TE OGH 2009/4/21 10ObS19/09f

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.04.2009
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter ADir Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Canan Aytekin-Yildirim (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Felix V*****, ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Dr. Herwig Ernst, Rechtsanwalt in Korneuburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. November 2008, GZ 8 Rs 98/08b-18, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 6. Februar 2008, GZ 34 Cgs 278/07w-14, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am 31. 7. 1948 geborene Kläger hat den Beruf eines Kfz-Mechanikers erlernt, diesen Beruf aber nur kurze Zeit ausgeübt. Von 1967 bis 2006 war er als Kraftfahrer tätig, wobei er am 20. 10. 1992 die Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf Berufskraftfahrer erfolgreich ablegte. Während der letzten fünfzehn Jahre vor dem Stichtag (1. 4. 2007) war er in 161 Beitragsmonaten als Lastkraftwagenfahrer tätig, und zwar vom Februar 1986 bis Jänner 2006 als Kraftfahrer (Fernfahrer) im internationalen Güterverkehr bei der Firma G*****-Z*****, vom 21. 6. 2006 bis 6. 7. 2007 als Kraftfahrer bei der Firma R***** Transporte und vom 10. 7. 2006 bis 17. 7. 2006 als Kraftfahrer bei der Firma S***** Transporte. Der Kläger verdiente ca 2.000 EUR netto monatlich. Sämtliche Tätigkeiten nach dem 20. 10. 1992 stellen Facharbeitertätigkeiten unter Berücksichtigung der erfolgreich absolvierten Lehre als Berufskraftfahrer dar.

Lkw-Fahrer im Fernverkehr verrichten körperlich leichte und mittelschwere sowie gelegentlich auch schwere Arbeiten im Sitzen, teilweise auch im Gehen und Stehen. Es kommen auch kraftanstrengende Tätigkeiten mit den Armen (Reifenwechsel, Tätigkeiten an der Bordwand, Umgang mit Planen, Warensicherungsarbeiten, ...) vor. Kraftfahrer anderer Art sind Müllwagenfahrer, Taxifahrer, Zustellfahrer (leichte und fallweise mittelschwere Arbeiten), Dienstkraftwagenfahrer und Schulbusfahrer (leichte Arbeiten).

Der Kläger ist aufgrund seines näher festgestellten Leidenszustands nicht mehr in der Lage, als Berufskraftfahrer im Fernverkehr, als Lkw-Fahrer im Bereich Zustelldienste für Möbel, schwere Waren, Glas, Baustellenfahrten mit Material- und Baugerätetransport tätig zu sein, weil er die dabei anfallenden schweren Arbeiten sowie die kraftanstrengenden Tätigkeiten mit dem rechten Arm nicht mehr verrichten kann. Er könnte aber aufgrund seines medizinischen Leistungskalküls noch die Tätigkeiten als Lkw-Fahrer im Bereich der Müllabfuhr (vor allem im großstädtischen Bereich), Zustellfahrer bestimmter Waren und Lebensmittel (inklusive Tiefkühlkost, Pizza, Backwaren), Schulbusfahrer, Dienstkraftwagenfahrer, Taxifahrer sowie Tätigkeiten als Kraftfahrer mit einem Kleinbus im Berufsverkehr und im Botendienst verrichten. In diesen genannten Berufen gibt es am allgemeinen Arbeitsmarkt in Österreich (jeweils) mehr als einhundert Arbeitsplätze.

Das Erstgericht entschied im Sinne des auf Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 4. 2007 gerichteten Klagebegehrens und traf im Wesentlichen die bereits eingangs wiedergegebenen Feststellungen. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, der Kläger sei in den letzten fünfzehn Jahren vor dem Stichtag während 161 Beitragsmonate als Lkw-Fernfahrer tätig gewesen und habe Waren vom Ausland nach Österreich transportiert. Diese Tätigkeit könne er nicht mehr ausüben. Die Verweisung auf die ihm nach dem medizinischen Leistungskalkül noch möglichen anderen Tätigkeiten als Berufskraftfahrer sei mit einer Änderung des arbeitskulturellen Umfelds verbunden. Es sei zwar die Kerntätigkeit (das Fahren) gleich, der Kläger sei jedoch bisher im Ausland tätig gewesen und habe Waren und nicht Personen transportiert. Im Vordergrund seiner Tätigkeit sei das Fahren und nicht - wie beim Zustellfahrer von Lebensmitteln - das Beliefern von Kunden gestanden. Eine Änderung seiner bisherigen Tätigkeit in diesem Umfang sei dem Kläger daher nicht zumutbar, weshalb er invalid im Sinn des § 255 Abs 4 ASVG sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Es führte in rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen aus, der Kläger sei jedenfalls auf die Tätigkeit eines Fahrers im Zustelldienst verweisbar. Der Kernbereich dieser Tätigkeit betreffe das Lenken von Kraftfahrzeugen, was sich von der bisherigen Tätigkeit des Klägers nicht wesentlich unterscheide. Auch der Umstand, dass solche Zustellfahrten wahrscheinlich überwiegend im Inland durchzuführen seien, stelle keine wesentliche Änderung des arbeitskulturellen Umfelds dar, da der Kläger auch bisher nicht ausschließlich im Ausland tätig gewesen sei. Kundenkontakte habe der Kläger auch bei seiner bisherigen Tätigkeit in einem nicht zu vernachlässigenden Ausmaß bereits gehabt. Weiters müsse sich der Kläger für den Zustelldienst auch kaum neue Kenntnisse aneignen. Schließlich seien aber auch die weiteren Verweisungstätigkeiten, welche Personentransporte zum Inhalt haben, mit keiner für den Kläger unzumutbaren Änderung seiner bisherigen Tätigkeit verbunden.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision mangels erheblicher Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinn einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen nach den insoweit zutreffenden Ausführungen des Klägers den Umstand, dass er Berufsschutz als gelernter Berufskraftfahrer genießt, nicht ausreichend berücksichtigt haben. Das Rechtsmittel des Klägers ist im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Der Kläger macht in seinen Revisionsausführungen im Wesentlichen geltend, die vom Berufungsgericht für seine Rechtsansicht ins Treffen geführte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs habe nicht die Verweisung eines qualifizierten Berufskraftfahrers zum Gegenstand. Er habe die Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf Berufskraftfahrer erfolgreich absolviert und genieße daher Berufsschutz gemäß § 255 Abs 1 ASVG. Das Verweisungsfeld im Sinn des hier anzuwendenden § 255 Abs 4 ASVG sei jedoch wesentlich enger als jenes im Bereich des Berufsschutzes nach § 255 Abs 1 ASVG. Es komme daher eine Verweisung auf die vom Berufungsgericht genannten Verweisungstätigkeiten nicht in Betracht. Weiters sei zu berücksichtigen, dass der Berufskraftfahrer im Fernverkehr aufgrund seiner beruflichen Qualifikation wesentlich besser entlohnt werde als der Zustellfahrer im Inland. Es hätte daher auch geprüft werden müssen, welche Verdienstmöglichkeiten der Kläger als Zustellfahrer im Inland habe.

Diesen Ausführungen kommt im Sinn der beschlossenen Aufhebung Berechtigung zu.

Zutreffend sind die Vorinstanzen und die Parteien übereinstimmend davon ausgegangen, dass die Bestimmung des § 255 Abs 4 ASVG auch auf den Kläger Anwendung zu finden hat, weil der in dieser Bestimmung vorgesehene Tätigkeitsschutz auch für jenen Versichertenkreis gilt, welcher bereits einen Berufsschutz aufgrund einer erlernten oder angelernten Tätigkeit im Sinn des § 255 Abs 1 und 2 ASVG hat. Nach § 255 Abs 4 ASVG gilt auch ein Versicherter, der das 57. Lebensjahr vollendet hat, als invalid, wenn er infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen. Dabei sind zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit zu berücksichtigen.

Die soeben zitierte Bestimmung des § 255 Abs 4 ASVG schafft somit unabhängig davon, ob ein Berufsschutz besteht oder nicht, für Versicherte ab Vollendung des 57. Lebensjahres einen erleichterten Zugang zur Invaliditätspension bzw Berufsunfähigkeitspension (10 ObS 56/03p = SSV-NF 17/56 mwN). Wie der Oberste Gerichtshof ebenfalls bereits ausgesprochen hat, ist das nach § 255 Abs 4 ASVG in Betracht kommende Verweisungsfeld jedenfalls enger als jenes nach § 255 Abs 1 ASVG (10 ObS 56/03p = SSV-NF 17/56; 10 ObS 101/03f = SSV-NF 17/48). Damit ist klargestellt, dass der Tätigkeitsschutz nach § 255 Abs 4 ASVG für qualifizierte Versicherte günstiger wirken soll, als der Berufsschutz nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG. Da auch der geltende Berufsschutz nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Verweisungen auf Teiltätigkeiten des erlernten (angelernten) Berufs nur insoweit zulässt, als durch diese Teiltätigkeiten der Berufsschutz nicht verloren geht (vgl Judikaturnachweise in RIS-Justiz RS0084497), und der Tätigkeitsschutz nach § 255 Abs 4 ASVG nicht schlechter sein darf als der Berufsschutz, scheiden auch nach § 255 Abs 4 ASVG Verweisungen auf Teiltätigkeiten, die den Berufsschutz nicht erhalten können, aus. Eine „zumutbare Änderung" der Tätigkeit im Sinn des § 255 Abs 4 ASVG kann sich daher bei qualifizierten Arbeiten nur auf Teiltätigkeiten beziehen, mit welchen einerseits der Berufsschutz erhalten wird, welche aber andererseits auch jenem Anforderungsprofil entsprechen, das für eine zumutbare Verweisung im Rahmen des Tätigkeitsschutzes in der von den Vorinstanzen bereits zitierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs entwickelt wurde. In diesem Sinn ist beispielsweise die Verweisung eines Maurers auf einen Fachmarktberater im Rahmen des Tätigkeitsschutzes nicht zulässig, weil es sich hier - abgesehen vom unterschiedlichen arbeitskulturellen Umfeld - insofern um kein verweisungsfähiges Tätigkeitssegment des ausgeübten Berufs eines Maurers handelt, als diese Tätigkeit (als Fachberater) niemals Teil seiner konkreten Tätigkeit war. Dieser Umstand - die tatsächliche Ausübung der Verweisungstätigkeit im Rahmen der „einen" Tätigkeit - ist es auch, der bei qualifizierten Versicherten den Tätigkeitsschutz vom Berufsschutz unterscheidet (vgl Ivansits, Berufsschutz und Tätigkeitsschutz aus juristischer und rechtspolitischer Sicht, in FS Bauer/Mayer/Petrag 391 ff [399 f]).

Bei Berücksichtigung dieser dargelegten Grundsätze ist davon auszugehen, dass eine Verweisung des Klägers, der Berufsschutz als gelernter Berufskraftfahrer nach § 255 Abs 1 ASVG und Tätigkeitsschutz nach § 255 Abs 4 ASVG genießt, auf die von den Vorinstanzen genannten Tätigkeiten im Personentransport nicht in Betracht kommt. Der hier zu beurteilende Sachverhalt unterscheidet sich daher nach zutreffender Rechtsansicht des Klägers von dem in der Entscheidung 10 ObS 21/04t (= SSV-NF 18/21) sowie von dem erst jüngst beurteilten Fall 10 ObS 113/08b vom 27. 1. 2009 insofern entscheidend, als den Klägern in den damaligen Verfahren als Lieferwagenfahrer bzw Busfahrer kein Berufsschutz zukam. Hingegen ist im Sinn der Ausführungen des Senats in der Entscheidung 10 ObS 186/03f davon auszugehen, dass es sich bei der vom Kläger ausgeübten Tätigkeit als Lkw-Fernfahrer und der für ihn ebenfalls noch in Betracht kommenden Verweisungstätigkeit als Zustellfahrer bestimmter Waren und Lebensmittel doch um sehr ähnliche Tätigkeiten handelt, welche das Lenken von Kraftfahrzeugen sowie den Transport und die Zustellung von Gütern zum wesentlichen Tätigkeitsinhalt haben. Das Berufungsgericht hat auch zutreffend begründet, dass mit der genannten Verweisungstätigkeit weder das Erlernen gänzlich neuer Kenntnisse und Fähigkeiten noch eine wesentliche Änderung des arbeitskulturellen Umfelds verbunden wäre.

Im Sinn der oben dargelegten Ausführungen dürfen jedoch qualifizierte Arbeiter, die einen Berufsschutz genießen, nur auf Teiltätigkeiten verwiesen werden, die den Berufsschutz erhalten. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geht der Berufsschutz nicht verloren, wenn sich die Teiltätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen werden soll, qualitativ hervorhebt und nicht bloß untergeordnet ist. Die Teiltätigkeit muss noch als Ausübung des erlernten Berufs angesehen werden können. Dabei ist neben dem - vom Erstgericht noch näher festzustellenden - Inhalt der Verweisungstätigkeit auch die Einschulungs- oder Einweisungszeit, die ein ungelernter Arbeiter benötigt, um solche Tätigkeiten verrichten zu können, wesentlich (10 ObS 290/99s = SSV-NF 13/129). In dieser Entscheidung führte der Senat aus, ob ein angelernter Berufskraftfahrer auf die Tätigkeit eines Zustellers verwiesen werden könne, hänge maßgeblich auch von der Dauer der Anlernzeit für diese Tätigkeit ab. Genüge hiefür eine Anlernzeit von zwei bis drei Monaten, so handle es sich nicht um einen qualifizierten Beruf; eine solche Tätigkeit wäre nicht berufsschutzerhaltend und eine Verweisung hierauf daher unzulässig.

Da somit die für die rechtliche Beurteilung wesentliche Frage, ob es sich bei der für den Kläger grundsätzlich in Betracht kommenden Verweisungstätigkeit eines Zustellfahrers um eine berufsschutzerhaltende Teiltätigkeit seines erlernten Berufs als Berufskraftfahrer handelt, ungeklärt blieb, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens aufzuheben. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren gegebenenfalls weiters zu berücksichtigen haben, dass eine gravierende Lohneinbuße von der bisherigen Tätigkeit, wie sie auf dem Arbeitsmarkt entlohnt wird, auf eine Verweisungstätigkeit ebenfalls ein Kriterium für die Unzumutbarkeit einer Verweisung darstellen kann (vgl 10 ObS 90/06t = SSV-NF 20/40 mwN; jüngst 10 ObS 113/08b).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E90739

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:010OBS00019.09F.0421.000

Im RIS seit

21.05.2009

Zuletzt aktualisiert am

17.01.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten