TE OGH 1986/2/13 8Ob76/85

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Veröffentlicht am 13.02.1986
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Kropfitsch und Dr. Zehetner als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Anna H*****, vertreten durch Dr. Franz Gütlbauer, Rechtsanwalt in Wels, wider die beklagte Partei Helmut S*****, vertreten durch Dr. Gerald Haas, Rechtsanwalt in Wels, wegen S 30.000,-- s.A., infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Wels als Berufungsgerichtes vom 17. Juli 1985, GZ R 639/85-29, womit das Urteil des Bezirksgerichtes Wels vom 26. Februar 1985, GZ 3 C 942/82-25, aufgehoben wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben und das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt.

Die Klägerin ist schuldig, dem Beklagten die mit S 2.677,85 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin die Barauslagen von S 320,-- und die USt. von S 214,35) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Die Klägerin ist weiters schuldig, dem Beklagten die mit S 3.069,75 bestimmten Kosten des Rekursverfahrens (darin die Barauslagen von S 240,-- und die USt. von S 257,25) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin begehrte vom Beklagten die Bezahlung von S 30.000,-- s.A. Dieser sei seiner Pflicht gemäß § 93 StVO zur Bestreuung des Gehsteiges vor seinem Haus in W*****, nicht nachgekommen. Sie sei deshalb auf dem Gehsteig zu Sturz gekommen und habe einen Bruch der rechten Speiche erlitten.

Der Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Gehsteig sei am Vorabend des Unfallstages gegen 18 Uhr von seiner Gattin und am Unfallstag gegen 8 Uhr von ihm selbst mit Salz bestreut und geräumt worden. Der Gehsteig sei nur „salznaß“ gewesen. Der Beklagte wandte auch seine mangelnde Passivlegitimation ein. An der Ostseite seines Hauses schließe eine 40 cm breite Mauer an, die nicht mehr in seinem Eigentum stand, weshalb er zur Streuung des Gehsteiges im Bereich der Unfallstelle nicht verpflichtet war.

Die Klägerin replizierte, daß die genannte Mauer entweder im Eigentum des Beklagten stehe oder öffentliches Gut sei, weshalb den Beklagten auf Grund der Gehsteigverordnung 1970 die Räumungspflicht treffe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf folgende Feststellungen:

Die Unfallstelle befindet sich am südöstlichen Eck des Hauses *****. Im nördlichen Bereich der ***** befindet sich vor dem Haus ein Gehsteig von 1 m Breite, welcher sich an der Ostseite des Hauses etwa im rechten Winkel fortsetzt und dann um 5 m versetzt Richtung Osten weiterführt. Der Gehsteig ist asphaltiert und seine Kante, welche aus Pflastersteinen besteht, hängt an der südöstlichen Ecke des Hauses etwas nach Süden.

An der südlichen Hausmauer etwas östlich der Eingangstür zum Geschäft des Beklagten ist eine Dachrinne angebracht, aus welcher das Wasser frei auf den Gehsteig fließen kann. Die Begrenzungslinie in Verlängerung der Dachkante ist von der östlichen Gehsteigkante 1,89 m entfernt. An diese Verlängerung schließt eine 40 cm breite und 2,26 m hohe Feuermauer an, welche waagrecht verläuft. Diese Mauer ist wie die Geschäftsfront des Hauses mit Klinker verkleidet und bildet mit dieser optisch eine Einheit. Die Klinkerverkleidung befindet sich auch an der Ostseite der Mauer und endet dort, wo der Gehsteig wieder Richtung Osten führt.

Von der ***** her kommend ist vor der Unfallstelle ein „Abweisschild“ auf der Straße angebracht, das in den Gehsteigbereich hineinreicht. In Richtung Norden schließt an das Areal des Beklagten eine Esso-Tankstelle an, in Richtung Osten ist das Grundstück unbebaut.

Das Haus ***** steht direkt an der Grenze der Parzelle 2042, welche im Eigentum des Beklagten steht.

Die daran anschließende Mauer, bei welcher es sich um den Rest des abgetragenen Nachbargebäudes handelt, steht auf der ehemaligen Parzelle 2041, welche mit Bescheid des Magistrates der Stadt W***** vom 17. 7. 1969 ins öffentliche Gut übertragen, mit dem Grundstück 2511/3 vereinigt und aus dem Grundstücksverzeichnis gestrichen wurde. Die grundbücherliche Eintragung erfolgte am 8. 6. 1970.

Die Mauer gehört nicht mehr zum Grundstück des Beklagten. Dieser sowie dessen Gattin waren immer der Meinung, dass sie und der daran anschließende Gehsteig zum Grundstück der Esso-Tankstelle gehörten. Die Klinkerverkleidung erfolgte 1978 oder 1979 gleichzeitig mit jener am Haus des Beklagten auf dessen Kosten, nachdem der Beklagte „bei Herrn N***** von der Tankstelle“ um Erlaubnis gefragt hatte. Die Verkleidung wurde deshalb angebracht, weil die Mauer sehr schäbig ausgesehen hatte und feucht gewesen war.

Der vor der Mauer befindliche Gehsteig wurde zum Teil vom Beklagten und zum Teil von Leuten der Tankstelle geräumt. Obwohl der Beklagte der Meinung war, der Gehsteig gehöre zur Tankstelle, räumte er ihn freiwillig, weil es sich um keine große Fläche handelte.

Im Haus ***** befindet sich nur das Geschäft des Beklagten, während er und seine Gattin in der ***** wohnen. In der Zeit von 14 bis 18 Uhr ist die Gattin des Beklagten im Geschäft; sie überwacht in dieser Zeit die Räumung des Gehsteiges. Wenn in der Früh eine Reinigung oder Streuung des Gehsteiges notwendig ist, führt diese der Beklagte selbst durch.

Am 27. 1. 1982 kam die Klägerin gegen 9 Uhr am südöstlichen Eck des Gehsteiges, dort, wo die Abweistafel angebracht und wo dieser öffentliches Gut ist (außer Streit) zu Sturz und zog sich einen Speichenbruch rechts zu. Am Abend vor dem Unfallstag war der Gehsteig gereinigt und mit Salz bestreut worden, während dies am Unfallstag in der Früh nicht der Fall war. Zum Unfallszeitpunkt war der Gehsteig nicht salznaß, sondern eisig.

Laut Auskunft der Wetterstation H***** wurden für den 27. 1. 1982 Regen oder Schneeregen vorausgesagt und die Temperatur betrug um 7 Uhr minus 1,1 Grad. Um 7 Uhr herrschte in H***** stellenweise Eis- und Schneeglätte. Um 8 Uhr wurde am Flughafen W***** gefrierendes Nieseln verzeichnet, welches eine Stunde später vorbei war.

Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß die Reinigungspflicht nach § 93 Abs. 1 StVO denjenigen treffe, entlang dessen Liegenschaft sich der Gehsteig oder Gehweg befinde. Der Gehsteig, auf welchem sich der Unfall ereignet habe, werde von der im Eigentum des Beklagten stehenden Liegenschaft aber durch die Feuermauer, die entweder im Eigentum des Magistrates der Stadt W***** oder der Esso-Tankstelle stehe, getrennt. Der Beklagte sei also nicht als Eigentümer jener Liegenschaft anzusehen, entlang der sich der Gehsteig befinde, weshalb eine Haftung des Beklagten entfalle und das Klagebegehren mangels Passivlegitimation abzuweisen sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das erstgerichtliche Urteil auf, verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück und sprach aus, daß das Verfahren erster Instanz erst nach Rechtskraft des Aufhebungsbeschlusses fortzusetzen sei. Das Gericht zweiter Instanz vertrat nachstehende Auffassung:

Gemäß § 93 Abs. 1 StVO habe der Eigentümer einer Liegenschaft im Ortsgebiet dafür zu sorgen, daß die dem öffentlichen Verkehr dienenden Gehsteige und Gehwege einschließlich der in ihrem Zuge befindlichen Stiegenanlagen entlang der ganzen Liegenschaft in der Zeit von 6–22 Uhr von Schnee und Verunreinigungen gereinigt sowie bei Schnee und Glatteis gestreut sind. Bei § 93 StVO handle es sich um eine Verpflichtung, welche den Anrainer, also den Eigentümer der an den dem öffentlichen Verkehr dienenden Gehsteig angrenzenden Liegenschaft trifft. Obwohl nach der Entscheidung EvBl. 1972/41 der Begriff „Anrainer“ wörtlich zu nehmen sei, könne dieser Begriff wohl nicht so restriktiv ausgelegt werden, daß schon eine Begrenzungsmauer von 40 cm, welche unmittelbar an ein Gebäude anschließt, auch wenn sie nicht im Eigentum des Gebäudeeigentümers steht, bereits die Anrainereigenschaft des Gebäudeeigentümers ausschließt. Die zitierte Entscheidung sei darüberhinaus auf den gegenständlichen Fall nicht uneingeschränkt anzuwenden, weil der dort behandelte Sachverhalt von diesem verschieden sei, zumal dort zwischen der Liegenschaft des Beklagten und dem zu räumenden Gehsteig ein Grundstücksstreifen lag, während hier nur eine Mauer von 40 cm das Gebäude des Beklagten vom Gehsteig trennt. Auch wenn der Beklagte nicht Eigentümer dieser Mauer ist, bilde sie optisch mit dessen Haus eine Einheit. Nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, daß der Beklagte die Mauer instand hält und sie mit seinem Gebäude zu einer Einheit verbunden hat, sei der Beklagte im konkreten Fall nach Ansicht des Berufungsgerichtes als Anrainer anzusehen und treffe ihn daher die Räumungspflicht nach § 93 Abs. 1 StVO. Da nähere Unfallserhebungen fehlten, sei mit Aufhebung der erstgerichtlichen Entscheidung vorzugehen gewesen.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich der Rekurs des Beklagten, in welchem er unrichtige rechtliche Beurteilung geltend macht und beantragt, den Beschluß des Berufungsgerichtes dahin abzuändern, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die Klägerin beantragt in der Rekursbeantwortung, dem Rekurs der Gegenseite nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig, weil das Gericht zweiter Instanz von der in EvBl. 1972/41 veröffentlichten Judikatur des Obersten Gerichtshofes abging; er ist aber auch berechtigt.

Im Gegensatz zur Ansicht des Gerichtes zweiter Instanz kann – worauf der Rechtsmittelwerber mit Recht hinweist – unter Bedachtnahme auf die Überschrift des § 93 StVO in der zum Unfallszeitpunkt geltenden Fassung diese Bestimmung nur dahin verstanden werden, daß die Pflicht zur Bestreuung des Gehsteiges denjenigen Eigentümer trifft, der „Anrainer“ (= „Anlieger“; Gaisbaier in ImmZ 1970, 54) des Gehsteiges ist, dessen Liegenschaft also an den Gehsteig angrenzt (ZVR 1970/197). Der Begriff „Anrainer“ ist hiebei wörtlich zu nehmen; die Verpflichtung des § 93 Abs. 1 StVO trifft also nur denjenigen Eigentümer, dessen Liegenschaft unmittelbar an den Gehsteig angrenzt. Der Begriff „Anrainer“ ist von der Rechtsprechung auch immer so verstanden worden. Danach ist als Anrainer derjenige anzusehen, dessen Liegenschaft mit einer anderen, in fremdem Eigentum stehenden Liegenschaft eine gemeinsame Grundgrenze (Rain) oder wenigstens einen gemeinsamen Grenzpunkt besitzt; hingegen kann nicht mehr von einer anrainenden, sondern nur von einer benachbarten Liegenschaft gesprochen werden, wenn sich zwischen zwei Liegenschaften eine dritte, in fremdem Eigentum stehende Liegenschaft befindet (EvBl. 1970/226; vgl. auch EvBl. 1971/16). Der Eigentümer einer Liegenschaft kann gemäß § 93 Abs. 1 StVO aber auch nur insoweit verpflichtet sein, als seine Liegenschaft unmittelbar an einen Gehsteig angrenzt; die Worte „ganze Liegenschaft“ können hingegen keineswegs dahin verstanden werden, daß der Eigentümer einer Liegenschaft, die nur an einer Stelle an einen Gehsteig heranreicht, dann schon verpflichtet wäre, den Gehsteig auch dort zu säubern und zu bestreuen, wo er nicht mehr Anrainer ist. Hiezu verpflichtet ist viellmehr der dortige Anrainer. Eine konkurrierende Verpflichtung mehrerer Anrainer ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Darauf, wie breit die Liegenschaft bzw. der Liegenschaftsanteil ist, der zwischen der Liegenschaft des in Anspruch Genommenen und dem Gehsteig liegt, kommt es nicht an (EvBl. 1972/41 ua).

Im vorliegenden Fall steht fest, daß sich der Unfall nicht im so umrissenen Bereich des Gehsteiges ereignete, sondern außerhalb desselben am südöstlichen Eck, dort, wo die „Abweistafel angebracht ist“. Für diesen Bereich grenzt aber die Liegenschaft des Beklagten nicht unmittelbar an, hiefür ist der Beklagte nicht als „Anrainer“ anzusehen. Da es nach den dargestellten Erwägungen der oberstgerichtlichen Judikatur nicht darauf ankommt, wie breit der Liegenschaftsanteil ist, der zwischen der Liegenschaft des in Anspruch genommenen Beklagten und dem Gehsteig liegt (als Liegenschaft sind sowohl bebaute als auch unbebaute Grundstücke anzusehen – SZ 54/92), ist es im Gegensatz zur Ansicht des Berufungsgerichtes auch irrelevant, daß die dazwischenliegende Mauer nur eine Breite von 40 cm hat. Diese Mauer steht aber jedenfalls nicht im Eigentum des Beklagten, sodaß der Gehsteig, der daran angrenzt, nicht vom Beklagten gemäß § 93 StVO zu räumen war.

Andere Haftungsgründe als die unterlassene Streuung und Reinigungspflicht wurden von der Klägerin im Verfahren erster Instanz – sieht man von der nicht erwiesenen und auch nicht weiter relevierten Behauptung, daß der Beklagte Halter des Gehsteiges gewesen sei, ab – nicht herangezogen. Soweit sie im Berufungsverfahren erstmals eine Haftung des Beklagten deshalb in Anspruch nimmt, weil das Wasser von der Dachrinne des Hauses frei auf den Gehsteig rinnt, fehlt es für die Heranziehung des der Klägerin vorschwebenden Haftungsgrundes der Schaffung einer allgemeinen Gefahrenlage an einem entsprechenden Vorbringen in erster Instanz. Bloß daraus schließlich, daß sich der Beklagte gelegentlich die Reinigung des Gehsteiges mit Leuten von der Tankstelle teilte, kann noch nicht der Schluß gezogen werden, daß er rechtsgeschäftlich dessen Säuberung übernahm bzw. sich konkludent eine solche Verpflichtung auferlegte. Davon abgesehen fehlt es auch hiefür an einem entsprechenden Vorbringen der Klägerin in erster Instanz. Bei dieser Sach- und Rechtslage bedarf es daher nicht der vom Berufungsgericht angeordneten weiteren Sachverhaltserhebungen durch das Erstgericht. Dessen Entscheidung erwies sich vielmehr als durch die oberstgerichtliche Judikatur gedeckt. Infolge Spruchreife konnte der Oberste Gerichtshof in der Sache selbst erkennen (§ 519 Abs. 2 ZPO).

Der Kostenausspruch beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

Textnummer

E131359

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1986:0080OB00076.850.0213.000

Im RIS seit

29.04.2021

Zuletzt aktualisiert am

29.04.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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