RS Vfgh 2004/10/15 G36/04, V20/04

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 15.10.2004
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Index

44 Zivildienst
44/01 Zivildienst

Norm

B-VG Art9a Abs3
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
EMRK Art4 Abs3 litb
AVG §6 Abs1
Übertragungs-Verordnung, BGBl II 140/2002
ZivildienstG §54a idF BGBl I 133/2000

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der Ausgliederung bestimmter Aufgaben wie zB der Zuweisung der Zivildienstpflichtigen oder der Befreiung von der Verpflichtung zur Zivildienstleistung an eine nicht staatliche Einrichtung; Militärwesen und Zivildienst als ausgliederungsfeste Kernaufgaben des Staates; Zivildienst verpflichtender staatlicher Dienst; erhebliche Einschränkung der Grundrechtssphäre der Betroffenen; Präjudizialität sowohl der gesetzlichen Verordnungsermächtigung als auch der angewendeten Übertragungs-Verordnung

Rechtssatz

Zulässigkeit des von Amts wegen eingeleiteten Verfahrens zur Prüfung von Teilen des §54a ZivildienstG idF der ZivildienstG-Nov 2001, BGBl I 133/2000, und von Bestimmungen der Übertragungs-Verordnung, BGBl II 140/2002; Einstellung des Verfahrens hinsichtlich weiterer Teile des §54a leg cit mangels Sachzusammenhanges.

Gemäß §6 Abs1 AVG hat eine Behörde ihre sachliche und örtliche Zuständigkeit von Amts wegen wahrzunehmen. Die (Un)Zuständigkeit ist von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens wahrzunehmen, daher auch von der Berufungsbehörde in Ansehung der Unterinstanz. Der Bundesminister für Inneres hatte aus diesem Grund die Übertragungs-Verordnung, aus der sich die Zuständigkeit der Zivildienstverwaltungs Ges.m.b.H. ergibt, bei Erlassung des angefochtenen Bescheides (mit) anzuwenden.

Daraus ergibt sich, dass der Verfassungsgerichtshof bei seiner Entscheidung die Übertragungs-Verordnung und - zur Überprüfung ihrer Gesetzmäßigkeit - auch ihre gesetzliche Grundlage anzuwenden hätte.

Daraus folgt, dass §54a Abs1 erster Satz ZivildienstG - als gesetzliche Grundlage der Übertragungs-Verordnung - sowie die die Übertragung präzisierenden, also auch ausführenden und deshalb in untrennbarem Zusammenhang stehenden Bestimmungen des §54a Abs1 zweiter Satz, §54a Abs3 erster Satz und §54a Abs4 ZivildienstG im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof präjudiziell sind.

Einstellung des Verfahrens hinsichtlich §54a Abs2 (Anwendbarkeit des AVG bei der Erlassung von Bescheiden), §54a Abs3 zweiter Satz (Datenübermittlung) sowie Abs5 (Aufsichts- und Weisungsrecht des Bundesministers für Inneres), Abs6 (Berufung an den Bundesminister für Inneres) und Abs7 (Verschwiegenheitspflicht der Dienstnehmer) des §54a ZivildienstG mangels eines Sachzusammenhanges.

Aufhebung des §54a Abs1, Abs3 erster Satz und Abs4 ZivildienstG idF der ZivildienstG-Nov 2001, BGBl I 133/2000.

Ungeachtet der bestehenden kompetenzrechtlichen und materiellen Unterschiede der Angelegenheiten der militärischen Landesverteidigung im Verhältnis zum Zivildienstwesen und der begrifflichen Zugehörigkeit des Zivildienstes (bloß) zur umfassenden - nicht hingegen zur militärischen - Landesverteidigung ist dem besonderen wechselseitigen Verhältnis zwischen Zivildienst und Militärdienst bei Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Ausgliederung von Aufgaben der Zivildienstverwaltung in ausreichender Weise Rechnung zu tragen.

In beiden Fällen (Wehrdienst und Zivildienst) handelt es sich um die gemäß Art9a Abs3 B-VG verpflichtende Ableistung eines staatlichen Dienstes, der - ungeachtet des Umstandes, dass die Tätigkeit des Zivildienstleistenden keine militärische ist - auf der Wehrpflicht beruht. Dass das Militärwesen, insbesondere die Feststellung der Wehrpflicht, jedoch zu den (ausgliederungsfesten) Kernaufgaben zählt - und dies gilt, ausgehend von der verfassungsrechtlichen Regelung, dass es sich beim Zivildienst um einen Wehrersatzdienst handelt, ebenso für die Feststellung des Eintritts der Zivildienstpflicht - hat der Verfassungsgerichtshof stets betont (vgl VfSlg 14473/1996).

Die (sanktionsbewehrte) Verpflichtung zur Leistung des Zivildienstes ist für die Zivildienstpflichtigen - spätestens mit der bescheidmäßigen Zuweisung an eine Einrichtung - mit erheblichen Eingriffen in ihre verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte verbunden. Der Zivildienst ist - für alle tauglich befundenen männlichen Staatsbürger, die eine Zivildiensterklärung abgeben - als verpflichtender Dienst für den Staat konzipiert, für dessen Dauer die privaten Dispositionsmöglichkeiten des Zivildienstleistenden insbesondere im Hinblick auf den Aufenthaltsort und die Möglichkeit einer (selbst gewählten) Erwerbsbetätigung (Berufsausübung) außergewöhnlich starken Einschränkungen unterworfen sind.

So wie die aus Art9a Abs3 B-VG iVm §2 Abs1 ZivildienstG erfließende Verpflichtung zur Verpflegung der Zivildienstleistenden stets eine solche des Staates bleibt (vgl VfSlg 16588/2002), bleibt die Verpflichtung zur Ableistung des Zivildienstes eine solche gegenüber dem Staat, selbst wenn der Dienst bei (privaten) Einrichtungen abgeleistet wird.

Die die Grundrechtssphäre der Betroffenen erheblich einschränkende Verpflichtung zur Leistung des Zivildienstes ist ebenso wie die Verpflichtung zur Leistung des Militärdienstes nur aufgrund der besonderen Regelung des Art4 Abs3 litb EMRK verfassungsrechtlich zulässig.

Im Fall von Elementarereignissen, Unglücksfällen ua sind Zivildienstpflichtige auch zur Leistung des außerordentlichen Zivildienstes zu verpflichten (§21, §21a ZivildienstG). Dies bedeutet, dass im "Ernstfall" auch Zivildienstpflichtige ebenso wie Wehrpflichtige zum Einsatz heranzuziehen sind.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass jedenfalls jene die Verpflichtung zur Leistung des Zivildienstes individualisierenden Aufgaben der Vollziehung des Zivildienstgesetzes, die die dargestellten zulässigen Grundrechtseingriffe bei den Zivildienstpflichtigen oder Zivildienstleistenden bewirken, - wie etwa insbesondere die Zuweisung der Zivildienstpflichtigen, Zuweisungsänderungen und -aufhebungen, die Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung des Zivildienstes aus besonders rücksichtswürdigen wirtschaftlichen oder familiären Interessen des Zivildienstpflichtigen sowie deren Widerruf - von Verfassungs wegen nicht auf eine selbständige nicht staatliche Einrichtung übertragen werden dürfen.

Der Gesetzgeber hat dadurch, dass §54a Abs1 ZivildienstG den Bundesminister für Inneres ermächtigt, ein Unternehmen mit "... Aufgaben der Zivildienstverwaltung gemäß den Abschnitten III, V und VI..." zu betrauen, die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen überschritten, da er die Beauftragung eines Unternehmens nicht nur mit Aufgaben, die die nähere Ausgestaltung der Ableistung des Zivildienstes wie zB Aufgaben im Zusammenhang mit dem Reisekostenersatz oder der Auszahlung von Bezügen betreffen, sondern auch mit den genannten Aufgaben außerhalb der staatlichen Verwaltungsorganisation ermöglicht hat, was verfassungsrechtlich unzulässig ist.

Aufhebung des §2, §3 und §4 sowie Feststellung der Gesetzwidrigkeit des (im Hinblick auf die Novelle BGBl II 343/2004 nicht mehr dem Rechtsbestand angehörenden) §1 der Verordnung über die Übertragung von Aufgaben der Zivildienstverwaltung (Übertragungs-Verordnung), BGBl II 140/2002, nach Wegfall der gesetzlichen Grundlage.

(Anlassfall B1248/03, E v 16.10.04: Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter; Quasi-Anlassfälle: B1249/03 ua B1490/03 ua, B690/04, B1010/04, alle E v 16.10.04; E v 30.11.04, B658/04).

Entscheidungstexte

  • G 36/04,V 20/04
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 15.10.2004 G 36/04,V 20/04

Schlagworte

Ausgliederung, Behördenzuständigkeit, Hoheitsverwaltung, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, Zivildienst, Militärrecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:G36.2004

Dokumentnummer

JFR_09958985_04G00036_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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