TE Vfgh Erkenntnis 2000/6/14 B708/00

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.06.2000
beobachten
merken

Index

L9 Sozial- und Gesundheitsrecht
L9210 Behindertenhilfe, Pflegegeld, Rehabilitation

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
AVG §38
Tir PflegegeldG

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht infolge denkunmöglicher Aussetzung eines Verfahrens über die Erhöhung des Pflegegeldes nach dem Tir PflegegeldG für einen Ordensangehörigen bis zur Vorfragenklärung über die Gewährung von Landespflegegeld an einen Weltpriester

Spruch

Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Tirol ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit S 29.500,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Der Beschwerdeführer ist Angehöriger des Franziskanerordens und bezieht vom bischöflichen Ordinariat in Innsbruck, Pensionsfonds, eine Pension als Bischof in Ruhe. Auf Grund seiner Pflegebedürftigkeit hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 31.8.1998 beim Amt der Tiroler Landesregierung um die Gewährung von Landespflegegeld angesucht. Mit einem weiteren Schreiben vom 26.2.1999 hat er um die Erhöhung des Landespflegegeldes angesucht.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid der Tiroler Landesregierung vom 16.2.2000, ZVa-999-12.460/16-2000, wurde das Verfahren über die "Erhöhung des Pflegegeldes nach dem Tiroler Pflegegeldgesetz, LGBl. Nr. 8/1997 ... bis zur rechtskräftigen Entscheidung des beim Oberlandesgericht Salzburg behängenden Verfahrens über die Gewährung des Pflegegeldes nach dem Salzburger Landespflegegeldgesetz" (gemeint offenbar: Oberlandesgericht Linz) hinsichtlich eines Weltpriesters, der eine Versorgungsleistung der Erzdiözese Salzburg bezieht, gem. §38 AVG ausgesetzt.

3. Der Beschwerdeführer erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt:

Im Hinblick darauf, daß er Ordensangehöriger sei dürfe die belangte Behörde ein Verfahren über die Gewährung von Landespflegegeld an einen Weltpriester nicht zur Vorfragenklärung heranziehen. Im übrigen sei die zu entscheidende "Vorfrage", ob Ordensangehörige Anspruch auf Landespflegegeld hätten, bereits mit Urteil des OGH vom 22.10.1996, 10 ObS 267/95 entschieden worden.

Der Beschwerdeführer beantragt daher die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie unter Verzeichnung von Kosten die Abweisung der Beschwerde beantragt.

Es liege ihrer Auffassung nach eine "präjudizielle Rechtsfrage" vor. Im übrigen bemerkt die Tiroler Landesregierung, daß nicht nur das Verfahren über die Erhöhung, sondern auch das Verfahren über die Gewährung des Landespflegegeldes mit "Bescheid vom 16.2.1999, Zl. Va-999-12.460/15-2000" ausgesetzt worden sei.

5. §38 AVG, BGBl. Nr. 51/1991, lautet:

"§38. Sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, ist die Behörde berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird."

6. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 11.682/1988) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

Ein willkürliches Verhalten kann der Behörde unter anderem dann vorgeworfen werden, wenn sie den Beschwerdeführer aus unsachlichen Gründen benachteiligt hat oder aber, wenn der angefochtene Bescheid wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage in einem besonderen Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (zB VfSlg. 10.337/1985, 11.436/1987).

Der Beschwerdeführer ist mit seinem Vorwurf, der angefochtene Bescheid verletze ihn im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz - wenn auch aus anderen als den von ihm genannten Gründen - im Recht. Die belangte Behörde hat nämlich die Rechtslage in einem besonders hohen Maß verkannt, als sie §38 AVG in denkunmöglicher Weise angewendet hat:

§38 AVG berechtigt die zur Entscheidung berufene Verwaltungsbehörde zur Unterbrechung des bei ihr anhängigen Verfahrens, wenn im Ermittlungsverfahren eine Vorfrage auftaucht, die schon Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird (vgl. VwGH E vom 26.3.1996, 95/05/0258). Voraussetzung der Aussetzung nach §38 AVG ist daher einerseits, daß die belangte Behörde einer Rechtsfrage als Vorfrage der bei ihr zu entscheidenden Hauptfrage zu beurteilen hätte, und daß diese Vorfrage in einem bereits anhängigen oder anhängig zu machenden Verfahren als Hauptfrage entschieden wird.

Die Tiroler Landesregierung hat §38 AVG durch die von ihr verfügte Aussetzung des Verfahrens denkunmöglich angewendet:

Abgesehen davon, daß jenes Verfahren, dessen "Hauptfragenentscheidung" die belangte Behörde abwarten möchte, andere Parteien betrifft und daher schon deshalb die für die Aussetzung erforderliche Bindungswirkung nicht zu entfalten vermag, übersieht die belangte Behörde, daß die "präjudizielle Rechtsfrage" (wie sie sie in ihrer Gegenschrift bezeichnet) keine Vorfrage im Sinn der §§38 iVm. 69 Abs1 Z3 AVG in ihrem Verfahren darstellt: sie hat nämlich als Hauptfrage selbst zu beurteilen, ob dem Beschwerdeführer als Ordensangehörigen mit Pensionsbezug Landespflegegeld zusteht.

Wenn die Behörde erstmals in ihrer Gegenschrift darlegt, daß sie mit Bescheid vom "16.2.1999, Zl. VA-99-12.460/15-2000" (nach der Aktenlage wohl richtig: 16.2.2000, VA-999-12.460/17-2000) auch das Verfahren über die Gewährung des Landespflegegeldes ausgesetzt habe, so ist darauf schon deshalb nicht Bedacht zu nehmen, weil dieser Bescheid nach der Aktenlage nicht zugestellt und daher auch noch nicht erlassen worden ist.

Der angefochtene Bescheid verletzt den Beschwerdeführer daher im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz; er war aus diesem Grund aufzuheben. In den zugesprochenen Kosten sind S 4.500,-- an Umsatzsteuer enthalten.

7. Dies konnte gem. §19 Abs4 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Behinderte, Pflegegeld, Verwaltungsverfahren, Vorfrage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2000:B708.2000

Dokumentnummer

JFT_09999386_00B00708_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten