TE Vfgh Erkenntnis 1986/6/24 G18/86

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Veröffentlicht am 24.06.1986
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Index

62 Arbeitsmarktverwaltung
62/01 Arbeitsmarktverwaltung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Allg
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
B-VG Art140 Abs5
AlVG §12 Abs3 lite
AlVG §16 Abs1 lite
AlVG §23 Abs1

Beachte

Kundmachung am 29. August 1986, BGBl. 466/1986; Anlaßfall B25/85 vom 25. Juni 1986 - Aufhebung des angefochtenen Bescheides nach Muster VfSlg. 10404/1985

Leitsatz

AlVG; unsachlicher Ausschluß eines Verhafteten oder Angehaltenen von der möglichen Bevorschussung von Leistungen aus der Pensionsversicherung; Aufhebung von Wortfolgen in den §§12 Abs3 lite und 16 Abs1 lite als gleichheitswidrig, nicht jedoch des §23 Abs1; Unsachlichkeit entsteht durch das Zusammenwirken aller drei in Prüfung gezogenen Bestimmungen, Aufhebung der Wortfolgen in den §§12 und 16 ist jedoch die am wenigsten einschneidende Maßnahme zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit des Regelungskomplexes

Spruch

In §12 Abs3 lite des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977, Anlage zur Kundmachung vom 14. November 1977, BGBl. 609, wird die Wortfolge "oder auf behördliche Anordnung in anderer Weise angehalten wird", in §16 Abs1 lite dieses Gesetzes die Wortfolge "sowie während einer anderweitigen auf behördlicher Anordnung beruhenden Anhaltung" als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 1986 in Kraft.

Frühere Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im BGBl. verpflichtet.

§23 Abs1 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Aufgrund des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 (AlVG), BGBl. 609/1977, hat Anspruch auf Arbeitslosengeld, wer arbeitsfähig, arbeitswillig und arbeitslos ist, die Anwartschaft erfüllt und die Bezugsdauer noch nicht erschöpft hat (§7). Arbeitslos ist, wer nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses keine neue Beschäftigung gefunden hat (§12 Abs1). Als arbeitslos gilt insbesondere nicht (§12 Abs3):

"a) wer in einem Dienstverhältnis steht;

b) wer selbständig erwerbstätig ist;

c) wer ein Urlaubsentgelt nach dem Bauarbeiter-Urlaubsgesetz 1972, BGBl. Nr. 414, in der jeweils geltenden Fassung bezieht, in der Zeit, für die das Urlaubsentgelt gebührt;

d) wer, ohne in einem Dienstverhältnis zu stehen, im Betrieb des Ehegatten, der Eltern oder Kinder tätig ist;

e) wer eine Freiheitsstrafe verbüßt oder auf behördliche Anordnung in anderer Weise angehalten wird,

f) wer in einer Schule oder einem geregelten Lehrgang - so als ordentlicher Hörer einer Hochschule, als Schüler einer Fachschule oder einer mittleren Lehranstalt - ausgebildet wird oder, ohne daß ein Dienstverhältnis vorliegt, sich einer praktischen Ausbildung unterzieht."

Während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe "sowie während einer anderen auf behördlicher Anordnung beruhenden Anhaltung" ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld (§16 Abs1 lite). Das Arbeitslosengeld besteht aus dem Grundbetrag und den Familienzuschlägen (§20 Abs1). Arbeitslosen, die den Anspruch auf Arbeitslosengeld erschöpft haben, kann auf Antrag Notstandshilfe gewährt werden (§33 Abs1); soweit nichts anderes bestimmt ist, sind auf die Notstandshilfe die Bestimmungen über das Arbeitslosengeld sinngemäß anzuwenden (§38).

Unter der Rubrik "Bevorschussung von Leistungen aus der Pensionsversicherung" bestimmt §23 Abs1 (Fassung der Nov. BGBl. 594/1983):

"Arbeitslosen, die die Zuerkennung

a) einer Leistung aus dem Versicherungsfall der Invalidität, der Berufsunfähigkeit oder der dauernden Erwerbsunfähigkeit, oder eines Übergangsgeldes aus der gesetzlichen Pensions- oder Unfallversicherung,

b) einer Leistung aus einem der Versicherungsfälle des Alters aus der Pensionsversicherung nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz, dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, dem Bauern-Sozialversicherungsgesetz oder eines Sonderruhegeldes nach dem Nachtschicht-Schwerarbeitsgesetz

beantragt haben, kann bis zur Entscheidung über ihren Antrag auf diese Leistungen vorschußweise Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe gewährt werden, sofern, abgesehen von der Arbeitsfähigkeit bzw. Arbeitswilligkeit, die übrigen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme dieser Leistungen gegeben sind und im Hinblick auf die vorliegenden Umstände mit der Zuerkennung der Leistungen aus der Sozialversicherung gerechnet werden kann. Dieser Vorschuß ist in der Höhe des gebührenden Arbeitslosengeldes bzw. der gebührenden Notstandshilfe zu gewähren, darf jedoch die durchschnittliche Höhe der Leistungen nach lita bzw. der Leistungen nach litb nicht übersteigen. Sofern dem Arbeitsamt bekannt ist, daß die vom österreichischen Sozialversicherungsträger zu erwartende Leistung niedriger sein wird, ist die Vorschußleistung entsprechend zu vermindern."

Wer Arbeitslosengeld bezieht, ist verpflichtet, jede für das Fortbestehen seines Anspruchs maßgebende Änderung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse dem Arbeitsamt ohne Verzug, spätestens jedoch binnen einer Woche anzuzeigen (§50 Abs1). Er ist zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn er den Bezug durch unwahre Angaben oder durch Verschweigung maßgebender Tatsachen herbeigeführt hat oder wenn er erkennen mußte, daß die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte (§25 Abs1).

2. Der Bf. zu B25/85 bezog vom 29. September 1981 bis 26. April 1982 in Bevorschussung von Leistungen gemäß §23 Abs1 lita AlVG Arbeitslosengeld und vom 27. April 1982 bis 23. April 1984 wie vom 26. April 1984 bis 30. September 1984 Notstandshilfe. Vom 18. Mai 1984 bis (jedenfalls) 30. September 1984 war er in Untersuchungshaft. Die in der Zeit der Haft bezogene Leistung in der Höhe von 21813 S wird mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Landesarbeitsamtes zurückgefordert, weil er die Haft nicht gemeldet habe und das Arbeitsamt erst durch eine Mitteilung der Krankenkasse davon unterrichtet worden sei.

3. Aus Anlaß des Verfahrens über die Beschwerde gegen diesen Bescheid hat der VfGH die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §23 Abs1 sowie der Wortfolge "oder auf behördliche Anordnung in anderer Weise angehalten wird" in §12 Abs3 lite und der Wortfolge "sowie während einer anderweitigen auf behördlicher Anordnung beruhenden Anhaltung" in §16 Abs1 lite AlVG beschlossen.

Er hat vorläufig angenommen, daß die Beschwerde zulässig ist und er bei ihrer Beurteilung §23 Abs1 und (in Verbindung damit) §16 Abs1 lite und §12 Abs3 lite (jeweils zweiten Fall) AlVG anzuwenden hätte, und hat folgende Bedenken geäußert:

"Geht man davon aus, daß die Arbeitslosenversicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit versichern soll, die Verbüßung einer Freiheitsstrafe oder die Zeit einer sonstigen behördlichen Anhaltung aber dieses Risiko nicht verwirklicht, weil der Verhaftete oder Angehaltene trotz Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit überhaupt nicht in der Lage ist, einer Beschäftigung nachzugehen, bestehen gegen die Regelungen der §§12 Abs3 lite und 16 Abs1 lite AlVG an sich vorläufig keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Ausschluß Verhafteter oder Angehaltener, der nicht davon abhängig gemacht ist, ob und wieweit sie in diesem Zustand versorgt sind, scheint sich aus der Begrenzung des durch die Arbeitslosenversicherung erfaßten Risikos zu ergeben. Diese Frage braucht indessen hier nicht näher untersucht werden. Mit der ihm zur Last gelegten Straftat steht der Ausschluß eines Untersuchungshäftlings vom Bezug des Arbeitslosengeldes jedenfalls in keinerlei Zusammenhang.

Doch bestehen solche Bedenken gegen §23 AlVG. Im Falle einer Bevorschussung von Leistungen aus der Pensionsversicherung scheint die Lage nämlich eine ganz andere zu sein. Wer eine Leistung aus dem Versicherungsfall der Invalidität, der Berufsunfähigkeit oder der dauernden Erwerbsunfähigkeit (oder ein Übergangsgeld) aus der gesetzlichen Pensions- oder Unfallversicherung oder eine Leistung aus einem der Versicherungsfälle des Alters anstrebt, ist regelmäßig nicht arbeitsfähig oder doch nicht arbeitswillig; er sucht offenbar gar keine Arbeit. Wenn der Gesetzgeber ihm dennoch als Vorschuß auf die zu erwartende Leistung aus der Pensionsversicherung einen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe einräumt, ist das hier versicherte Risiko nicht die Vergeblichkeit der Suche nach einer Beschäftigung, deren Ausübung ihm möglich ist, sondern die begründete Erwartung von Leistungen aus der Pensionsversicherung bei - wie immer - eingetretener Beschäftigungslosigkeit. Wenn nämlich der Anspruch nicht von der Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit abhängt, scheint auch dem Zufall, daß jemand auch aus anderen Gründen nicht in der Lage ist, eine neue Beschäftigung anzunehmen, keine Bedeutung zuzukommen. Denn daß jemand, auf dessen Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit nichts ankommt, zudem noch außerstande ist, irgendeine sich bietende Beschäftigung anzunehmen, dürfte nichts daran ändern, daß sich das versicherte Risiko in seiner Person verwirklicht hat.

Es scheint auch keinen anderen sachlichen Grund zu geben, Verhaftete oder Angehaltene vom Anspruch auf Bevorschussung von Leistungen aus der Pensionsversicherung auszuschließen. Insbesondere kann der Gerichtshof vorläufig nicht annehmen, daß eine allfällige Versorgung in der Haft oder Anhaltung den laufenden Bedarf - auch der Familie - so weit deckt, daß dadurch das Arbeitslosengeld oder die Notstandshilfe überflüssig oder doch entscheidend weniger dringlich würde. Vielmehr dürfte dem Gesetzgeber ein Versehen unterlaufen sein. Das Erfordernis der Arbeitslosigkeit ist nämlich offenkundig insoweit sachlich, als - im Sinne des §12 Abs3 - kein aufrechtes Dienstverhältnis bestehen, keine selbständige Erwerbstätigkeit vorliegen, kein Urlaubsgeld bezogen und keine Tätigkeit im Betrieb Verwandter ausgeübt werden darf (der Fall der Ausbildung - litf - dürfte im Zusammenhang mit der Pensionsbevorschussung auszuschließen sein; gegebenenfalls würde Abs4 eine Ausnahme erlauben). Allein das Leistungshindernis der Verbüßung einer Freiheitsstrafe oder der anderweitigen behördlichen Anhaltung scheint in keinem sachlichen Zusammenhang mit der Gewährung eines Vorschusses auf Leistungen aus der Pensionsversicherung zu stehen.

Der VfGH nimmt ferner vorläufig an, daß das Gesetz durch die Verwendung des Wortes 'Arbeitslose' am Beginn des §23 AlVG im Hinblick auf die Definition dieses Begriffes in §12 des Gesetzes zusammen mit der Formulierung 'sofern, abgesehen von der Arbeitsfähigkeit bzw. Arbeitswilligkeit, die übrigen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme dieser Leistungen gegeben sind' die Maßgeblichkeit der §§12 Abs3 lite und 16 Abs1 lite AlVG deutlich ausspricht und eine verfassungskonforme Auslegung dahin, daß die negative Voraussetzung für die Leistung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe eine Bevorschussung von Pensionsleistungen nicht hindern würde, insgesamt ausschließt. Es wird im Verfahren allerdings zu prüfen sein, ob nicht eine bloße Aufhebung der Wendungen 'Arbeitslosen, die' und 'sofern ... gegeben sind' - ungeachtet der eintretenden grammatikalischen Unzukömmlichkeiten - ausreichen könnten, um eine verfassungskonforme, gleichwohl der Zielsetzung des Gesetzes entsprechende Anwendung zumindest bis zu einer allfälligen Neufassung des Gesetzes zu ermöglichen.

Da die verfassungsrechtlich bedenkliche Lage indessen erst im Zusammenhang mit den §§12 Abs3 lite und 16 Abs1 lite entsteht, sind auch diese Bestimmungen in die Prüfung mit einzubeziehen, damit der Gerichtshof bei Zutreffen seiner Bedenken den Gegenstand der Aufhebung so abgrenzen kann, daß einerseits der verfassungswidrige Zustand beseitigt wird, andererseits der Eingriff in das Gesetz möglichst eng begrenzt wird."

Die Bundesregierung verteidigt die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und hält für den Fall der Verfassungswidrigkeit die Aufhebung von bloßen Teilen des §23 Abs1 AlVG für nicht zielführend und wegen der völligen Beseitigung der Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit auch nicht gerechtfertigt.

II. Das Verfahren ist zulässig. Es ist nichts hervorgekommen, was Zweifel an der Zulässigkeit der Anlaßbeschwerde oder an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmungen erweckt hätte.

III. Die Bedenken sind auch begründet. Die in Prüfung gezogenen Wortfolgen in den §§12 Abs3 lite und 16 Abs1 lite AlVG verstoßen iVm.

§23 Abs1 AlVG gegen das Gleichheitsgebot.

1. Die Bundesregierung

"... pflichtet zunächst der Auffassung des VfGH bei, daß die Arbeitslosenversicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit versichern soll, die Verbüßung einer Freiheitsstrafe oder die Zeit einer sonstigen behördlichen Anhaltung aber dieses Risiko nicht verwirklicht, weil der Verhaftete oder Angehaltene trotz Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit überhaupt nicht in der Lage ist, einer Beschäftigung nachzugehen.

Im Falle der Verbüßung einer Freiheitsstrafe oder der Zeit einer Anhaltung handelt es sich vielmehr um eine Art 'objektive Arbeitsunfähigkeit'. Der Ausschluß von Strafhäftlingen oder Angehaltener von der Arbeitslosenversicherung ergibt sich also aus der Begrenzung des durch die Arbeitslosenversicherung erfaßten Risikos, nämlich der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Arbeitswilligkeit und Arbeitsfähigkeit."

Sie hält den Bedenken aber folgendes entgegen:

"Sowohl die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung als auch - wie noch zu erörtern sein wird - die einschlägigen Leistungen im Rahmen der Pensions- und Unfallversicherung bezwecken primär die Sicherung des Lebensunterhalts einer Person, die im ersten Fall arbeitslos und im zweiten Fall arbeitsunfähig wird bzw. eine bestimmte Altersgrenze erreicht hat. Bei Personen aber, die eine Freiheitsstrafe verbüßen oder sonst auf behördliche Anordnung hin angehalten werden, besteht kein solches Bedürfnis, da ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Die Bundesregierung sieht keinen sachlichen Grund dafür, Personen, deren Lebensunterhalt durch Ausgaben der öffentlichen Hand gesichert ist, noch weitere Leistungen zukommen zu lassen. An dieser Einschätzung würde sich auch nichts ändern, wenn man den Umstand einbezieht, daß diesfalls etwaige Angehörige unversorgt sein könnten, da die Arbeitslosenversicherung generell Leistungen an Angehörige nicht kennt."

Andererseits betont die Bundesregierung, daß die in Rede stehenden Leistungen nur formell als Arbeitslosengeld (Notstandshilfe) konstruiert, funktionell aber Leistungen der Pensions- oder Unfallversicherung seien, deren Träger gemäß §23 Abs2 ihre Leistungen in Höhe des Vorschusses zugunsten der Arbeitslosenversicherung an den Bund zu erbringen hätten. Nach §89 Abs1 Z1 ASVG ruhten aber auch Leistungsansprüche in der (Kranken-,) Unfall- und Pensionsversicherung, solange der Anspruchsberechtigte eine Freiheitsstrafe verbüßt oder in den Fällen der §§21 Abs2, 22 und 23 des Strafgesetzbuches in einer der dort genannten Anstalten angehalten wird. Dazu heißt es:

"Die Bundesregierung übersieht dabei nicht, daß der Ausschlußtatbestand in §23 Abs1 iVm. den übrigen in Prüfung gezogenen Vorschriften des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 einerseits und §89 ASVG andererseits nicht völlig deckungsgleich sind: §89 Abs1 ASVG umschreibt die im gegebenen Zusammenhang maßgebenden Tatbestände des Ruhens weniger streng als das Arbeitslosenversicherungsgesetz.

Die Bundesregierung stellt dazu zur Erwägung, ob die in §12 Abs3 lite und §16 Abs1 lite des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 gebrauchten Wendungen 'oder auf behördliche Anordnung in anderer Weise angehalten wird' bzw. 'sowie während einer anderweitig auf behördlicher Anordnung beruhenden Anhaltung' in verfassungskonformer Weise harmonisierend mit §89 Abs1 Z1 ASVG ausgelegt werden können und demnach eine derartige 'Anhaltung' nur in Fällen der §§21 Abs2, 22 und 23 StGB vorliegt. Im Hinblick auf die im zweiten Absatz auf S 6 des dg. Beschlusses in Parenthese gesetzte Wendung 'auch der Familie' darf hinsichtlich des Ausschlusses der Ansprüche der Angehörigen im Falle der Vorschußleistungen nach §23 Abs1 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 auf die Ausgangslage aufmerksam gemacht werden: Wenn die Einrichtung der vorschußweisen Leistungen nach §23 Abs1 eine aus besonderen sozialpolitischen Erwägungen geschaffene Begünstigung eines bestimmten Personenkreises darstellt, so kann es nicht unsachlich sein, wenn der Gesetzgeber für den Pensionsvorschuß strengere Voraussetzungen als für die endgültige Pension statuiert und Ausnahmeregelungen außer Betracht läßt, zumal bei Beantragung einer Invaliditäts-, Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitspension das Vorliegen der Versicherungsfälle noch geprüft werden muß und die Zuerkennung der Pension daher ungewiß ist."

Mit diesen Ausführungen übergeht die Bundesregierung wichtige Umstände, die keineswegs bloß als unbeachtliche Ausnahmeregelungen gelten können: Das in §89 Abs1 ASVG vorgesehene (aber hier nicht auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfende) Ruhen von Renten(Pensions)ansprüchen tritt dann nicht ein, wenn die Freiheitsstrafe oder die Anhaltung nicht länger als einen Monat währt (§89 Abs2) und wenn ein Versicherter, dessen Leistungsanspruch in der Unfallversicherung und in der Pensionsversicherung ruht, Angehörige hat, die (im Todesfall) Anspruch auf Hinterbliebenenrente (Pension) hätten, so gebührt diesen Angehörigen - in der Reihenfolge Ehegatte, Kinder, Eltern, Geschwister - eine Rente (Pension) in der Höhe der halben ruhenden Rente (Pension; §89 Abs5). Die Bundesregierung kann also gerade nicht dartun, daß die in Prüfung gezogene Regelung Verhaftete oder Angehaltene bei der Vorschußgewährung im wesentlichen ohnedies nur so behandle, wie sie im Leistungsrecht der Pensionsversicherung behandelt würden.

2. Den Kern der Ausführungen der Bundesregierung bildet indessen eine Darstellung der Entstehungsgeschichte und der Zielsetzung der Vorschrift über die Vorschußgewährung:

"Der vom Arbeitsamt gewährte Pensionsvorschuß auf eine vom Arbeitslosen beantragte Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension wurde mit der Novelle zum AlVG BGBl. Nr. 167/1954 eingeführt. Im Ausschußbericht (345 BlgNR VII. GP) - es handelte sich bei der gegenständlichen Novelle um einen Initiativantrag - wird dazu ausgeführt:

'Voraussetzung für die Gewährung des Arbeitslosengeldes und der Notstandshilfe ist unter anderem auch, daß der Arbeitslose arbeitsfähig ist. Arbeitslosen, die eine Rente wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit beantragen, würden demnach mangels Arbeitsfähigkeit die Leistungen der Arbeitslosenversicherung nicht gebühren. Bis zur Erledigung des Rentenantrages vergehen aber in der Regel mehrere Monate, sodaß die Arbeitslosen in der Zwischenzeit von keiner Stelle Leistungen zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes erhalten würden. Dies hat seitens der betroffenen Personen immer wieder zu berechtigten Klagen Anlaß gegeben, sodaß eine Abhilfe dringend geboten erscheint. Es wird deshalb bestimmt, daß die Leistungen der Arbeitslosenversicherung bei Stellung eines Antrages auf Zuerkennung einer Rente wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit ohne Rücksicht auf die Arbeitsfähigkeit so lange gewährt werden, bis über den Rentenantrag entschieden wurde, wenn nach den vorliegenden Umständen anzunehmen ist, daß mit der Zuerkennung der Rente gerechnet werden kann. Diese Vorgangsweise, die von den Arbeitsämtern bereits jetzt gehandhabt wird, wird nunmehr durch die vorliegende Regelung auf eine gesetzliche Basis gestellt. Die aus den Mitteln der Arbeitslosenversicherung gewährten Leistungen sind, falls es zu einer Zuerkennung der Rente kommt, aus der Spitzenrente rückzuerstatten.'

Mit der Novelle BGBl. Nr. 179/1974 wurde im §22 des AlVG 1958 festgelegt, daß während des Bezuges einer Alterspension kein Arbeitslosengeld und für die Zeit eines laufenden Verfahrens auf Zuerkennung einer Alterspension kein Anspruch auf Arbeitslosengeld gebührt. Jedoch wurde auch ein Vorschuß auf eine beantragte Alterspension eingeführt.

Die Erläuterungen (1032 BlgNR XIII. GP) führen dazu aus:

'Im Hinblick auf den Zweck der Arbeitslosenversicherung erscheint es auch sachlich gerechtfertigt, wenn vom Bezug des Arbeitslosengeldes Personen ausgeschlossen werden, die aus Altersgründen aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden sind und als Ersatz für das verlorengegangene Arbeitseinkommen eine Pension bzw. einen Ruhegenuß erhalten. Da die Existenzsicherung bereits durch die Gewährung einer Leistung aus einem der Versicherungsfälle des Alters erfolgt, erscheint es sachlich nicht gerechtfertigt, durch die zusätzliche Gewährung von Arbeitslosengeld eine doppelte Existenzsicherung herbeizuführen.

Um jedoch die wirtschaftliche Sicherheit von Personen zu gewährleisten, die noch keine Alterspension beziehen und erst einen Antrag auf Alterspension eingebracht haben, soll durch Abänderung des §23 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes festgelegt werden, daß diesen Personen bis zur Entscheidung über ihren Alterspensionsantrag vom Arbeitsamt ein Vorschuß auf die beantragte Alterspension gewährt wird, der im Falle der positiven Erledigung des Alterspensionsantrages vom Pensionsversicherungsträger in gleicher Weise refundiert wird, wie bereits derzeit im Falle der Bevorschussung einer Invaliditäts-, Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitspension.'

Gemäß §23 Abs1 AlVG bleiben bei der Gewährung des Pensionsvorschusses durch das Arbeitsamt die Voraussetzungen der Arbeitswilligkeit und Arbeitsfähigkeit außer Betracht. Dies ist dadurch begründet, daß der Arbeitslose in diesen Fällen von vornherein eine Pension bzw. eine Rente und keine Beschäftigung anstrebt und die Arbeitsfähigkeit bei Beantragung einer Invaliditäts-, Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitspension vom Pensionsversicherungsträger erst geprüft wird.

Aus der dargestellten Entstehungsgeschichte der in Prüfung stehenden Vorschrift ergibt sich, daß der Gesetzgeber mit ihr eine sozialpolitische Lücke schließen wollte: Der in Betracht kommende Personenkreis hätte auf der einen Seite - im System des Arbeitslosenversicherungsgesetzes gerechtfertigt - mangels Arbeitsfähigkeit bzw. -willigkeit keinen Anspruch, auf der anderen Seite - im System des Pensions- bzw. Unfallversicherungsrechtes ebenso gerechtfertigt - bis zur Entscheidung über seinen Antrag keinen Anspruch. Würde die Regelung des §23 Abs1 AlVG nicht bestehen, so würde nach Ansicht der Bundesregierung weder im System des Arbeitslosenversicherungsgesetzes noch im System des Pensions- oder Unfallversicherungsrechtes eine im Hinblick auf Art7 B-VG bedenkliche Lage entstehen. Freilich würde ein sozialpolitisch besonders zu berücksichtigender Personenkreis gleichsam 'zwischen zwei Stühlen zu sitzen kommen'."

Dieser Schlußfolgerung pflichtet der Gerichtshof bei. Er kann der Bundesregierung aber nicht mehr folgen, wenn sie fortfährt:

"Die in Prüfung stehende Regelung ist daher als eine im sozialpolitischen Spielraum des Gesetzgebers liegende besondere Berücksichtigung eines bestimmten Personenkreises zu verstehen."

Es findet sich nämlich keine Begründung dafür, warum ein nicht arbeitsfähiger oder arbeitswilliger Bewerber um eine Leistung aus der Pensions- oder Unfallversicherung - um im Bild zu bleiben - gerade im Gefängnis "zwischen zwei Stühlen zu sitzen kommen" soll. Daß er aus der Arbeitslosenversicherung selbst keine Leistung erhalten würde, verschlägt nichts, weil kein Bezieher eines Vorschusses ohne die in Rede stehende Vorschrift Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beziehen würde. Daß auch aus der Pensionsversicherung keine Leistungen anfallen würden, läßt sich nicht sagen, weil jedenfalls für die Familie ein - wenn auch auf die Hälfte gekürzter - Anspruch fortbesteht. Der einzige Grund für den völligen Ausschluß Verhafteter oder Angehaltener von der Möglichkeit der Pensionsbevorschussung könnte somit der Umstand sein, daß das Arbeitslosenversicherungsrecht, in dessen Formen der Vorschuß gewährt wird, Leistungen an Angehörige nicht kennt (obwohl neben dem Grundbetrag auch Familienzuschläge für Angehörige gebühren). Dieser Umstand reicht aber für eine so weitreichende Unterscheidung von anderen Vorschußwerbern nicht aus. Ohnehin muß bei Bemessung des als Vorschuß gewährten Arbeitslosengeldes oder der Notstandshilfe auf die durchschnittliche Höhe der Leistungen aus der Pensions- oder Unfallversicherung oder die niedrigere Erwartung des Leistungswerbers Bedacht genommen werden. Es ist auch sonst kein unüberwindliches Hindernis erkennbar, warum in Haft- oder Anhaltungsfällen (unter Bedachtnahme auf die bestehende Versorgung des Versicherten selbst) nicht wenigstens die Hälfte des sonst gebührenden Arbeitslosengeldes oder der Notstandshilfe gewährt werden sollte.

Nicht zielführend ist die abschließende Bemerkung der Bundesregierung, es sei eine Ungleichbehandlung gegenüber sonstigen Beziehern von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe, wenn eine nach §23 Abs1 gewährte Leistung im Falle rechtskräftiger Ablehnung des Antrages auf Zuerkennung der Leistung aus der Pensionsversicherung in Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe umzuwandeln sei und so Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe während eines Haftaufenthalts gewährt würde. Tritt doch derselbe Effekt notwendig immer dann ein, wenn der abgewiesene Vorschußwerber nicht arbeitsfähig oder arbeitswillig ist, und von diesen Voraussetzungen ist ja ausdrücklich abgesehen.

Die Regelung erweist sich daher insgesamt als unsachlich.

IV. Die Verfassungswidrigkeit der geprüften Bestimmungen führt nur zur Aufhebung der in Prüfung gezogenen Wortfolgen in den §§12 und 16 AlVG.

Die Unsachlichkeit entsteht durch das Zusammenwirken aller in Prüfung gezogener Bestimmungen. Der Gegenstand der Aufhebung muß nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH diesfalls derart abgegrenzt werden, daß einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausscheidet, als Voraussetzung für den Anlaßfall ist, daß aber andererseits der verbleibende Teil keine Veränderung seiner Bedeutung erfährt; da beide Ziele niemals vollständig erreicht werden, hat der Gerichtshof in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und inwieweit diesem oder jenem Ziel der Vorrang vor dem anderen gebührt (VfSlg. 8461/1978, G243, 244/85 vom 18. März 1986). Im vorliegenden Fall ist offenkundig, daß eine Aufhebung des §23 Abs1 AlVG eine sozialpolitische Lücke reißen würde, deren Größe außer Verhältnis zu einer Aufhebung der präjudiziellen Wortfolgen in den Katalogen der §§12 und 16 steht. Zahl und Gewicht der verfassungsrechtlich unbedenklichen Fälle, denen durch Aufhebung des §23 Abs1 die Möglichkeit der Pensionsbevorschussung genommen würde, überwiegen die Bedeutung jener Fälle, die bei teilweiser Aufhebung der §§12 und 16 zusätzlich Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beanspruchen können, bei weitem. Andererseits ist die im Prüfungsbeschluß erwogene Aufhebung einzelner Wendungen in §23 Abs1 in der Tat nicht zielführend, weil der Wegfall des Erfordernisses der Arbeitslosigkeit die Möglichkeit der Bevorschussung gleich für eine unübersehbare Zahl von Personen öffnen würde. Wenngleich also §12 Abs3 lite und §16 Abs1 lite in ihrem unmittelbaren Zusammenhang verfassungsrechtlich unbedenklich sind und der Gesetzgeber die in Prüfung stehenden Teile für den Bereich der Arbeitslosenversicherung unverändert wieder einführen könnte, wenn er in §23 Abs1 die erforderliche - dem VfGH nicht mögliche - Ergänzung oder Einschränkung vornimmt, ist ihre Aufhebung die am wenigsten einschneidende Maßnahme zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit des in Prüfung stehenden Regelungskomplexes.

Der damit bewirkte Eingriff in das System des Arbeitslosenversicherungsrechts läßt zwar eine Fristsetzung geboten erscheinen (Art140 Abs5 B-VG). Eine Frist von einem halben Jahr reicht nach Auffassung des Gerichtshofs aber aus. Die übrigen Aussprüche stützen sich auf Art140 Abs5 und 6 B-VG und §64 VerfGG.

Schlagworte

Arbeitslosenversicherung, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Verwerfungsumfang, VfGH / Fristsetzung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:G18.1986

Dokumentnummer

JFT_10139376_86G00018_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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