TE OGH 1989/6/20 10ObS21/88

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Veröffentlicht am 20.06.1989
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.- Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Herbert Vesely (AG) und Dr.Ferdinand Podkowicz (AG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Martha Z***, Hausfrau, 6425 Haiming, Siedlung 1, vertreten durch Dr.Walter Kerle, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei S*** D*** B***, 1031

Wien, Ghegastraße 1, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Herstellung des gesetzlichen Zustands, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10.Oktober 1987, GZ 6 Rs 1002/87-11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 7.Mai 1987, GZ 47 Cgs 1074/87-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der zur Ergänzung der Revision eingebrachte Schriftsatz wird zurückgewiesen.

Aus Anlaß der Revision werden die Urteile der Vorinstanzen und das gesamte ihnen vorausgegangene Verfahren als nichtig aufgehoben. Die Klage wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit S 1.414,88 (darin S 128,63 USt. und keine Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Die hier beklagte S*** D*** B*** richtete

am 1.Oktober 1986 an den Ehegatten der Klägerin ein Schreiben. Darin wurde ihm mitgeteilt, daß er die dem Schreiben angeschlossene Unfallanzeige zurücksenden solle, wenn er der Meinung sei, daß die Verletzung, wegen der seine Frau in Behandlung stand, auf einen Arbeitsunfall zurückgehe. Falls sich der Unfall nicht im Zusammenhang mit einer land- oder forstwirtschaftlichen Betriebstätigkeit ereignet haben sollte, seien jedenfalls die in dem Schreiben angeführten Fragen zu beantworten. Der Vordruck für diese Frage wurde der beklagten Partei vom Ehegatten der Klägerin mit der Antwort zurückgesandt, daß diese am 17.September 1986 beim Beerenpflücken 50 m abgestürzt sei. Die beklagte Partei entschied hierauf mit Bescheid vom 12.November 1986, daß die Gewährung einer Leistung aus der Unfallversicherung für die Folgen des Ereignisses vom 17.September 1986 gemäß den §§ 175 ff ASVG abgelehnt werde, weil sich der Unfall nicht bei einer Tätigkeit für einen land(forst)wirtschaftlichen Betrieb ereignet habe.

Die Klägerin erhob gegen diesen Bescheid keine Klage, beantragte aber in einer am 17.März 1987 bei der beklagten Partei eingelangten Eingabe, in rückwirkender Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG den Unfall vom 17.September 1986 als Arbeitsunfall anzuerkennen und ihr die gesetzlichen Leistungen aus der Unfallsversicherung, insbesondere die Unfallheilbehandlungskosten und eine Versehrtenrente in der Höhe von mindestens 50 % der Vollrente zu gewähren.

Mit Bescheid vom 30.März 1987 lehnte die beklagte Partei den Antrag auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes im wesentlichen mit der Begründung ab, daß trotz Aufforderung eine Unfallsanzeige nicht erstattet und durch die zurückgesandte Mitteilung zum Ausdruck gebracht worden sei, daß sich der Unfall nicht im Zusammenhang mit einer land- oder forstwirtschaftlichen Tätigkeit ereignet habe. Ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen liege nicht vor. In der gegen diesen Bescheid eingebrachten Klage stellt die Klägerin ein Begehren, das mit dem mit dem Bescheid abgewiesenen übereinstimmt. Sie bringt hiezu vor, daß die Beeren für den Haushalt des landwirtschaftlichen Betriebes ihres Sohnes bestimmt gewesen seien und der Unfall somit in einem zeitlichen, örtlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherungspflicht begründenden Beschäftigung gestanden sei. Die Voraussetzungen für die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes seien erfüllt, weil sie nicht habe wissen müssen und können, daß eine detaillierte Unfallschilderung notwendig sei. Die beklagte Partei wäre im übrigen verpflichtet gewesen, die wesentlichen Umstände von Amts wegen festzustellen.

Die beklagte Partei wendete ein, daß die Klägerin keine neuen Tatsachen vorgebracht habe, welche die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes rechtfertigen könnten. Beim Beerenpflücken sei die Freizeitgestaltung im Vordergrund gestanden, was der Grund für die Erlassung des die Gewährung einer Leistung ablehnenden Bescheides gewesen sei.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Weder die Klägerin noch ihr Ehegatte üben eine landwirtschaftliche Tätigkeit aus. Der Ehegatte der Klägerin verpachtete seine Landwirtschaft an seinen Sohn. Die beiden Ehegatten wohnen bei ihrer Tochter.

Am 17.September 1986 pflückte die Klägerin auf Ersuchen ihres Sohnes Preiselbeeren und stürzte dabei ab. Die Preiselbeeren wären für den Haushalt des Sohnes gedacht gewesen, wo sie zu Marmelade eingekocht hätten werden sollen.

Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß die Voraussetzungen, die im § 101 ASVG für die Behebung eines rechtskräftigen Bescheides gefordert würden, nicht erfüllt seien. Die beklagte Partei habe bei der Erlassung des ersten, eine Versicherungsleistung aus der Unfallversicherung ablehnenden Bescheides vom wesentlichen Sachverhalt Kenntnis gehabt und es sei ihr auch kein Irrtum unterlaufen. Nunmehr habe sich nämlich herausgestellt, daß das Beerenpflücken nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Landwirtschaft gestanden und daher eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit der Klägerin gewesen sei. Dies bedeute außerdem, daß der Unfall vom 17.September 1986 kein Arbeitsunfall gewesen sei, weshalb das Klagebegehren auch dann nicht gerechtfertigt wäre, wenn man davon ausgehe, daß die Voraussetzungen für die Behebung des ersten Bescheides erfüllt seien. Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin gegen das Urteil des Erstgerichtes erhobenen Berufung keine Folge. Der beklagten Partei sei zwar bei Erlassung des ersten Bescheides nicht bekanntgewesen, daß die Klägerin die Preiselbeeren nicht für sich, sondern für den Haushalt ihres Sohnes sammeln wollte. Ihr Unfall könne aber nicht gemäß § 175 Abs.3 Z 1 ASVG als Arbeitsunfall angesehen werden, weil unstrittig sei, daß sie nicht im Haushalt ihres Sohnes lebe und in dessen Landwirtschaft nicht mitarbeite. Sie gehöre daher nicht zu dem gemäß § 3 BSVG in der Unfallsversicherung mitversicherten Personenkreis, weshalb auf Grund der angeführten Gesetzesstelle eine Leistung nicht gebühre. Es könne aber auch § 176 Abs.1 Z 6 ASVG nicht angewendet werden, weil dies eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit voraussetzen würde. Das Pflücken von Beeren, wie es die Klägerin getan habe, falle aber nicht darunter. Da der Klägerin somit wegen ihres Unfalls Leistungen aus der Unfallsversicherung nicht zuständen, habe sie keinen Anspruch darauf, daß der diese Leistungen ablehnende Bescheid behoben werde. Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes erhob die Klägerin Revision wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen oder die Urteile der Vorinstanzen allenfalls im Sinne des Klagebegehrens abzuändern. In einem innerhalb der Revisionsfrist eingebrachten weiteren Schriftsatz ergänzte die Klägerin die in der ersten Revisionsschrift enthaltenen Ausführungen zur Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und führte als weiteren Revisionsgrund den der Nichtigkeit aus, den sie darin erblickt, daß das Berufungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 176 Abs.1 Z 6 ASVG prüfte. Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung. Die Ergänzung der Revision ist unzulässig. Es war bis zur ZVNov.1983 ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß jeder Partei nur eine einzige Rechtsmittelschrift zusteht und ein zweiter Schriftsatz selbst dann, wenn er innerhalb der Rechtsmittelfrist eingebracht wurde, unzulässig ist (SZ 54/103; RZ 1982/40; RZ 1983/23 ua). Diese Rechtsansicht wurde trotz der durch die ZVNov.1983 im § 84 Abs.3 ZPO geschaffenen Verbesserungsmöglichkeiten für eine Rechtsmittelschrift, durch die nicht ein Mangel einer früheren Rechtsmittelschrift beseitigt, sondern diese bloß erweitert wird, aufrecht erhalten (RdW 1987, 54; SSV-NF 2/5). Ein solcher Fall liegt hier aber vor, weshalb der die Ergänzung enthaltende Schriftsatz zurückzuweisen war.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat aus Anlaß der Revision ferner erwogen:

Die Klägerin hat ihren bei der beklagten Partei gestellten Antrag und ihr Klagebegehren auf § 101 ASVG gestützt. Nach dieser Bestimmung ist mit Wirkung vom Tag der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen, wenn sich naträglich ergibt, daß eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde.

§ 101 ASVG und die entsprechenden Bestimmungen der anderen Sozialversicherungsgesetze wurde vom Oberlandesgericht Wien als damaligem Höchstgericht dahin verstanden, daß gegen Bescheide der Versicherungsträger, mit denen der Antrag auf Herstellung des gesetzlichen Zustands abgewiesen wurde, die Klage zulässig sei, sofern für die in der Klage begehrte Leistung der Rechtsweg gegeben war; bei § 101 ASVG handle es sich um eine erzwingbare Norm des Leistungsrechtes (SVSlg 8988, 15.901 ua). Diese Ansicht wird auch überwiegend im Schrifttum vertreten (Snasel VersRdSch 1959, 56 ff; Biussi, RdA 1967, 212 f; Pesendorfer, ZAS 1977, 67 f; Oberndorfer in Tomandl, System 3.ErgLfg 676; Stolzlechner, RdA 1986, 295 f) und es ist ihr auch der Oberste Gerichtshof in einer Entscheidung (SSV-NF 1/50) gefolgt. Wurde der Antrag auf Herstellung des gesetzlichen Zustands vom Versicherungsträger mit der Begründung zurückgewiesen, daß über die zu ändernde Leistung nicht mit einem Bescheid, sondern mit dem Urteil eines Gerichtes entschieden worden sei, so war allerdings gegen den zurückweisenden Bescheid nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien (SSV 5/122, 12/57), der sich auch der Verwaltungsgerichthof anschloß (VwSlg 8918/A = ZAS 1977, 64), der Rechtsweg unzulässig.

Ungeachtet seiner Zustimmung zu der die Zulässigkeit der Klage bejahenden Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien hat erstmals Pesendorfer (ZAS 1977, 67) verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen so verstandenen § 101 ASVG erhoben. Die daraus abzuleitende Ermächtigung der Schiedsgerichte, den ursprünglichen Leistungsbescheid des Versicherungsträgers außer Kraft zu setzen, bedeute einen Verstoß gegen Art.94 B-VG, eine Bestimmung, die es ua ausschließe, daß ein Gericht den Bescheid einer Verwaltungsbehörde beseitigt (VfSlg.3019, 3507 ua).

Der erkennende Senat teilt diese Bedenken.

Art.94 B-VG gestattet nicht, die ordentlichen Gerichte durch einfaches Gesetz als Kontrollinstanzen zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit der Bescheide der Verwaltungsbehörden zu berufen. Wenn ein Gesetz anordnet, daß die ordentlichen Gerichte anrufen kann, wer von der Verwaltungsbehörde in Anspruch genommen wurde, und daß das ordentliche Gericht nach dem Ergebnis seiner eigenen Prüfung den Verwaltungsbescheid allenfalls aufheben oder abhändern kann, so wird damit ein Verhältnis der Überordnung der Gerichte über die Verwaltungsbehörde geschaffen, das mit dem Grundsatz des Art.94 B-VG über die Trennung von Justiz und Verwaltung und der daraus abzuleitenden Selbständigkeit der Behörden beider Ordnungen nicht im Einklang steht und darum verfassungswidrig ist. Der Grundsatz der Trennung der Justiz von der Verwaltung bedeutet demnach auch, daß nicht über ein und dieselbe Frage sowohl Gerichte als auch Verwaltungsbehörden, sei es im gemeinsamen Zusammenwirken, sei es im instanzenmäßig gegliederten Nacheinander, entscheiden dürfen (VfSlg.4359 mwN). Gerade dies trifft aber zu, wenn man § 101 ASVG (und die entsprechenden Bestimmungen der anderen Sozialversicherungsgesetze) in dem Sinn versteht, wie dies das angeführte Schrifttum und die bezogene Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien tut. Wird gegen den die Herstellung des gesetzlichen Zustandes ablehnenden Bescheid eine Klage erhoben, tritt hiedurch gemäß § 71 Abs.1 ASGG (früher § 384 Abs.1 ASVG) nur dieser (zweite) Bescheid, nicht aber auch der erste, ursprünglich über die Leistung ergangene Bescheid außer Kraft. Würde das Gericht auf Grund der Klage den gesetzlichen Zustand rückwirkend wieder herstellen und über die Leistung selbst erkennen, so würde es damit über dieselbe Sache wie der Versicherungsträger im ersten Bescheid entscheiden. Durch die Identität des Gegenstandes der Entscheidung unterscheidet sich der hier zu prüfende Fall von dem Fall des § 362 Abs.1 ASVG, für den nunmehr im § 68 ASGG die Möglichkeit einer Klage eingeräumt wird; in diesem Fall ist nämlich über einen anderen Zeitraum als im ersten, die Leistung ablehnenden Bescheid zu entscheiden.

In jüngerer Zeit hat Müller (RdA 1986, 369 ff, insb 375) den Versuch unternommen, die Frage der Abgrenzung von Leistungsverfahren und Verwaltungsverfahren im Leistungsrecht der Sozialversicherung unter dem Gesichtspunkt der wechselseitigen Bindung der Gerichte und Verwaltungsbehörden zu lösen und ist - vor allem für die Wiederaufnahme des Verfahrens - zu dem Ergebnis gekommen, daß die Gerichte die Bindung an Leistungsbescheide des Versicherungsträgers prüfen und im Falle der Verneinung der Bindung eine neue Sachentscheidung treffen dürften (s. inb aaO 377 unter 7.2). Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht. Würde ein Gesetz vorsehen, daß die Gerichte unter bestimmten Voraussetzungen an einen noch wirksamen (und nicht infolge einer Klage außer Kraft getretenen; vgl VfSlg.3236, 3424) Bescheid einer Verwaltungsbehörde nicht gebunden sind und in der Hauptsache (und nicht bloß als Vorfrage !) über denselben Gegenstand wie der Bescheid entscheiden dürfen, würde es dem Gericht eine Abänderung dieses Bescheides ermöglichen und wäre deshalb aus den angeführten Gründen verfassungswidrig. Es ist daher nicht entscheidend, ob aus § 101 ASVG und den entsprechenden Bestimmungen der anderen Sozialversicherungsgesetze abgeleitet werden kann, daß unter bestimmten Voraussetzungen keine Bindung an den Vorbescheid besteht.

Gesetze sind im Zweifel verfassungskonform auszulegen (Bydlinski in Rummel, ABGB Rz 21 zu § 6; JBl 1978, 438; für die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts MGA ABGB32 § 6/46 f). Dieses Ergebnis kann hier nicht dadurch erreicht werden, daß man aus den in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen ableitet, die Gerichte hätten auf Grund einer Klage nur über die - verfahrensrechtliche - Frage, ob die Voraussetzungen für die Herstellung des gesetzlichen Zustands erfüllt sind, zu entscheiden und gegebenenfalls dem Versicherungsträger die Erlassung eines Bescheides über die Leistung aufzutragen. Dies würde ebenfalls

ein - verfassungswidriges - Verhältnis der Über- und Unterordnung zwischen den Gerichten und Verwaltungsbehörden bedeuten (vgl VfSlg. 9737). Außerdem würde diese Auslegung § 65 Abs.1 Z 1 ASGG widersprechen, aus dem sich ergibt, daß die Entscheidung des Gerichtes den Bestand, den Umfang oder das Ruhen eines Anspruchs zum Gegenstand haben muß. Dazu gehört aber die bloße verfahrensrechtliche Entscheidung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Herstellung des gesetzlichen Zustands efüllt sind, nicht. Es bleibt also allein die Möglichkeit, daß im Verwaltungsweg darüber entschieden wird, ob der gesetzliche Zustand wiederherzustellen ist. Der erkennende Senat vermag der Ansicht Pesendorfers (ZAS 1977, 68), dieser Weg sei nach dem Wortlaut und der systematischen Stellung des § 101 ASVG ausgeschlossen, nicht zu folgen. Wohl gebietet § 101 ASVG (und die entsprechenden Bestimmungen der anderen Sozialversicherungsgesetze) dem Versicherungsträger, bei Vorliegen der darin festgelegten Voraussetzungen den gesetzlichen Zustand herzustellen, und es kann der im Rechtsmittelweg angerufene Landeshauptmann diesem Gebot nicht entsprechen, weil über den Bestand, den Umfang oder das Ruhen eines Anspruchs auf Versicherungsleistungen zufolge § 65 Abs.1 Z 1 ASGG (früher § 371 Z 1 iVm § 354 Z 1 ASVG) neben den Versicherungsträgern nur die Gerichte entscheiden dürfen. Die Verhältnisse sind aber hier mit denen bei der Wiederaufnahme des Verfahrens vergleichbar, weil auch dort zufolge § 70 Abs.1 AVG zugleich mit der Bewilligung der Wiederaufnahme ein neuer Bescheid erlassen werden soll, wenn die Aktenlage dies zuläßt (vgl Mannlicher-Quell, AVG8 I 401; Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht4 Rz 609; Antoniolli-Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht 719 f). Zu dieser Bestimmung hat aber schon der Verfassungsgerichtshof die Ansicht vertreten (VfSlg.4998), sie sei so auszulegen, daß der Landeshauptmann als Einspruchsinstanz bei Wiederaufnahme in Leistungssachen nach dem ASVG in keinem Fall einen Leistungsbescheid erlassen dürfe. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes läßt sich aber auch § 101 ASVG und die entsprechenden Bestimmungen der anderen Sozialversicherungsgesetze in diesem Sinn verstehen, was zu dem Ergebnis führt, daß der Landeshauptmann dem Versicherungsträger nur die Entscheidung in der Sache aufzutragen hätte. Selbst wenn man der Ansicht Pesendorfers (aaO 68) folgt, daß der Landeshauptmann den ersten Bescheid des Versicherungsträgers zu beseitigen hätte, ändert dies nichts, weil die Verhältnisse dann nicht anders als bei der Wiederaufnahme wären, durch die der Leistungsbescheid ebenfalls außer Kraft tritt (Antoniolli-Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht 721; VfSlg.4359; VwSlg.9277/A ua). Der hier zu beurteilende Fall liegt im übrigen nicht anders, wie wenn der Versicherungsträger einen Leistungsantrag gemäß § 68 Abs.1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen oder die Berichtigung eines Bescheides gemäß § 62 Abs.4 AVG abgelehnt hat. In diesen Fällen dürfte der Landeshauptmann ebenfalls nicht in der Sache entscheiden;

dennoch hat der Verwaltungsgerichtshof beide Entscheidungen des Versicherungsträgers den Verwaltungssachen zugeordnet (ZfVB 1986/2181 für die Zurückweisung wegen entschiedener Sache;

ZfVB 1984/1105 für die Berichtigung).

Auch die Systematik des ASVG (und der anderen Sozialversicherungsgesetze) steht der dargelegten Auffassung nicht entgegen. § 101 findet sich zwar im Abschnitt VI des Ersten Teiles des ASVG, der mit "Leistungsansprüche" überschrieben ist und auch überwiegend Bestimmungen enthält, die für die Feststellung des Bestandes, des Umfanges oder des Ruhens eines Anspruchs über eine Versicherungsleistung oder für die Feststellung der Verpflichtung zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung von Bedeutung sind. Diese Angelegenheiten gehören allerdings gemäß § 354 Z 1 und 2 ASVG zu den Leistungssachen und gemäß § 65 Abs.1 Z 1 und 2 ASGG zu den Sozialrechtssachen. Im selben Abschnitt sind aber auch Bestimmungen enthalten, auf die dies eindeutig nicht zutrifft (§ 98: Übertragung und Verpfändung von Leistungsansprüchen; § 98 a:

Pfändung von Leistungsansprüchen; § 104: Auszahlung der Leistungen;

§ 106: Zahlungsempfänger). So ergibt sich etwa aus § 410 Abs.1 Z 6 ASVG, daß die im § 98 Abs.2 dieses Gesetzes geregelte Zustimmung des Versicherungsträgers zur Übertragung von Leistungsansprüchen eine Verwaltungssache ist. Es hindert also die Einordnung des § 101 in den Abschnitt VI des Ersten Teiles des ASVG nicht, die in dieser Bestimmung geregelte Herstellung des gesetzlichen Zustands den Verwaltungssachen zuzuordnen.

Diese Zuordnung entspricht im übrigen der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes. Die Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfahrens wird sowohl vom Verfassungsgerichtshof (VfSlg.4998) als auch vom Verwaltungsgerichtshof (VwSlg.9551/A; SVSlg.28.264) als Verwaltungssache angesehen (ebenso im übrigen auch schon der Oberste Gerichtshof in SSV-NF 1/58). Ferner erblickt der Verwaltungsgerichtshof (ZfVB 1986/2181) in der Zurückweisung eines Antrags wegen entschiedener Sache eine Verwaltungssache. Sowohl die Ablehnung der Wiederaufnahme als auch die Zurückweisung wegen entschiedener Sache sind aber mit der Ablehnung der Herstellung des gesetzlichen Zustands vergleichbar. Diese Herstellung hat der Verwaltungsgerichtshof ausdrücklich zwar nur dann den Verwaltungssachen zugeordnet, wenn der Versicherungsträger die Anwendung des § 101 ASVG mit der Begründung abgelehnt hat, daß der strittige Anspruch mit dem Urteil eines Gerichtes zuerkannt wurde (VwSlg.8918/A = ZAS 1977, 64). Schon Pesendorfer hat in der Besprechung dieser Entscheidung (ZAS 1977, 66) darauf hingewiesen, daß es unrichtig ist, diese Fälle anders als jene zu behandeln, in denen die Herstellung des gesetzlichen Zustands aus anderen Gründen abgelehnt wird; seine Argumente wurden bereits in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes SSV-NF 1/50 als "gewichtig" bezeichnet. In anderen Entscheidungen geht der Verwaltungsgerichtshof, ohne dies allerdings ausdrücklich zu sagen, offensichtlich davon aus, daß auch in diesen Fällen eine Verwaltungssache vorliegt. So hat er in seinen Erkenntnissen vom 15.9.1986, Zl 85/08/0192 (in anderen Teilen veröffentlicht in VwSlg.12.220/A = ÖJZ 1987/190, 377 = SVSlg.31.054), und vom 15.1.1987, Zl 86/08/0087 (in anderen Teilen veröffentlicht in SVSlg.31.057 = ZfVB 1987/2136), dem Versicherungsträger die Entscheidung über einen Antrag nach § 101 ASVG aufgetragen, wozu er nicht berechtigt gewesen wäre, wenn es sich um eine Leistungssache handeln würde.

Aus all diesen Gründen vermag sich der erkennende Senat der bisher im Schrifttum und in der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien sowie - in einem Fall - auch des Obersten Gerichtshofs vertretenen Ansicht nicht anzuschließen, daß es sich um eine Leistungssache handelt, wenn der Versicherungsträger die Herstellung des gesetzlichen Zustands ablehnt, weil kein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt und kein offenkundiges Versehen vorliegt. Diese Ansicht nimmt auf die dargestellten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht Bedacht und wird dem Gebot nach verfassungskonformer Auslegung der in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen, die im übrigen auch von Pesendorfer (ZAS 1977, 68) als "noch erträglicher Kompromiß" bezeichnet wird, nicht gerecht. Sie würde es dem Anspruchswerber im übrigen ermöglichen, die Gerichte auch nach Ablauf der für die Klage gegen den ersten Bescheid gemäß § 70 Abs.1 Z 1 ASGG (früher § 383 Abs.2 ASVG) offenstehenden Frist bloß mit der Behauptung, daß die Voraussetzungen für die Herstellung des gesetzlichen Zustands vorlägen, anzurufen, ein Ergebnis, das vom Gesetzgeber wohl kaum beabsichtigt sein dürfte. Es spricht daher auch diese Überlegung für die vom erkennenden Senat vertretene Auffassung, daß immer dann, wenn der Versicherungsträger die Herstellung des gesetzlichen Zustands ablehnt, eine Verwaltungssache vorliegt, weshalb gegen den die Ablehnung aussprechenden Bescheid eine Klage nicht erhoben werden kann.

Da dieser Fall hier gegeben ist, haben die Vorinstanzen über eine nicht auf den Rechtsweg gehörige Sache erkannt. Ihre Urteile und das diesen vorausgegangene Verfahren sind daher gemäß § 477 Abs.1 Z 6 ZPO nichtig, worauf aus Anlaß der Revision Bedacht zu nehmen war.

Der Ausspruch über die Verfahrenskosten beruht auf § 77 Abs.1 Z 2 lit b ASGG.

Anmerkung

E18393

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00021.88.0620.000

Dokumentnummer

JJT_19890620_OGH0002_010OBS00021_8800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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