TE OGH 1992/5/12 10ObS93/92

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Veröffentlicht am 12.05.1992
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Stefan Seper (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Monika Fischer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Walter W*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr. Dietrich Rössler, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11.Oktober 1991, GZ 33 Rs 125/91-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 30.Jänner 1991, GZ 4 Cgs 86/90-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 31.5.1939 geborene Kläger erlernte keinen Beruf und ist seit November 1981 nicht mehr erwerbstätig. Innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag war er als Hilfsarbeiter beschäftigt. Auf Grund krankheits- und unfallsbedingter Einschränkungen sind ihm leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten ohne Dauerstehen und Dauergehen in der üblichen Arbeitszeit zumutbar; nach höchstens 45 Minuten muß ihm ein kurzfristiges Sitzen möglich sein. Schwerarbeiten und Arbeiten unter dauerndem besonderem Zeitdruck wie Band- und Akkordarbeiten scheiden aus. Der Kläger ist für einfache Arbeiten unterweisbar und kann eingeordnet werden. Seine Fingerfertigkeit ist außer für Feinarbeiten erhalten.

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter wies mit Bescheid vom 7.3.1990 den Antrag des Klägers vom 31.1.1990 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab, da er nicht invalid sei.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.2.1990 gerichtete Klage ab. Der Kläger sei nicht invalid nach § 255 Abs. 3 ASVG, weil er noch als Fensterputzer, Gartenhilfsarbeiter, Nachtwächter, Fabrikswächter, Plakatierer oder Zureicher an Werkzeugautomaten eingesetzt werden könnte.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Sei ein Versicherter in der Lage, Verweisungstätigkeiten ohne Einschränkung inhaltlicher oder zeitlicher Art auszuüben, so sei davon auszugehen, daß er ein Einkommen in der Höhe des kollektivvertraglichen Lohnes erzielen könne. Selbst wenn kein Kollektivvertragslohn für zumutbare Verweisungstätigkeiten vorgesehen wäre, bedürfe es keiner diesbezüglichen Feststellung, weil dann jenes Entgelt heranzuziehen wäre, das jeder andere dafür voll geeignete Arbeitnehmer regelmäßig damit zu erzielen pflege. Im Hinblick auf den Ausschluß von Arbeiten dauernd im Gehen und Stehen könnten allerdings die genannten Verweisungstätigkeiten als Fensterputzer, Gartenhilfsarbeiter, Nacht- und Fabrikswächter, Plakatierer oder Zureicher nicht zumutbar sein. Dennoch vermöge der Kläger keine für ihn günstigere Entscheidung zu erreichen, weil für ihn eine Vielzahl von Verweisungsberufen in Frage käme, bei welchen durch die Verrichtung der damit verbundenen Tätigkeiten das festgestellte Leistungskalkül nicht überschritten werde. Es seien dies Tätigkeiten in den Berufen Presser, Präger, Stanzer, Bohrist, Parkgaragenkassier, Museumsaufseher, Portier usw. Das Erstgericht habe daher zu Recht Invalidität des Klägers nach § 255 Abs. 3 ASVG verneint.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist nicht berechtigt.

Die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der Aktenwidrigkeit nach § 503 Z 2 und 3 ZPO liegen nicht vor (§ 510 Abs. 3 Satz 3 ZPO). Der Kläger hat die Nichtberücksichtigung eines Anstaltsgutachtens vom 8.6.1988, aus dem sich eine Bewegungseinschränkung des linken Armes und allfällige weitere, die Erwerbsfähigkeit des Klägers mindernden Verletzungsfolgen ergeben sollen, nicht schon in der Berufung als Stoffsammlungsmangel gerügt. Mängel des Verfahrens erster Instanz, die in der Berufung nicht geltend gemacht wurden, können auch in Sozialrechtssachen nicht den Gegenstand der Revision bilden (SSV-NF 1/68, zuletzt mit ausführlicher Begründung 10 Ob S 275/91 = SSV-NF 5/120 - in Druck). In der bloßen Übergehung von Beweismitteln kann auch keine Aktenwidrigkeit liegen. Es hat daher bei dem von den Vorinstanzen festgestellten medizinischen Leistungskalkül zu verbleiben.

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes, daß der noch nicht 55 Jahre alte Kläger, der keinen Berufsschutz genießt, unter Berücksichtigung des festgestellten medizinischen Leistungskalküls auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar ist und daher die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension nach dem hier maßgeblichen § 255 Abs. 3 ASVG nicht erfüllt, ist zutreffend.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats und der herrschenden Lehre, daß das Verweisungsfeld für gemindert erwerbsfähige Hilfsarbeiter mit dem gesamten Arbeitsmarkt ident ist und daß dabei die konkrete Arbeitsmarktsituation, nämlich die Frage, ob der Versicherte tatsächlich einen Dienstposten finden werde, ohne Bedeutung ist (SSV-NF 1/4, 1/23, 2/5, 2/14, 2/34, 3/46, 4/140 ua; Tomandl, Grundriß4 Rz 69 S 55, Grillberger, Österreichisches Sozialrecht 65, 67; Teschner in Tomandl, SV-System, 5. ErgLfg. 370; ebenso herrschende Auffassung in der Bundesrepublik Deutschland, vgl. Brackmann, Handbuch der SV, IV,

28. Nachtrag 670 d VI ff, 682 g mwN). Dabei sind nur Verweisungstätigkeiten ausgeschlossen, die auf dem Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr vorkommen, weil es diese Berufstätigkeiten im Wirtschaftsleben nicht mehr gibt oder die speziell dem Versicherten nicht offen stehen, weil sie ausschließlich Angehörigen des jeweils anderen Geschlechtes vorbehalten sind. Tätigkeiten, die der Versicherte - abstrakt gesehen - ausüben könnte, die ihm aber schon deshalb kein Erwerbseinkommen verschaffen könnten, weil es keine oder nur wenige Arbeitsplätze gibt, haben bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit außer Betracht zu bleiben (SSV-NF 1/4, 2/50, 2/128, 4/140; Schrammel, Zur Problematik der Verweisung in der PV und UV, ZAS 1984, 83 (86)). Der Berücksichtigung der konkreten Arbeitsmarktsituation bei Beurteilung, ob Invalidität vorliegt, steht, wie der erkennende Senat bereits mehrfach ausgesprochen hat (SSV-NF 2/14 mwN ua) entgegen, daß der Gesetzgeber die Kompetenzbereiche von Unfallversicherung und Pensionsversicherung einerseits und Arbeitslosenversicherung andererseits exklusiv festgelegt hat. Während in der Unfall- und Pensionsversicherung Leistungen zu erbringen sind, wenn die Fähigkeit zum Erwerb durch Umstände gemindert ist, die auf der persönlichen Eigenart des Menschen beruhen, gehört die fehlende Nachfrage nach Arbeit nicht zu deren Risikobereich, sondern zu jenem der Arbeitslosenversicherung. Der Gesetzgeber hat die Minderung der Arbeitsfähigkeit abstrakt durch Vergleich mit jener von körperlich und geistig gesunden Versicherten und durch Festlegung eines in den einzelnen Pensionsgesetzen differenzierten Kreises der Verweisungstätigkeiten, an denen die Restarbeitsfähigkeit gemessen wird, geregelt. Eine Berücksichtigung gesunkener Nachfrage nach Arbeit in der Pensionsversicherung und damit eine Verschiebung von der Leistungszuständigkeit der Arbeitslosenversicherung zu jener der Pensionsversicherung könnte nicht durch Änderung der auf den bestehenden Gesetzen basierenden Rechtsprechung, sondern nur vom Gesetzgeber durch Einschränkung des Verweisungsfeldes erfolgen.

Die Revisionsausführungen sind nicht geeignet, Bedenken gegen die Richtigkeit dieser Auffassung zu erwecken. Es trifft durchaus zu, daß Arbeitsplatzangebot und Arbeitsplatznachfrage bestimmende Faktoren des Arbeitsmarktes sind (vgl. Stichwort "Arbeitsmarkt" in Staatslexikon7 Verlag Herder 1985, Band 1, 284 ff). Daraus ergibt sich aber entgegen der Ansicht des Revisionswerbers nicht, daß bei der Prüfung der Verweisbarkeit nur freie Arbeitsplätze zu berücksichtigen seien. In einem marktwirtschaftlichen System stellt Arbeitslosigkeit ein Marktungleichgewicht dar, bei dem das Angebot an unselbständigen Arbeitskräften die Nachfrage übersteigt (Stichwort: "Arbeitslosigkeit" in Staatslexikon aaO 274). Findet ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses keine neue Beschäftigung, ist er nach geltendem Recht arbeitslos und hat grundsätzlich Anspruch auf Arbeitslosengeld (§§ 7 ff AlVG). Daß die Nachfrage hinter dem Angebot an Arbeitskräften zurückbleibt, weil alle gefragten Arbeitsplätze (derzeit) besetzt sind, ändert nichts an der Tatsache, daß auf dem Arbeitsmarkt solche Arbeitsplätze vorhanden sind und jeder Arbeitsfähige und Arbeitswillige bei Freiwerden eines Arbeitsplatzes in Konkurrenz mit anderen Arbeitsuchenden einen solchen Arbeitsplatz erhalten kann.

Dem Revisionswerber ist auch nicht zu folgen, daß die oben dargelegte Auffassung im Gesetz keine Deckung finde. § 255 Abs. 3 ASVG spricht zwar von einer Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird. Damit wird aber nicht verlangt, daß (derzeit) eine das Angebot an Arbeitskräften übersteigende Nachfrage vorliegen müsse: Eine Tätigkeit wird auch dann auf dem Arbeitsmarkt "bewertet", wenn gerade keine offenen Stellen angeboten werden. Auf dem Arbeitsmarkt treffen Angebot und Nachfrage zusammen. Die Annahme des Revisionswerbers, nur deshalb, weil das Angebot gleich groß wie oder größer als die Nachfrage sei, bestehe keine Nachfrage, beruht möglicherweise auf einem Mißverständnis des oben geschilderten arbeitsmarktwirtschaftlichen Prinzips. Wäre die in der Revision vertretene Ansicht richtig, so würde die Frage, ob ein Versicherter invalid ist, von der jeweiligen wirtschaftlichen Konjunktur abhängig sein, was übrigens weiters zur Folge hätte, daß bestehende Invalidität bei Besserung der wirtschaftlichen Gegebenheiten fortfallen könnte. Da jedoch ein gleichbleibender körperlicher und geistiger Gesundheitszustand nicht je nach der herrschenden wirtschaftlichen Lage (Arbeitsmarktlage) einmal Invalidität und ein anderes Mal keine solche begründen kann, muß die Wortfolge "... die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird ..." dahin ausgelegt werden, daß es nur darauf ankommt, daß eine hinreichende Zahl von Verweisungstätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt vorhanden ist, nicht aber darauf, ob in diesen auch Arbeitsplätze frei sind.

Der Oberste Gerichtshof hält daher an seiner Ansicht fest, daß es keiner Erhebung der konkreten Arbeitsmarktsituation im Sinne einer Feststellung der derzeit unbesetzten Arbeitsstellen in den Verweisungsberufen bedarf.

Der erkennende Senat hat auch bereits dargelegt, daß gegen die Verfassungsmäßigkeit der Differenzierung in den Anspruchsvoraussetzungen für die Zuerkennung der Invaliditätspension nach § 255 Abs. 1 und Abs. 3 ASVG keine Bedenken bestehen (SSV-NF 2/14). Dem Revisionswerber gelingt es nicht, nunmehr solche Bedenken zu erwecken. Das Abstellen auf die Hälfte der Arbeitsfähigkeit eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten (§§ 255 Abs. 1, 273 Abs. 1 ASVG) bzw. auf die Hälfte des Entgeltes, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (§§ 255 Abs. 3 und 4, 273 Abs. 3 ASVG) läßt eine unsachliche Schlechterbehandlung der Hilfsarbeiter nicht erkennen. Der Vergleich der Lohnhälfte mit der Höhe des Arbeitslosengeldes ist nicht zielführend, weil es sich bei der Invaliditätspension und beim Arbeitslosengeld (§§ 20 f AlVG) um völlig verschiedene Versicherungsleistungen handelt, deren unterschiedliche Ausgestaltung in der rechtspolitischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers liegt. Ist ein Versicherter - wie unstrittig der Kläger - noch imstande, Tätigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt bewertet werden und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden können (Verweisungstätigkeiten), ohne jede Einschränkung, also wie ein körperlich und geistig gesunder Versicherter auszuüben, dann ist nicht daran zu zweifeln, daß er durch die Verweisungstätigkeiten das Entgelt erwerben kann, das jeder andere dafür voll geeignete Arbeiter regelmäßig dadurch zu erzielen pflegt. Darauf, ob dieses Entgelt ein Kollektivvertragslohn ist, kommt es nicht an (SSV-NF 4/33). Die Frage der Lohnhälfte stellt sich daher in den meisten Fällen und auch im Fall des Klägers gar nicht.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG. Der Kläger ist durch einen im Rahmen der Verfahrenshilfe beigegebenen Rechtsanwalt vertreten und wird daher mit Kosten des Revisionsverfahrens nicht belastet, so daß schon deshalb für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit kein Anlaß besteht (SSV-NF 1/19, 2/26, 27 ua).

Anmerkung

E29432

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00093.92.0512.000

Dokumentnummer

JJT_19920512_OGH0002_010OBS00093_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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