RS Vfgh 2002/3/1 G319/01

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 01.03.2002
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Index

50 Gewerberecht
50/01 Gewerbeordnung

Norm

B-VG Art11 Abs2
B-VG Art18 Abs1
AVG §64
GewO 1994 §78 Abs1

Leitsatz

Verletzung des rechtsstaatlichen Gebots durch den Ausschluß der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung bei einer von den Nachbarn einer bereits vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheides errichteten und betriebenen Betriebsanlage eingebrachten Berufung; keine Wahrnehmung des notwendigen Interessenausgleichs zwischen Genehmigungs- und Berufungswerber im Berufungsverfahren durch den Gesetzgeber; Aufhebung der eine Ausnahme zugunsten des Arbeitsinspektorates bewirkenden Wortfolgen

Rechtssatz

Die Wortfolgen "das Arbeitsinspektorat gegen den Genehmigungsbescheid berufen hat und", "des Arbeitsinspektorates" und "von Arbeitnehmern" im letzten Satz des §78 Abs1 GewO 1994 idF BGBl I 63/1997 werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Die durch §78 Abs1 GewO 1994 Nachbarberufungen schlechthin vorenthaltene Möglichkeit einer aufschiebenden Wirkung ist mit der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit eines rechtsstaatlich eingerichteten Rechtsmittelverfahrens nicht in Einklang zu bringen. Zwar ist dem Gesetzgeber - sowohl vom Standpunkt eines rechtsstaatlichen Verfahrens als auch unter dem Aspekt des Art11 Abs2 B-VG - nicht entgegenzutreten, wenn er den wirtschaftlichen Interessen des Genehmigungswerbers insoweit entgegenkommt, als er es abweichend vom Regime des §64 Abs1 AVG als unerläßlich betrachtet, dem Genehmigungswerber im Regelfall bereits während des Laufes eines gegen die Genehmigung gerichteten Rechtsmittelverfahrens die vorläufige Inanspruchnahme seiner Genehmigung zu gestatten. Gleichwohl ist es mit dem Rechtsstaatsgebot unvereinbar, bei Berufungen die faktische Effizienz dieses Rechtsmittels für die Dauer des Berufungsverfahrens zu beseitigen und trotz einer nachweislichen Gefahrenlage ohne weitere Prüfung der diesbezüglichen Rechtsmittelbehauptung die sofortige Inanspruchnahme des aus der Genehmigung resultierenden Errichtungs- und Betriebsrechtes zu gestatten. Dies zeigt auch die Ausnahme zugunsten einer Berufung des Arbeitsinspektorates gegen den Genehmigungsbescheid gemäß §78 Abs1 letzter Satz GewO 1994.

Die Grundsätze vorläufigen Rechtsschutzes (siehe hiezu die zitierte Literatur und Judikatur) während eines anhängigen Rechtsmittelverfahrens betreffen alle Arten behördlicher Verfahren; gleichgültig wie viele Parteien an einem Verfahren jeweils beteiligt sind, muß der Gesetzgeber die Behörde zur Entscheidung darüber ermächtigen, wessen Interessen im Rechtsmittelverfahren in welchem Umfang entgegenstehende Interessen dahin überwiegen, daß im Wege des Provisorialverfahrens jedenfalls die faktische Effizienz des Rechtsschutzes gewahrt bleibt.

Dadurch, daß der Gesetzgeber das Interesse der Nachbarn, mögliche, aus der Errichtung oder dem Betrieb einer Betriebsanlage resultierende Gefahren für ihr Leben oder ihre Gesundheit während laufendem Berufungsverfahren zu berücksichtigen, schlechthin und ausnahmslos vernachlässigte, hat er das rechtsstaatliche Gebot nach einem notwendigen Interessenausgleich zwischen Genehmigungs- und Berufungswerber im Berufungsverfahren verfassungswidrigerweise nicht wahrgenommen und den Rechtsmittelwerber einseitig mit dem Risiko einer möglichen Gefahrensituation belastet.

(Anlaßfall: E v 01.03.02, B498/01 - Aufhebung des angefochtenen Bescheides).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Gewerberecht, Betriebsanlagen, Kompetenz Bund - Länder, Bedarfskompetenz, Rechtsschutz, Rechtsstaatsprinzip, Verwaltungsverfahren, Wirkung aufschiebende, VfGH / Verwerfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:G319.2001

Dokumentnummer

JFR_09979699_01G00319_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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