TE OGH 1990/3/13 10ObS24/90

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Veröffentlicht am 13.03.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Dietmar Strimitzer (AG) und Norbert Kunc (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rosa K***, 2101 Bisamberg, Satzgasse 8, vertreten durch Dr. Josef Deitzer, Rechtsanwalt in Schwechat, wider die beklagte Partei P*** DER A***,

1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. Juli 1989, GZ 32 Rs 79/89-38, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Korneuburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 22. Dezember 1988, GZ 15a Cgs 87/88-35, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 7. November 1986 wurde der Antrag der Klägerin vom 21. Juli 1986 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension abgelehnt.

Dagegen richtet sich die rechtzeitige Klage mit dem Begehren auf Zuerkennung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. August 1986. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und stellte folgenden wesentlichen Sachverhalt fest:

Die am 5. Jänner 1939 geborene Klägerin leidet unter einem in der Jugend aufgetretenen Diabetes mellitus, der mit nunmehr täglich fünf Insulininjektionen (morgens, mittags, vor dem Abendessen, abends und spät abend) und einer durchschnittlichen drei- bis viermaligen Messung des Blutzuckers durch Selbstbestimmung zu behandeln ist. Um die Insulindosis festzustellen, muß eine Blutzuckerkontrolle vorgenommen werden. Einmal, fallweise - wenn sie Unter- oder Überzuckerung verspürt - zweimal während der Arbeitszeit benötigt die Klägerin eine zusätzliche Pause: Sie muß sich in den Waschraum begeben, die Hände waschen, aus den Fingerkuppen Blut entnehmen, dieses auf einen Teststreifen und anschließend in ein Meßgerät legen und nach zwei Minuten das Ergebnis ablesen. Für diesen Vorgang sind insgesamt sechs Minuten anzusetzen, und zwar zwei Minuten für die Vorbereitung, zwei Minuten für die Wartezeit und zwei Minuten für die dazwischenliegenden Verrichtungen. Eine daran allenfalls anschließende Insulininjektion braucht ein bis zwei Minuten. Zusammenfassend sind daher auch bei positivem Ergebnis pro Pause zehn Minuten nicht erreicht. Bei der Klägerin wird es auch zu hypoglykämischen Zuständen kommen, häufiger in der Nacht als am Tag. Tagsüber sind sie durch Injektionen oder auch durch Einnahme eines Stückes Zucker regulierbar. Bei schweren hypoglykämischen Zuständen in der Nacht wird der nächste Tag als Krankenstand anzusetzen sein. Die Anfallshäufigkeit läßt sich nicht objektivieren; nach den bisherigen Erfahrungen der Klägerin könnten solche Anfälle dreimal hintereinander, dann wieder ein Jahr lang nicht stattfinden. Die Klägerin muß monatlich zur Kontrolle der Einstellung ambulant in das Krankenhaus Lainz, wobei die eigentliche Kontrolle nur eine Viertelstunde dauert, aber durch die Wartezeit je nach Entfernung der Arbeitsstelle ein halber oder sogar ganzer Tag verstreicht. Während der Arbeitszeit auftretende hypoglykämische Zustände lassen sich in wenigen Minuten beheben. Eine Prognose der Anfallshäufigkeit für leichtere hypoglykämische Zustände ist nicht möglich. Der Klägerin sind leichte und mittelschwere Arbeiten zu den üblichen Zeiten und Bedingungen, außer an exponierten Stellen und unter überdurchschnittlichem Zeitdruck zuzumuten. Die Klägerin braucht eine dreiviertel Stunde vor der Mittagspause eine zusätzliche Pause zur Zuckerwertüberprüfung, bei Verdacht einer Unterzuckerung benötigt sie zusätzliche Pausen, die sich zahlenmäßig nicht im vorhinein bestimmen lassen aber im einzelnen weniger als zehn Minuten dauern. Auf dem Arbeitsmarkt wird ein Aufsuchen der Toilette während der Arbeitszeit in der Praxis toleriert. In der Tätigkeit als Näherin wäre die Klägerin nicht auf das besondere Wohlwollen des Arbeitgebers angewiesen.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Klägerin könne noch diverse, ihr Leistungskalkül nicht übersteigende Arbeiten verrichten. Da die zusätzlichen Pausen jeweils unter zehn Minuten blieben, sei die Klägerin nicht vom besonderen Wohlwollen eines Dienstgebers abhängig. Unter Berücksichtigung von 12 Tagen für monatliche Kontrollen, höchstens sechs Tagen nach schweren hypoglykämischen Zuständen, gerafft betrachtet höchstens 20 Tagen für die kurzzeitige Arbeitsunfähigkeit infolge leichter hypoglykämischer Zustände während der Arbeitszeit seien die zusätzlichen Krankenstände höchstens mit eineinhalb Monaten festzusetzen, also mit einem Ausmaß, das vom allgemeinen Arbeitsmarkt ebenfalls noch nicht ausschließe. Die Klägerin gelte daher nicht als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin dagegen erhobenen Berufung aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurtielung nicht Folge. Für die Einnahme kleinerer Zwischenmahlzeiten sei ein Entgegenkommen des Dienstgebers ebensowenig erforderlich wie für die Vornahme der erforderlichen Blutzuckermessungen. Somit bewirkten zusätzliche kurzfristige Arbeitsunterbrechungen, soferne nicht ohnehin die Klägerin von der Möglichkeit des § 11 Abs 1 zweiter Satz AZG im Sinne einer flexibleren Pausenregelung Gebrauch machen könnte, keinen Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Klägerin sei daher entgegen den Ausführungen des Sachverständigen für Berufskunde nicht von Verweisungstätigkeiten ausgeschlossen und daher auch nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG. Dies gelte ebenso auch unter Berücksichtigung der mehreren zu erwartenden kurzfristigen Krankenstände, die insgesamt das Ausmaß von etwa ein bis eineinhalb Monaten jährlich nicht überschreiten würden.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes wendet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache. Sie beantragt die Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Es trifft zu, daß beide vom Erstgericht beigezogenen Sachverständigen für Berufskunde die Auffassung vertraten, es könnten für die Klägerin keine Verweisungstätigkeiten namhaft gemacht werden, da sie selbst unter den für sie günstigsten gesundheitlichen Voraussetzungen immer vom Wohlwollen des Arbeitgebers abhängig sein werde. Es ist jedoch, wie der Oberste Gerichthof bereits ausgesprochen hat, den Tatsacheninstanzen nicht verwehrt, in freier Beweiswürdigung auch einem Sachverständigengutachten keinen Glauben zu schenken und von der Einholung eines weiteren Gutachtens Abstand zu nehmen, wenn die eigenen Fachkenntnisse - insbesondere im Senatsprozeß, der unter Beiziehung fachkundiger Laienrichter stattfindet - oder gar schon die allgemeine Lebenserfahrung zur Beurteilung ausreichen (SSV-NF 2/59). Dem Berufungsgericht ist beizupflichten, daß weder für die Einnahme kleinerer Zwischenmahlzeiten, noch für erforderliche Blutzuckermessungen das Entgegenkommen des Dienstgebers erforderlich ist, weil solche Verrichtungen gerade bei Tätigkeiten, die nicht mit Kundenverkehr verbunden sind, ganz allgemein geduldet werden. Auch Blutzuckermessungen bedingen nach den Feststellungen einen Zeitaufwand von nur wenigen Minuten und können ohne Störung des Dienstbetriebes in Sanitärräumen durchgeführt werden (SSV-NF 2/145; zuletzt 10 Ob S 447/89). Der Klägerin sind nach den unbekämpften Feststellungen leichte und mittelschwere Arbeiten zu den üblichen Zeiten und Bedingungen außer Arbeiten an exponierten Stellen sowie unter überdurchschnittlichem Zeitdruck zuzumuten. Die Klägerin, die keinen Beruf erlernt hat, war nach dem Inhalt des Anstaltsaktes in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 60 Monate als Buchbindereiarbeiterin und 29 Monate als Maschinenführerin tätig; seit 18. Dezember 1978 ist sie nicht mehr erwerbstätig. Da Berufsschutz nicht gegeben ist und von der Klägerin auch gar nicht geltend gemacht wird, kann sie noch eine Reihe von leichten und mittelschweren Hilfsarbeitertätigkeiten ausüben, die kein Arbeiten an exponierten Stellen und unter überdurchschnittlichem Zeitdruck erfordern.

Was nun die zu erwartenden Krankenstände der Klägerin anlangt, die nach den erstgerichtlichen Annahmen höchstens mit eineinhalb Monaten festzusetzen sind, so ist auf die bisherige Judikatur des Obersten Gerichtshofes zu verweisen, wonach bei Krankenständen von durchschnittlich sechs Wochen (SSV-NF 3/45), 30 Krankenstandstagen (10 Ob S 128/89), 30 bis 40 Krankenstandstagen (10 Ob S 153/89) oder 30 Arbeitstagen (10 Ob S 157/89) im Jahr ein Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt verneint wurde. Die bei der Klägerin zu erwartenden Krankenstände übersteigen das bisher für unbeachtlich angesehene Ausmaß nicht. Da, wie oben ausgeführt, geringfügige Arbeitspausen zur Durchführung der Blutzuckerkontrolle zum Verabreichen von Insulininjektionen oder zur Einnahme kleinerer Zwischenmahlzeiten (wie eines Stückes Zucker) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt toleriert werden, kann auch der Meinung der Revisionswerberin nicht beigepflichtet werden, daß infolge Zusammentreffens des Erfordernisses solcher Arbeitspausen mit den zu erwartenden Krankenständen jedenfalls Invalidität iS des § 255 Abs 3 ASVG bedingen. Hier muß nämlich berücksichtigt werden, daß die mit eineinhalb Monaten angenommene Höchstdauer der Krankenstände doch eher hoch gegriffen erscheint, weil die zu erwartenden leichten hypoglykämischen Zustände in der Regel keinen Krankenstand nach sich ziehen, sich vielmehr nach den Feststellungen in wenigen Minuten beheben lassen. Auch unter Bedachtnahme auf die zu erwartenden Krankenstände ist daher die Klägerin vom allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausgeschlossen.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG (SSV-NF 1/19, 2/26, 2/27 ua).

Anmerkung

E20148

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:010OBS00024.9.0313.000

Dokumentnummer

JJT_19900313_OGH0002_010OBS00024_9000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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