigungsbewilligung vom Arbeitsmarktservice Wien bereits verlängert. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer jedoch noch keine weiteren Rechte, insbesondere nicht das Recht auf unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinne des Art 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich nach Art 6 ARB 1/80 erworben, da er noch nicht vier Jahre beim selben Arbeitgeber beschäftigt gewesen ist (vgl. EuGH Urteil 10. Jänner 2006, Rs C-230/03, Sedef).

Dem Wortlaut des ARB 1/80 sind nach der aktuellen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keine expliziten aufenthaltsrechtlichen Vergünstigungen zu entnehmen (vgl. Akyürek, Das Assoziationsabkommen EWG-Türkei, 124). Allerdings impliziert ein Recht auf Beschäftigung notwendigerweise ein Aufenthaltsrecht. Dieses Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung ist ab diesem Zeitpunkt unmittelbar aus dem ARB 1/80 herzuleiten und wird nicht erst durch die Erteilung einer entsprechenden nationalen Erlaubnis begründet. Deshalb hat eine Aufenthaltserlaubnis für die Anerkennung des Aufenthaltsrechtes nur eine deklaratorische Bedeutung und Beweisfunktion (vgl. auch dazu Akyürek, a.a.O., 124f, sowie das hg. Erkenntnis vom 10.11.2009, 2008/22/0687).

Als Aufenthaltstitel, die zu einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit berechtigen, kennt das NAG die „Rot-Weiß-Rot – Karte“, die Rot-Weiß-Rot – Karte plus“, die „Blaue Karte EU“ gemäß §§ 41 und 42 NAG, Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“, Aufenthaltstitel „Angehöriger“ sowie der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“. Die Voraussetzungen für sämtliche genannten Aufenthaltstitel sind beim Beschwerdeführer nicht gegeben. Er ist weder Schlüsselkraft, übt keine hochqualifizierte Tätigkeit aus und ist auch nicht Familienangehöriger oder Angehöriger im Sinne des NAG. Auch erfüllt er die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung des Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ nach § 41a NAG nicht.

Das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz kennt allerdings keinen gesonderten Aufenthaltstitel für türkische Staatsangehörige, welche Ansprüche aus Art 6 oder 7 ARB 1/80 ableiten können und einen diesen Normen entsprechenden Berechtigungsumfang normieren.

Der somit in Betracht kommende, die aktuellen aus den Assoziierungsabkommen und den dazu ergangenen Zusatzprotokollen ableitbaren Berechtigungen des Beschwerdeführers abdeckende Aufenthaltstitel mit dem geringsten Berechtigungsumfang stellt der Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ dar, welcher den Beschwerdeführer zu einem befristeten Aufenthalt im Bundesgebiet und zu einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit berechtigt. Allerdings umfasst dieser Aufenthaltstitel einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt, was wiederum durch die bislang durch den Beschwerdeführer erworbene Rechtsposition nach Art. 6 ARB 1/80, nämlich das Recht der Weiterbeschäftigung beim selben Arbeitgeber, nicht vermittelt wird. Das Verwaltungsgericht Wien verkennt somit nicht, dass der Beschwerdeführer nach Art 6 ARB 1/80 noch keinen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt erworben hat.

Für den Beschwerdeführer, welcher nunmehr aufgrund der erworbenen Ansprüche nach Art 6 ARB auch niedergelassen ist (vgl. das zitierte Erkenntnis des VwGH vom 10.11.2009), kommt entsprechend dem beantragten Aufenthaltszweck, nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Wien kein anderer Aufenthaltstitel als „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ in Betracht, ungeachtet dessen, dass dem erteilten Aufenthaltstitel selbst nur deklarative Wirkung zukommt. Eine letztendlich befriedigende Lösung dahingehend, dass dem türkischen Staatsangehörigen durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels keine über das ARB 1/80 hinausgehenden Befugnisse insbesondere im Hinblick auf den so vermittelten unbeschränkten Zugang zu Arbeitsmarkt, zukommen, wäre nach Ansicht des hier erkennenden Mitglieds des Verwaltungsgerichtes Wien lediglich durch die Normierung entsprechender Aufenthaltstitel mit entsprechendem Berechtigungsumfang für türkische Staatsangehörige zu gewährleisten.

Zulässigkeit der ordentlichen Revision

Die ordentliche Revision ist zulässig, da eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, zumal es an einer Rechtsprechung dahingehend fehlt, welcher Aufenthaltstitel nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz einem aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, welcher Ansprüche nach Art. 6 erster Spiegelstrich des ARB 1/80 bereits erworben hat, weiters über einen Aufenthaltstitel nach § 64 NAG verfügte und auf Grund der rechtzeitigen Einbringung eines Verlängerungsantrages weiterhin zum Aufenthalt berechtigt ist und beabsichtigt, weiter einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, zu erteilen ist.

Schlagworte

Zweckänderungsantrag, Assoziationsabkommen, deklaratorische Wirkung, unmittelbare Wirkung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2018:VGW.151.071.8471.2017

Zuletzt aktualisiert am

14.06.2018
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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