TE Vfgh Beschluss 2004/2/23 G239/03

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Veröffentlicht am 23.02.2004
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Index

25 Strafprozeß, Strafvollzug
25/01 Strafprozeß

Norm

B-VG Art89 Abs2
B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
StPO §252, §281

Leitsatz

Zurückweisung des Individualantrags auf Aufhebung von Bestimmungen der StPO mangels Legitimation im Hinblick auf ein anhängig gewesenes Gerichtsverfahren; keine Doppelgleisigkeit des Rechtsschutzes; Individualantrag bloß Lücken schließender, subsidiärer Rechtsbehelf

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung:

1.1. Der durch einen Rechtsanwalt vertretene Antragsteller begehrt in seinem auf Art140 Abs1 letzter Satz B-VG gestützten (Individual)Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge "mit Wirkung zu Gunsten des Beschwerdeführers vom 11.4.2002" die §§252 und 281 Strafprozessordnung (StPO) als verfassungs- bzw. MRK-widrig aufheben.

Der Einschreiter beantragt die Aufhebung der genannten Bestimmungen zur Gänze, führt in der Begründung des Antrages aber nur gegen Teile der bekämpften Vorschriften konkrete Bedenken aus.

1.2. §252 StPO hat folgenden Wortlaut:

"§252. (1) Gerichtliche und sonstige amtliche Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen, andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen oder Mitbeschuldigten festgehalten worden sind, Gutachten von Sachverständigen sowie technische Aufnahmen über die Vernehmung von Mitbeschuldigten (§179a Abs2) oder Zeugen (§162a) dürfen bei sonstiger Nichtigkeit nur in folgenden Fällen verlesen oder vorgeführt werden:

1. wenn die Vernommenen in der Zwischenzeit gestorben sind; wenn ihr Aufenthalt unbekannt oder ihr persönliches Erscheinen wegen ihres Alters, wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit oder wegen entfernten Aufenthaltes oder aus anderen erheblichen Gründen füglich nicht bewerkstelligt werden konnte;

2. wenn die in der Hauptverhandlung Vernommenen in wesentlichen Punkten von ihren früher abgelegten Aussagen abweichen;

2a. wenn Zeugen die Aussage berechtigt verweigern (§152) und die Parteien Gelegenheit hatten, sich an einer gerichtlichen Vernehmung zu beteiligen (§§162a, 247);

3. wenn Zeugen, ohne dazu berechtigt zu sein, oder wenn Mitschuldige die Aussage verweigern; endlich

4. wenn über die Vorlesung Ankläger und Angeklagter einverstanden sind.

(2) Augenscheins- und Befundaufnahmen, gegen den Angeklagten früher ergangene Straferkenntnisse sowie Urkunden und Schriftstücke anderer Art, die für die Sache von Bedeutung sind, müssen vorgelesen werden, wenn nicht beide Teile darauf verzichten.

(3) Nach jeder Vorlesung ist der Angeklagte zu befragen, ob er darüber etwas zu bemerken habe.

(4) Die Bestimmungen des Abs1 dürfen bei sonstiger Nichtigkeit nicht umgangen werden."

§281 StPO lautet:

"§281. (1) Die Nichtigkeitsbeschwerde kann gegen ein freisprechendes Urteil nur zum Nachteile, gegen ein verurteilendes sowohl zum Vorteile als auch zum Nachteile des Angeklagten ergriffen werden, jedoch, sofern sie nicht nach besonderen gesetzlichen Vorschriften auch in anderen Fällen zugelassen ist, nur wegen eines der folgenden Nichtigkeitsgründe:

1. wenn der Gerichtshof nicht gehörig besetzt war, wenn nicht alle Richter der ganzen Verhandlung beiwohnten oder wenn sich ein ausgeschlossener Richter (§§67 und 68) an der Entscheidung beteiligte; es sei denn, daß der die Nichtigkeit begründende Tatumstand dem Beschwerdeführer noch vor oder während der Hauptverhandlung bekannt und von ihm nicht gleich beim Beginne der Hauptverhandlung oder sofort, nachdem er in dessen Kenntnis gelangt war, geltend gemacht wurde;

1a. wenn der Angeklagte nicht während der ganzen Hauptverhandlung durch einen Verteidiger vertreten war, obwohl dies zwingend vorgeschrieben war;

2. wenn trotz der Verwahrung des Beschwerdeführers ein Schriftstück über einen nach dem Gesetze nichtigen Vorerhebungs- oder Voruntersuchungsakt in der Hauptverhandlung verlesen wurde;

3. wenn in der Hauptverhandlung eine Vorschrift verletzt oder vernachlässigt worden ist, deren Beobachtung das Gesetz ausdrücklich bei sonstiger Nichtigkeit vorschreibt (§§120, 149c Abs3, §149h Abs2, 151, 152, 170, 221, 228, 240a, 250, 252, 260, 271, 427, 430 Abs3 und 4 sowie 439 Abs1 und 2);

4. wenn während der Hauptverhandlung über einen Antrag des Beschwerdeführers nicht erkannt worden ist oder wenn durch ein gegen seinen Antrag oder Widerspruch gefälltes Zwischenerkenntnis Gesetze oder Grundsätze des Verfahrens hintangesetzt oder unrichtig angewendet worden sind, deren Beobachtung durch grundrechtliche Vorschriften, insbesondere durch Art6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, oder sonst durch das Wesen eines die Strafverfolgung und die Verteidigung sichernden, fairen Verfahrens geboten ist;

5. wenn der Ausspruch des Gerichtshofes über entscheidende Tatsachen (§270 Abs2 Z. 4 und 5) undeutlich, unvollständig oder mit sich selbst im Widerspruch ist; wenn für diesen Ausspruch keine oder nur offenbar unzureichende Gründe angegeben sind; oder wenn zwischen den Angaben der Entscheidungsgründe über den Inhalt einer bei den Akten befindlichen Urkunde oder über eine gerichtliche Aussage und der Urkunde oder dem Vernehmungs- oder Sitzungsprotokoll selbst ein erheblicher Widerspruch besteht;

5a. wenn sich aus den Akten erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Ausspruch über die Schuld zugrunde gelegten entscheidenden Tatsachen ergeben;

6. wenn der Gerichtshof mit Unrecht seine Nichtzuständigkeit (§261) ausgesprochen hat;

7. wenn das ergangene Endurteil die Anklage nicht erledigt oder

8. diese gegen die Vorschrift der §§262, 263 und 267 überschritten hat;

9. wenn durch den Ausspruch über die Frage,

a) ob die dem Angeklagten zur Last fallende Tat eine zur Zuständigkeit der Gerichte gehörige strafbare Handlung begründe;

b) ob Umstände vorhanden seien, durch die die Strafbarkeit der Tat aufgehoben oder die Verfolgung wegen der Tat ausgeschlossen ist, endlich

c) ob die nach dem Gesetz erforderliche Anklage fehle, ein Gesetz verletzt oder unrichtig angewendet wurde;

10. wenn die der Entscheidung zugrunde liegende Tat durch unrichtige Gesetzesauslegung einem Strafgesetz unterzogen wurde, das darauf nicht anzuwenden ist;

10a. wenn nach dem IXa. Hauptstück vorzugehen gewesen wäre;

11. wenn der Gerichtshof seine Strafbefugnis überschritten oder bei dem Ausspruch über die Strafe für die Strafbemessung maßgebende entscheidende Tatsachen offenbar unrichtig beurteilt oder in unvertretbarer Weise gegen Bestimmungen über die Strafbemessung verstoßen hat.

(2) Die im Abs1 Z. 1a und 5a erwähnten Nichtigkeitsgründe können zum Nachteil des Angeklagten nicht geltend gemacht werden.

(3) Die unter Abs1 Z. 2, 3 und 4 erwähnten Nichtigkeitsgründe können zum Vorteile des Angeklagten nicht geltend gemacht werden, wenn unzweifelhaft erkennbar ist, daß die Formverletzung auf die Entscheidung keinen dem Angeklagten nachteiligen Einfluß üben konnte. Zum Nachteile des Angeklagten können sie nur geltend gemacht werden, wenn erkennbar ist, daß die Formverletzung einen die Anklage beeinträchtigenden Einfluß auf die Entscheidung zu üben vermochte, und wenn außerdem der Ankläger sich ihr widersetzt, die Entscheidung des Gerichtshofes begehrt und sich sofort nach der Verweigerung oder Verkündung dieser Entscheidung die Nichtigkeitsbeschwerde vorbehalten hat."

2.1.1. Der Antragsteller verweist in seinem Schriftsatz zunächst auf das Erkenntnis des Obersten Gerichtshofes vom 24.6.2003, AZ 11 Os 69/03, womit in der Strafsache AZ 41 Hv 13/02f des Landesgerichtes Feldkirch wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §206 Abs1 StGB und einer anderen strafbaren Handlung seine Nichtigkeitsbeschwerde gegen das (kondemnierende) Urteil des angeführten Gerichtshofes vom 23.1.2003 zurückgewiesen wurde. Seiner Berufung blieb auf Grund der Entscheidung des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 13.8.2003 ein Erfolg versagt.

2.1.2. Zu Fragen der Legitimation finden sich im Individualantrag ua. die folgenden Ausführungen:

"Der Antragsteller hat mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde verschiedene schwer wiegende rechtsstaatliche Mängel aufgezeigt, die zum Teil alleine und jedenfalls in Summe bewirkt haben, dass das schöffengerichtliche Verfahren 41 Hv 13/02f LG Feldkirch mehrfach gegen das faire Verfahren nach Art6 MRK verstoßen hat.

Aus nicht nachvollziehbaren Gründen hat der 11. Senat des OGH sich nur auf seine bisherige Rechtsprechung gestützt und daraus offenbar nicht den geringsten Anlass gesehen, entweder die durchgeführte Verhandlung als 'mangelhaft' oder entscheidende Bestimmungen der StPO als verfassungsrechtlich bedenklich anzusehen.

Der Beschwerdeführer nimmt in diesem Zusammenhang folgende Rechtsansicht ein:

Die StPO ist mit ihrer mangelhaften Konzeption des Schöffenverfahrens als Kollegialverfahren unter Beteiligung von 2 nicht rechts- und nicht aktenkundigen Laienrichtern ... jedenfalls in dem Sinn ohne gerichtliche Entscheidung für den Beschwerdeführer wirksam geworden, dass sie zunächst bloß die mangelhafte Richtschnur vorgab, nach der der Vorsitzende das Verfahren - MRK-widrig - abführte.

Die Konzeption des Rechtsmittelverfahrens ist so mangelhaft, dass wiederum ein fairer Prozess so lange nicht zu erwarten war, als der OGH die StPO nicht weitläufig MRK-konform - also ausdehnend - auslegt oder verfassungsrechtliche Bedenken aufwirft.

Damit strebt der Beschwerdeführer eine MRK-konforme Lesart des Individualbeschwerderechts auf Gesetzesprüfung in folgender Hinsicht an: Verfahrensgesetzliche Bestimmungen wie die StPO mögen vom Verfassungsgerichtshof auch dann einer Prüfung zu unterziehen sein, wenn sie für einen Beschwerdeführer vor einer gerichtlichen Entscheidung Wirksamkeit entfalteten, sei es durch Anwendbarkeit bei der Prozessführung durch das Gericht oder durch Gestaltung des Rechtsmittelverfahrens."

2.2. Der Individualantrag ist unzulässig.

2.2.1. Gemäß Art140 Abs1 letzter Satz B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch die Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, sofern das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist. Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner mit dem Beschluss VfSlg. 8009/1977 beginnenden ständigen Rechtsprechung ausgeführt hat, ist grundlegende Voraussetzung für die Antragslegitimation, dass das Gesetz in die Rechtssphäre der Betroffenen unmittelbar eingreift und diese - im Fall seiner Verfassungswidrigkeit - verletzt.

Nicht jedem Normadressaten aber kommt diese Antragsbefugnis zu. Es ist (wie der Verfassungsgerichtshof ebenfalls seit Entscheidung VfSlg. 8009/1977 in ständiger Judikatur - zB VfSlg. 8148/1977, 8241/1978, 8276/1978, 8485/1979 und 16.060/2000 - darlegt) darüber hinaus nämlich auch erforderlich, dass dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Geltendmachung der von ihm behaupteten Verfassungswidrigkeit zur Verfügung steht.

2.2.2. Ein solcher zumutbarer Weg wird nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ua. dann eröffnet, wenn bereits ein gerichtliches Verfahren anhängig ist, das dem Betroffenen Gelegenheit gibt, die Stellung eines Antrages auf Gesetzesprüfung nach Art140 B-VG anzuregen (s. zB VfSlg. 13.871/1994 und die dort zitierte Vorjudikatur). Dies gilt auch dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - ein gerichtliches (oder verwaltungsbehördliches) Verfahren anhängig war, in dem der Antragsteller die Möglichkeit hatte, eine amtswegige Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof anzuregen (s. VfSlg. 8890/1980, 12.810/1991; VfGH 11.6.2002 G92/02). Gemäß Art89 Abs2 zweiter Satz B-VG wären die betreffenden (Rechtsmittel)Gerichte (nämlich der Oberste Gerichtshof und das Oberlandesgericht Innsbruck als "zur Entscheidung in zweiter Instanz zuständiges" Gericht) zur Anrufung des Verfassungsgerichtshofes verpflichtet gewesen, sofern sie - wie der Antragsteller - gegen die Anwendung der in Rede stehenden Teile der genannten strafprozessualen Vorschriften verfassungsrechtliche Bedenken gehegt hätten (s. zB VfSlg. 11.480/1987).

Ein Individualantrag gemäß Art140 Abs1 letzter Satz B-VG wäre in solchen Fällen nur bei Vorliegen besonderer, außergewöhnlicher Umstände zulässig. Andernfalls ergäbe sich nämlich eine Doppelgleisigkeit des Rechtsschutzes, die sich mit dem Charakter des Individualantrages als bloß Lücken schließendem, subsidiärem Rechtsbehelf nicht vereinbaren ließe (vgl. zB VfSlg. 8890/1980, 11.823/1988, 13.659/1993, 15.927/2000). Die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgesetzgebers, die Initiative zur Prüfung genereller Normen (vom Standpunkt des Betroffenen aus gesehen) zu mediatisieren, wenn die Rechtsverfolgung vor Gerichten stattfindet, gefährdet im Übrigen auch nicht den Grundrechtsschutz (vgl. VfSlg. 11.889/1988).

Eine außergewöhnliche Konstellation liegt hier indes nicht vor, weil der Einschreiter die Gelegenheit hatte, die Stellung eines Antrages nach Art140 B-VG auf Prüfung der von ihm als bedenklich erachteten §§252 und 281 StPO durch ein gemäß Art89 Abs2 B-VG dazu berufenes Gericht anzuregen. Selbst der Umstand, dass dieses Gericht die Bedenken der Verfahrenspartei hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht teilte, macht für sich allein einen Individualantrag noch nicht zulässig (s. zB VfSlg. 8552/1979, 9220/1981, 9394/1982, 9788/1983, 9926/1984, 11.889/1988, 13.659/1993).

2.2.3. Der Antrag war daher schon mangels Legitimation des Antragstellers als unzulässig zurückzuweisen.

3. Dies konnte ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs3 Z2 lite VfGG).

Schlagworte

Strafprozeßrecht, VfGH / Individualantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:G239.2003

Dokumentnummer

JFT_09959777_03G00239_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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